9. KAPITEL

Die Nacht zog sich endlos lang hin, ehe sie von einer kalten, regnerischen Morgendämmerung vertrieben wurde. Den Großteil der Nachtstunden hatte Blossom in einem Sessel im Wohnzimmer verbracht, wo sie blicklos in die Dunkelheit gestarrt, dem Regen zugehört und im Geist jedes Wort wiederholt hatte, das zwischen ihr und Zak gefallen war.

Das Telefon klingelte um sieben Uhr, als sie sich gerade Tee und Toast zubereitete. Mit einem Satz war sie beim Hörer, ihr Herz pochte wie wild. „Ha-hallo?“, stammelte sie.

„Blossom? Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt“, Melissas Stimme klang nicht wirklich entschuldigend, „aber ich muss es einfach wissen. Wie ist es gelaufen?“

Blossom presste die Augen zusammen, während sich ihr Herzschlag allmählich wieder normalisierte. Natürlich war es nicht Zak. Warum sollte er sie noch anrufen, nach allem, was sie gesagt hatte? Sie war so dumm.

„Blossom?“, wiederholte Melissa. „Wie ist es mit Zak gelaufen?“

„Nicht gut“, entgegnete sie knapp. Die Untertreibung des Jahres.

„Dann ist es also vorbei?“, fragte Melissa enttäuscht.

„Oh ja, es ist definitiv vorbei.“ Zu ihrem Entsetzen kam das letzte Wort als Schluchzen heraus. Rasch biss sie sich auf die Lippe.

Sofort verwandelte sich Melissa in eine besorgte Glucke, die allerlei Tröstendes von sich gab. Erst nachdem Blossom ihr mehrfach versichert hatte, dass sie sich nicht von einer Brücke stürzen würde, konnte sie das Gespräch beenden. Unglücklicherweise hatte sie an diesem Tag keinen Auftrag.

In ihrer Branche hieß es häufig alles oder nichts, und heute war nichts angesagt. In all ihrer entsetzlichen Leere lagen die Stunden vor ihr. Benommen und energielos saß sie im Sessel.

Nein. Das würde sie nicht zulassen. Sie würde nicht wieder in die Apathie versinken, die sie nach der Geschichte mit Dean so lange gelähmt hatte, als es tagelang zu mühevoll erschien, auch nur das Bett zu verlassen.

Nach dem Frühstück duschte sie, zog ein paar alte Kleider an und putzte ihre Wohnung von oben bis unten, was fast den ganzen Tag dauerte.

Am Abend empfing sie eine Antwort auf ihre E-Mail: Ob es vielleicht möglich wäre, dass sie bereits zwei Wochen früher als geplant käme? Bestimmte Arrangements waren schiefgelaufen, und es wäre eine große Hilfe, wenn sie am Ende der Woche schon fliegen könnte …

Blossom wog das Problem, dass sie noch ein paar kleinere Aufträge für die nächsten vierzehn Tage hatte, gegen die Möglichkeit ab, das Land schon früher zu verlassen. Denn damit konnte sie Zaks unentrinnbarer Gegenwart in ihrer Wohnung entkommen. Deshalb antwortete sie per E-Mail, sie würde spätestens Freitag eintreffen, und rief zwei Kollegen an, die sich bereit erklärten, ihre Aufträge zu übernehmen.

Vier Tage später befand sie sich hoch am Himmel über Heathrow, auf dem Weg in die Staaten, und sagte sich, dass dieser Job genau das war, was sie jetzt brauchte. Er würde ihr einen anderen Blickwinkel auf die Dinge erlauben, würde sie auf Trab halten und ihr Selbstbewusstsein aufpäppeln. Es war gut, dass Zak sie nicht angerufen und auch sonst nicht versucht hatte, sie zu kontaktieren. Ja, das war es. Wirklich.

Kaum dass sie amerikanischen Boden betreten hatte, war jede Minute ihres Tages ausgefüllt. Der Job war aufregend, hektisch und stimulierend. Während die Show in rasendem Tempo von Ort zu Ort zog, wusste Blossom während der Hälfte der Zeit gar nicht, wo sie sich gerade befand. Sie musste alle Fähigkeiten aufbieten, die sie sich im Laufe der Jahre angeeignet hatte, um Schritt zu halten und den Erfordernissen, die der Job an sie stellte, gerecht zu werden. Aber sie schaffte es und behauptete sich unter den Topfotografen, die an dieser Show arbeiteten.

Abends kam jedoch immer der Moment, den sie fürchtete, wenn sie allein auf ihrem Zimmer war. Mehr als einmal weinte sie sich in den Schlaf, um am nächsten Morgen wieder in aller Frühe aufzustehen und nach außen hin ruhig und souverän zu wirken.

Während des kompletten ersten Monats fragte sie bei Telefonaten mit Melissa nicht ein Mal nach Zak. Doch dann, nach einer besonders schlimmen Nacht, als sie früh am Morgen tränenüberströmt aufgewacht war, wusste sie, dass sie sich einfach nach ihm erkundigen musste. Sie hatte den Kampf gegen ihr Unterbewusstsein verloren.

Also rief sie Melissa an, als es in England später Abend und die Kinder bereits im Bett waren. Ihre Schwester klang ein wenig irritiert. „Blossom? Ich dachte, du wolltest dich erst Freitag melden, nicht heute.“

„Ja, ich weiß.“ Blossom zögerte. „Passt es gerade schlecht?“, fragte sie vorsichtig. „Ich kann später anrufen, wenn du gerade beschäftigt bist.“

„Nein, nein, ist schon in Ordnung. Wir haben nur Dinnergäste, das ist alles. Stimmt etwas nicht?“, erkundigte sie sich besorgt.

„Nein, es geht schon, ich will dich nicht aufhalten, wenn du Gäste hast. Es ist nur so, dass ich mich gefragt habe, wie es Zak geht. Du hast ihn gar nicht erwähnt.“

Diesmal zögerte Melissa. „Nun ja, ich wollte das Thema nicht anschneiden“, sagte sie schließlich.

„Ich will nicht noch einmal das Warum und Wieso durchgehen, falls du das meinst.“ Blossom fragte sich, wie sie es formulieren sollte, doch dann entschied sie, einfach zu sagen, wie es war. Immerhin war Melissa ihre Schwester. Wenn sie mit ihr nicht offen sprechen konnte, mit wem dann? „Ich mache mir Sorgen um ihn, das ist alles“, erklärte sie ruhig. „Die vergangene Nacht war so furchtbar, Mel. Du hast ja keine Vorstellung. Ich fühle mich immer noch so …“ Es fehlten ihr die Worte.

„Weißt du, was ich glaube“, hakte Melissa ein. „Du bist vor ihm davongelaufen, Blossom. Du hast den leichten Weg gewählt, anstatt dich deinen Ängsten zu stellen. Ist doch klar, dass du dich furchtbar fühlst.“

„Vielen Dank“, erwiderte sie trocken. „Denk bloß nie darüber nach, bei der Seelsorge zu arbeiten, Mel.“

„Nun, es ist die Wahrheit.“ Die Stimme ihrer Schwester wurde sanfter, als sie hinzufügte: „Aber es tut mir leid, dass du so verzweifelt bist.“

„Dennoch ist es meine eigene Schuld, nicht wahr?“ Ehe ihre Schwester antworten konnte, fuhr sie fort: „Schon gut, du musst nichts sagen, ich weiß es ja selbst.“ Das Problem bestand darin, dass sie, seit sie England verlassen hatte, nicht mehr klar denken konnte.

Unzählige Male hatte sie versucht, sich davon zu überzeugen, dass sie das Richtige getan hatte, doch es funktionierte nicht. Wenn sie allerdings die Alternative in Erwägung zog, dann lähmten sie Panik und Angst. Sie befand sich in einer Situation, in der sie nicht gewinnen konnte.

Blossom holte tief Luft. „Also, hat Greg etwas davon gesagt, wie es Zak geht?“

„Nicht wirklich.“ Diesmal zögerte Melissa noch länger.

Außerdem klang sie sehr ausweichend und vorsichtig, was Blossom sofort misstrauisch machte. „Was ist los?“, fragte sie deshalb direkt. „Was ist passiert?“

„Was soll schon los sein?“ Noch eine Pause. „Ich weiß nicht, was du meinst.“

Melissa weicht definitiv aus, dachte Blossom und hakte ängstlich nach: „Er ist doch nicht krank, oder? Er hatte keinen Unfall?“

„Zak? Nein, soweit ich weiß, geht es ihm gut.“

Blossom schloss die Augen, das Herz klopfte ihr bis zum Hals. „Trifft er sich mit jemandem?“ Die einzige andere Alternative.

„Blossom, er ist Gregs Boss. Er muss uns keine Rechenschaft über sein Verhalten ablegen.“ Melissa hielt inne. „Ich meine …“

„Aber du weißt doch etwas.“ Melissa klang gar nicht wie sonst.

„Nein, ich weiß nichts“, seufzte ihre Schwester. „Ich weiß überhaupt nichts.“

Blossom war nicht überzeugt. Zumal als Melissa noch hinzufügte: „Wie auch immer, wenn ich mich recht entsinne, dann warst du doch diejenige, die darauf bestanden hat, dass ihr beiden völlig frei seid, oder? Er könnte mit ganz London ausgehen, und es würde dich nichts mehr angehen. Du hast ihn in die Wüste geschickt, Sis.“

Das wusste sie. Wenn es jemand wusste, dann sie. In den meisten ihrer Träume hatte sie Zak mit einer anderen Frau gesehen. „Es macht es nicht gerade besser, dass du mich darauf hinweist“, erklärte sie angespannt. „Okay?“

„Nun, es tut mir leid, aber irgendjemand muss es ja tun.“

„Ich muss jetzt los.“ Blossom hatte genug.

„Okay“, versetzte Melissa gut gelaunt. „Pass auf dich auf und ruf an, wenn du kannst.“

Warum? Um sich noch mehr zu quälen? „Grüße Greg und die Kinder“, entgegnete Blossom steif, ehe sie auflegte.

Sie saß da und starrte ins Leere, während Verzweiflung sie überfiel. Er traf sich mit einer anderen Frau. Sie wusste es einfach. Und wie Melissa so überaus richtig betont hatte, besaß er jedes Recht dazu.

Ihr Herz zog sich zusammen, und sie biss sich fest auf die Lippe. Sie würde sich nicht noch einmal nach ihm erkundigen – das war ein riesiger Fehler gewesen. Sollte er doch mit wem auch immer ausgehen, das war ihr völlig egal. Mit einem lauten Schluchzen griff sie nach einem Taschentuch und wischte sich die Tränen von den Wangen.

Die folgenden Wochen verliefen genauso hektisch wie die ersten, doch wenn sie jetzt nachts völlig erschöpft ins Bett fiel, konnte sie einfach nicht schlafen. Hatte sie ihr Elend zuvor schon als groß empfunden, so war es nichts im Vergleich zu dem, was sie jetzt durchmachte, seit sie wusste, dass Zak sich mit einer anderen Frau traf. Sie schlief nicht, sie aß kaum etwas, und obwohl ihre Auftraggeber sich höchst zufrieden mit ihrer Arbeit zeigten, zog sie daraus keinerlei Befriedigung. Die letzte Show fand fünf Tage vor Weihnachten statt – mittlerweile bewegte sie sich am Rande einer totalen Erschöpfung, und sie hatte so viel abgenommen, dass sie zwei Konfektionsgrößen kleiner brauchte. Vielleicht hätte sie sich über Letzteres freuen können – wenn sie nicht so verzweifelt gewesen wäre.

Gott sei Dank hatte Melissa sie über Weihnachten zu sich nach Hause eingeladen, und Blossom hatte erleichtert angenommen. Die Feiertage waren eine sehr schwierige Zeit für sie – immerhin hatte Dean sie da verlassen –, und seit dem Zusammenbruch ihrer Ehe hatte sie jedes Weihnachtsfest bei ihrer Schwester verbracht.

Sie verließ Amerika am einundzwanzigsten des Monats. Schon kurz nach dem Start war sie halb eingeschlafen, dankbar dafür, dass Melissa sie in London abholen würde.

Sobald sie im Haus ihrer Schwester war, konnte sie den Jetlag überwinden, und dann würde es ihr wieder gut gehen, sagte sie sich, als sie aus ihrem Dämmerzustand erwachte. Nach Weihnachten würde sie ihr altes Leben wieder aufnehmen, und alles wäre gut.

Also schön, sie wäre natürlich nach wie vor allein, aber das hatte sie ja so gewollt. Niemandem Rechenschaft schuldig, vollkommen unabhängig. Doch das stimmte nicht. Zak spukte immer noch in ihren Gedanken herum. Aber das würde sich mit der Zeit bestimmt legen. Es musste.

Nach der Landung dauerte es eine halbe Ewigkeit, durch den Zoll zu kommen. Während sie auf ihren Koffer und ihre Fotoausrüstung wartete, fühlte sie eine leichte Übelkeit in sich aufsteigen. Als sie endlich alle Gepäckstücke hatte, wollte sie nur noch schlafen. Sie wusste, dass sie schlimm aussah, doch daran konnte sie jetzt nichts ändern.

Als Blossom zusammen mit den anderen Passagieren ihres Flugs durch das Hauptterminal ging, suchte sie müde die Menge nach Melissa ab. Mit einem Mal blieb ihr jedoch das Herz stehen, und sie hielt jäh im Schritt inne, sodass die Leute hinter ihr mit ihren Koffern schnell ausweichen mussten.

Zak stand da – groß, dunkel und mit diesen wunderschönen blauen Augen.

Im ersten Moment fragte sie sich, ob er jemand anders abholen wollte, doch dann sagte sie sich, dass der Zufall viel zu groß wäre.

„Hallo, Blossom.“ Als sie bei ihm ankam, beugte er sich vor und küsste sie leicht auf den Mund, ehe er nach ihrem großen Koffer griff. „Wie geht es dir?“, fragte er ruhig.

Wie es ihr ging? Sie hatte nicht die leiseste Ahnung; so viele Gefühle durchströmten sie, dass sie kaum noch wusste, wo oben und wo unten war. „Gut“, antwortete sie automatisch.

„So siehst du aber nicht aus.“

Das wusste sie auch. Wenn sie doch nur etwas Make-up aufgelegt, etwas mit ihrem Haar angestellt hätte. In ihrem Kopf drehte sich alles. „Wo ist Melissa?“, fragte sie nach ein oder zwei Sekunden, dabei hätte das ihr erster Gedanke sein sollen.

„Zu dieser Tageszeit? Zu Hause bei ihrem Ehemann und ihren Kindern, würde ich vermuten.“ Seine Stimme klang nüchtern und sachlich.

Blossom schaute zu ihm auf, doch er betrachtete sie gar nicht, sondern konzentrierte sich stattdessen auf den Koffer. „Sie hätte mich abholen sollen. Sie hat nichts davon gesagt, dass sie nicht kommen würde.“

Natürlich konstatierte sie nur das Offensichtliche, was seine Worte deutlich machten: „Aber ich bin stattdessen gekommen.“ Er gab sich absichtlich begriffsstutzig.

Mit einiger Mühe versuchte sie, mit ihm Schritt zu halten. „Ich meinte, ist jemand krank?“ Sie schaffte es einfach nicht, sein Tempo mitzugehen.

„Du meinst außer dir?“, versetzte er ruhig.

„Ich bin nicht krank“, gab sie empört zurück.

Da blieb er plötzlich stehen und schaute sie aufmerksam an. „Dann bin ich der Kaiser von China. Du siehst aus wie eine wandelnde Leiche, wenn du es genau wissen willst.“

Blossom errötete, sagte sich aber, dass sie sich keinesfalls provozieren lassen durfte. So ruhig sie konnte, erwiderte sie: „Warum bist du hier, Zak?“ Nach beinahe drei Monaten kompletter Funkstille. Nicht ein Anruf oder Brief. Nichts. Ganz zu schweigen von den anderen Frauen.

„Warum?“ Mit einer Hand hob er ihr Kinn an und schaute ihr tief in die Augen. „Was glaubst du denn?“ Dann küsste er sie – ein langer, brennender Kuss, der sie die vorbeieilenden Menschen um sich herum vergessen ließ.

Als er den Kopf hob, raunte er: „Hast du mich vermisst?“

Der Kuss hatte sie gefangen genommen – das taten seine Küsse immer –, aber jetzt trat sie einen Schritt zurück. Was war das? Er besaß doch tatsächlich die Unverschämtheit, sie zu küssen und in dieser heiseren, verführerischen Stimme mit ihr zu sprechen, so als wäre sie die einzige Frau auf der Welt für ihn, dabei hatte er sich bereits neuen Ufern zugewandt.

„Zak …“ Rasch biss sie sich auf die Zunge und schluckte die hitzigen Worte hinunter. Sie besaß kein Recht, ihm Vorwürfe zu machen. Was sie vielleicht einmal an Rechten besessen hatte, das hatte sie an jenem Abend im Herbst verwirkt. Stattdessen erklärte sie gefasst: „Ich dachte, wir wären fertig miteinander. Wir haben uns darauf geeinigt, dass …“

„Ich habe mich auf gar nichts geeinigt“, unterbrach er sie ruhig. „Soweit ich mich erinnere, hast du allein alle Entscheidungen getroffen.“

Er sah wundervoll aus. Er duftete wundervoll. Blossom dachte, sie hätte alle Tränen bereits geweint, doch jetzt brannten sie erneut in ihren Augen. Hastig schluckte sie den Kloß hinunter, der in ihrer Kehle saß, und wisperte rau. „Bitte, tu das nicht.“

Zak schaute sie noch einen Moment länger an. Leise fluchte er, griff wieder nach dem Koffer und setzte den Weg hinaus aus dem Flughafen fort. Es blieb ihr nichts anderes übrig als ihm zu folgen.

Keiner von beiden sprach, während er die Parkgebühren zahlte und sie zu einem glänzenden Jaguar gingen. Blossom gab keinen Kommentar zu dem neuen Wagen ab. Sie sagte auch nichts, als er ihr Gepäck in den Kofferraum und auf den Rücksitz des Wagens lud. Wenn sie ganz ehrlich war, so hatte sie im Moment keine Worte. Alles das wirkte wie ein merkwürdiger Traum – klar, herzzerreißend, schmerzhaft.

Während der Fahrt dehnte sich das Schweigen aus. Wir sind wie Fremde, dachte Blossom traurig. Fremde, die nicht wussten, wie sie miteinander umgehen sollten und die sich nichts Wichtiges zu sagen hatten. Plötzlich war ihr das alles zu viel. Sie wollte nur noch die Hände vors Gesicht schlagen und weinen. Stattdessen blickte sie aus dem Fenster hinaus in die tanzenden weißen Flocken, denn es hatte zu schneien begonnen.

Nach einer Weile bemerkte sie jedoch nervös: „Das ist nicht der Weg zu Melissa.“

„Wer hat gesagt, dass wir zu Melissa fahren?“

„Ich. Ich habe das gesagt.“ Rasch fasste sie sich. „Ich meine, das haben Melissa und ich ausgemacht. Ich verbringe Weihnachten bei ihr.“

Zak warf ihr einen kurzen Blick zu. Das Licht der Straßenlaternen betonte noch das Blau seiner Augen. Für einen endlosen Moment sahen sie sich an. „Das glaube ich nicht“, entgegnete er ruhig.

Blossoms Herz begann, wie wild zu schlagen. „Doch, das tue ich.“ Ihre Stimme klang ziemlich kleinlaut. „Ich verbringe Weihnachten bei meiner Schwester.“

Er antwortete nicht, sondern konzentrierte sich ganz aufs Fahren, da das Schneetreiben mittlerweile heftiger geworden war.

„Zak, ich will zu meiner Schwester“, erklärte sie laut. „Halt den Wagen an.“

Sie befanden sich auf einer gut beleuchteten Straße, als er plötzlich links ranfuhr und den Motor stoppte. „Also gut, ich habe angehalten. Was jetzt?“ Mit ausdruckslosem Gesicht wandte er sich ihr zu.

„Ich will zu Melissa“, wiederholte sie fieberhaft.

„Nein, das willst du nicht.“ Ohne Vorwarnung zog er sie in seine Arme und küsste sie, bis ihr der Atem stockte. Es war ein selbstbewusster Kuss, leidenschaftlich und warm. „Du willst es nicht“, raunte er leise, als er sich von ihren Lippen löste.

„Das ist nicht fair“, versetzte sie zitternd.

„Ich habe mich an die Regeln gehalten, und wohin hat mich das gebracht?“ In seiner Stimme lag keinerlei Belustigung. „Dass du mich verlässt – dahin.“ Mit seinem Finger strich er über ihre Lippe. Unverwandt blickte er ihr in die Augen. „Deshalb spielen wir jetzt nach meinen Regeln.“

„Und die beinhalten Kidnapping?“, schoss sie zurück.

Wenn sie ihn in Verlegenheit hatte bringen wollen, so misslang das gründlich. Er lächelte träge. „Was auch immer nötig ist.“

Blossom war zu müde, um sich ihre Worte genau zu überlegen. „Tu bloß nicht so, als hättest du mir die ganze Zeit hinterhergetrauert, denn ich weiß, dass es nicht so ist. Ich bin kein Dummkopf, Zak.“

„Nein, dumm bist du nicht. Unheimlich unsicher, unsicherer, als ich gedacht hatte, aber nicht dumm. Ich habe mich mit keiner anderen Frau getroffen, seit du fort bist, Blossom. Ich weiß, dass du das denkst, aber es stimmt nicht.“

Sie starrte ihn an. Irgendetwas in seiner Stimme sagte ihr, dass es die Wahrheit war. „Wenn das so ist“, sagte sie zitternd, „wenn du niemand anders getroffen hast, warum hast du dann nichts getan?“

„Was, zum Beispiel?“ Er hob eine Augenbraue.

„Mir geschrieben, mich angerufen. Du bist derjenige, der meinte, Amerika wäre heutzutage gar nicht mehr so weit weg.“

„Und du warst diejenige, die mir gesagt hat, dass sie mich nicht mehr sehen will. Erinnerst du dich?“ Er lächelte düster.

„Warum bist du dann hier?“, schleuderte sie ihm entgegen. „Wieso kommst du jetzt?“

„Weil ich dich besser kenne als du dich selbst. Manchmal muss man glauben, etwas verloren zu haben, um es wirklich schätzen zu können.“

Ihr Mund wurde trocken. „Du hast behauptet, du würdest keine Spiele spielen. Was, bitte schön, ist das dann?“

„Strategische Kriegsführung“, entgegnete er grimmig.

„Ich kämpfe für unsere Zukunft, Blossom. Selbst wenn es dauert, bis ich ein alter Mann bin, werde ich trotzdem weiterkämpfen. Ich hatte zwar nicht vor, mit weißem Bart zu heiraten, aber was soll’s? Ich bin nicht stolz.“

Sie konnte kaum glauben, was er gesagt hatte und starrte ihn fassungslos an. Heiraten? Wenn sie die Kraft gehabt hätte, dann hätte sie die Wagentür geöffnet und wäre davongelaufen. Aber wenn sie ganz ehrlich war, dann gab es keinen Ort, an dem sie lieber sein wollte als mit Zak mitten in einem Schneesturm. Doch sie konnte nicht mit ihm zusammen sein, das war ja eben genau der Punkt.

Ob sich ihre innere Zerrissenheit in ihrer Miene widerspiegelte, wusste sie nicht, jedenfalls wurde Zaks Stimme plötzlich weicher. „Du bist müde, völlig erschöpft. Du hast abgenommen und siehst furchtbar dünn aus. Geraldine muss dich unbedingt aufpäppeln. Deshalb verbringst du Weihnachten bei mir.“

Als Einladung hätte es besser formuliert sein können.

„Melissa erwartet mich. Ich verbringe Weihnachten bei ihr, es ist alles arrangiert.“ Sie starrte ihn hilflos an. „Ich habe Geschenke dabei.“

Doch er lächelte nur frech und zeigte damit kurz den alten Zak. „Ganz im Gegenteil, deine Schwester ist sehr froh, dich in meine liebevolle Pflege geben zu können. Während du weg warst, haben wir uns recht gut kennengelernt, und ich besitze ihre volle Unterstützung. Wir können ihr die Geschenke später bringen.“

Blossoms Augen weiteten sich. „Du hast Melissa gesehen?“

„Sie und Greg hatten Mitleid mit einem todunglücklichen Mann, falls du das meinst. Melissa schien es für ihre Pflicht zu halten, mich mehrmals die Woche zum Dinner einzuladen, und es wäre unhöflich gewesen, abzulehnen. Außerdem wollte ich über dich sprechen.“

Plötzlich machte es klick. „Du warst auch an jenem Abend da, als ich anrief.“ Sie starrte ihn an und versuchte sich an das zu erinnern, was er aus Melissa damals herausgeholt haben könnte. „Deshalb hat sie sich so merkwürdig benommen. Ich dachte, es wäre, weil …“

„Weil ich mich mit einer anderen Frau treffen würde, ich weiß“, beendete er den Satz für sie.

Ihre Wangen brannten. „Es ist schäbig, ein privates Telefonat zu belauschen“, versetzte sie hitzig, auch wenn er das eigentlich gar nicht getan hatte.

Darauf machte er sie jedoch gar nicht aufmerksam. Stattdessen entgegnete er ganz ruhig: „An diesem Abend habe ich mich ganz besonders schrecklich gefühlt. Es waren bereits Wochen vergangen, und du hast mich nie auch nur erwähnt. Melissa versuchte, mich aufzuheitern und mir Mut zu machen, aber ich begann allmählich zu glauben …“

Er hielt kurz inne, dann fuhr er fort: „Und dann hast du angerufen, und von dem, was Melissa mir erzählte, wusste ich, dass du noch an mich denkst.“

Noch an ihn denken – sollte das ein Witz sein? Sie hatte die ganze Zeit nichts anderes getan, Tag und Nacht nicht.

„Ich wollte nach dem Hörer greifen, um mit dir zu reden, aber Melissa ließ es nicht zu. Und dann machte sie die Andeutung, dass ich mich mit einer anderen Frau treffen würde …“ Er schüttelte den Kopf. „Ich dachte, sie wäre verrückt geworden, aber sie hat mir versichert, dass sie genau wisse, was sie tue. Da du ihre Zwillingsschwester seist, wisse sie genau, wie dein Verstand arbeitet, hat sie mir gesagt.“

„Du meinst, sie hat es absichtlich so klingen lassen, als würdest du dich wieder mit anderen Frauen treffen?“ Blossom fühlte sich verletzt.

„Sie will nur das Beste für dich.“ Zärtlich strich er ihr mit einem Finger über die Wange, ehe er kurz ihre Lippen streifte. „Und ich bin der Beste. Aber du bist viel zu erschöpft, um jetzt weiterzureden. Ich bringe dich nach Hause, und dann kannst du erst mal so lange schlafen wie du willst, okay? Wenn du dann aufwachst, wird Geraldine dich von vorne bis hinten bemuttern. Immerhin verschafft es den armen Hunden eine Pause.“

Blossom wollte widersprechen, doch sie fühlte sich viel zu merkwürdig. Schwindlig und erschöpft, benommen und unendlich müde. Dennoch wurde all das von dem unglaublichen Wissen überlagert, dass sie hier mit Zak war. Er hatte sie nicht aufgegeben. Es war nicht vorbei.

Das war gleichzeitig die wundervollste und beängstigendste Sache der Welt, denn wie sollte sie jetzt noch einmal die Kraft aufbringen, ihn erneut zu verlassen? Doch darüber konnte sie jetzt nicht nachdenken. Der Stress der vergangenen Monate machte sich bemerkbar und forderte seinen Tribut.

Zak hantierte an ihrem Sitz, bis die Rückenlehne nach unten glitt. Dann griff er auf den Rücksitz und zauberte eine Decke hervor, in die er sie fest einwickelte, ehe er in den Seitenspiegel blickte und wieder anfuhr.

Vollkommen erschöpft, sowohl körperlich als auch geistig, schlief Blossom ein. Als sie Zaks Haus erreichten, registrierte sie vage, dass man ihr aus dem Wagen half, dass Geraldine und Will da waren, dass Worte ausgetaucht wurden, die Hunde bellten. Doch all das schien eher wie im Traum zu geschehen. Sie wollte nur noch schlafen. An diesen wunderbaren Ort entfliehen, an dem sie nicht nachdenken oder reden oder fühlen musste.

Dann lag sie in einem weichen, duftenden Bett. Sie ließ sich tief in die Kissen sinken und verschwand durch die Dunkelheit ins Nichts. Und es war die reine Glückseligkeit …