Das (Wieder-)Erstarken der völkischen Bewegung begünstigt auch in der DNVP Bestrebungen, auf eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen altem und völkischem Nationalismus zu drängen. Der neuralgische Punkt, an dem beide Strömungen immer wieder aneinander geraten, ist dabei nicht zufällig der Antisemitismus, genauer: die Stellung zum radikalen Antisemitismus, der schon im Kaiserreich die Grenzlinie zwischen liberal-konservativen und völkischen Nationalisten markiert hat. Nicht daß die ehemaligen Deutsch- und Freikonservativen beziehungsweise Nationalliberalen, die die Führungsspitzen der DNVP besetzen, generell den Antisemitismus abgelehnt hätten. Nicht wenige von ihnen, wie zum Beispiel der spätere Parteiführer Westarp, teilen die Ansicht, daß das Judentum als „Fremdvolk“ zu gelten habe, das mittels Verbreitung internationalistischer Ideologien wie des marxistischen Sozialismus und der kosmopolitischen Demokratie die Vorherrschaft in Deutschland gewonnen und damit die unvermeidliche antisemitische Reaktion selbst verschuldet habe.1 Ihren Ausdruck findet diese Einstellung in der Entschließung des Hauptvorstandes vom 13. 10. 1919, mit der sich die DNVP als auf dem Boden des deutschen Volkstums stehend präsentiert und den Kampf „gegen jeden zersetzenden undeutschen Geist“ ankündigt, „mag er von jüdischen oder anderen Kreisen ausgehen. Sie (scil. die DNVP, S. B.) wendet sich besonders gegen die Vorherrschaft des Judentums, die seit der Revolution in Regierung und Öffentlichkeit immer verhängnisvoller hervortritt.“2
Sobald es sich freilich darum handelt, diese allgemeine Einstellung in politische Forderungen zu übersetzen, zeigt sich, daß die Mehrheit der Partei nicht bereit ist, über einen gemäßigten Antisemitismus hinauszugehen. Mit Rücksicht auf potentielle jüdische Wähler zumal in den östlichen Grenzgebieten, aber auch und vor allem auf mögliche Koalitionspartner zieht man es vor, den Antisemitismus nicht zu scharf herauszustellen und sich gegen die entsprechenden Forderungen zu sperren, die vom völkischen Flügel in immer neuen Kampagnen vorgetragen werden. So lehnt Westarp nicht nur Gewalttaten gegen Juden ab (was ihn noch nicht unbedingt vom Radikalantisemitismus unterscheidet), er weist auch das Verlangen nach einem Arierparagraphen für die Parteimitgliedschaft zurück. Die antisemitische Stellungnahme der DNVP, erläutert er im November 1919 in einem Artikel für die Kreuzzeitung, richte sich „weder gegen die jüdische Religion, noch gegen die staatsbürgerliche Gleichheit der Juden und gegen deren Ansprüche auf Achtung ihrer Persönlichkeit“.3 Anders gesagt: der deutschnationale Antisemitismus soll kompatibel sein mit den zentralen Bauprinzipien eines modernen Rechtsstaates und darüber hinaus die Manövrierfähigkeit der DNVP im politischen System der Weimarer Republik nicht beeinträchtigen.
Genau hier setzt die völkische Kritik den Hebel an. Der radikale Antisemitismus ist für sie gewiß nicht nur Mittel zum Zweck, wie das einschlägige Schrifttum seit den Anfängen der Bewegung lehrt. Er ist es aber immer auch, und nach 1918 ganz besonders. Seine Akzentuierung eignet sich hervorragend, um die DNVP im Parteienspektrum zu isolieren und diejenigen Kräfte in ihr zu stärken, die auf Systemopposition setzen, auf die Absage an die gesamte, mit den Vokabeln „Weimar“ und „Versailles“ bezeichnete Ordnung; und sie ist überdies ein Mittel, „um die Masse der DNVP-Mitglieder gegen die Parteiführung zu mobilisieren“4 und auf diese Weise die Hegemonie des alten Nationalismus über den völkischen zu brechen. Schon im April 1919 verlangen die bis dahin wenig zum Zuge gekommenen Repräsentanten des völkischen Flügels vom Parteivorstand eine klare Stellungnahme in der Judenfrage, das heißt ein Bekenntnis zu radikalantisemitischen Zielen.5 Das kann zwar mit Vertagungen und Formelkompromissen für einige Zeit hinausgezögert werden, doch wächst seitdem die Opposition. In Berlin gründen Publizisten der äußersten Rechten wie Reinhold Wulle, Richard Kunze, Jürgen von Ramin und andere einen Deutschvölkischen Arbeitsring, um (radikal-)antisemitische Kandidaturen in der DNVP durchzusetzen und eine entsprechende Propaganda zu fördern.6 Aus diesem Kreis werden bald darauf heftige Angriffe gegen den Einfluß der Alldeutschen in DNVP und DSTB vorgetragen, die sich noch verschärfen, als Wulle Ende 1920 seinen Posten als Hauptschriftleiter der alldeutschen Deutschen Zeitung aufgeben muß.7 Dies ist der Anfang eines anhaltenden Konfliktes zwischen den Alldeutschen und den Deutschvölkischen, die später nicht nur den ADV verlassen, sondern in ihren Hochburgen zahlreiche alldeutsche Ortsgruppen zerschlagen. Wulle verfaßt 1923 gar eine Anklageschrift gegen Heinrich Claß, die diesem vorwirft, auf die Zerstörung der völkischen Bewegung hinzuarbeiten und dafür Geld aus den USA zu erhalten.8
Wie groß das Selbstbewußtsein der Völkischen und ihr Anspruch auf angemessene Repräsentanz in den Verbänden und Parteien der Rechten inzwischen geworden ist, zeigen die Ereignisse der Jahre 1921 und 1922. Im April/Mai 1921 beginnt Ludwig Müller von Hausen mit seinen bereits erwähnten Enthüllungsartikeln über den DSTB, die dessen geheime Nebenorganisation, den „Bund“, als eine Gründung von Freimaurern darstellen. Unterstützung erhält er von völkischen Organisationen wie dem Deutschen Herold in Mitteldeutschland und dem Wälsungen-Orden in Thüringen, die die Führung durch Roth und Hertzberg attackieren und sich Reinhold Wulle anschließen wollen.9 In der Führungsspitze des DSTB brechen ebenfalls heftige Auseinandersetzungen aus, als Ferdinand Werner im Frühjahr 1921 ultimativ die Ausschaltung des geheimen diktatorischen Leiters verlangt und sich für eine neue kollegiale Führung stark macht. Die kategorische Ablehnung dieser Forderung durch Roth, Gebsattel und Hertzberg veranlaßt Werner, fortan auf Obstruktion zu setzen und sich Plänen einer neuen Gesamtorganisation innerhalb der völkischen Bewegung sowie der Gründung einer neuen völkischen Partei zuzuwenden. Der endgültige Bruch, der zugleich das Ende des DSTB einleitet, kommt auf dem Deutschen Tag in Coburg im Oktober 1922, als Hertzberg Werner und Wiegershaus ihrer Ämter enthebt und zugleich deren Verbündete, Fritsch und Dinter, als nicht mehr dem Gesamtvorstand zugehörig erklärt.10
Auch in der DNVP verstärken die Völkischen seit dem Herbst 1921 ihren Druck auf die Parteiführung. Nur mit knapper Not kann diese im November einen Vorstoß von Wulle in Richtung eines Judenausschlußparagraphen abwehren, muß aber zur Kenntnis nehmen, daß die DNVP-Fraktion im Preußischen Landtag bereit ist, alle Angehörigen der jüdischen Religionsgemeinschaft aus der Partei auszuschließen.11 Als nach dem Mord an Rathenau der Reichstagsabgeordnete und ehemalige Generalstabsoffizier Wilhelm Henning (1879 –?) wegen belastender Äußerungen die Fraktion verlassen soll, solidarisieren sich ganze Landesverbände mit ihm. Zwei weitere Abgeordnete, Reinhold Wulle und Albrecht von Graefe (1868 – 1933), verlassen ebenfalls die Fraktion.12 Zwar gelingt es der Parteileitung in den folgenden Wochen, die Fraktionsrebellen zu isolieren, doch bewirkt die beharrliche Betonung der Gemeinsamkeit hinsichtlich des „völkischen“, genauer: antisemitischen Standpunkts, daß die Dissidenten zunehmend klarer machen, was sie sonst noch von der Parteimehrheit trennt. Im August 1922 greift der Hammer die „Halbseidenen“ in der Parteiführung massiv an und insinuiert, sie hingen an geheimen Fäden der „unehrlichen Welt-Regisseure […], die nicht zulassen, daß das politische Theater gestört wird“, was nichts anderes heißt, als daß sie von Juden gesteuert würden. Daran schließt sich der Vorwurf an, der DNVP fehle „die volkstümliche Ader, ja sichtlich überhaupt die rechte Fühlung mit der Volksseele. Eine gewisse alt-konservative Verknöcherung und wohl auch ein Stück Junker-Hochmut machte sich hier und da fühlbar. Wir brauchen aber eine wirklich volkstümliche Partei, die vor allem auch den einsichtigen Teil der betrogenen Arbeiter zu gewinnen vermag.“13
Denselben Vorwurf erhebt der Reichswart, der die mangelnde Werbekraft des deutschnationalen Programms „in der Arbeiterwelt und in der der kleinen Angestellten“ moniert und die DNVP als „eine Partei des Kapitalismus“ charakterisiert.14 Albrecht von Graefe, von Fritsch namentlich zum Handeln aufgefordert, nimmt diese Vorlage auf. Am Vorabend des Parteitages in Görlitz greift er in einer Rede vor seinen Anhängern den „Großkapitalismus“ an und dehnt wenig später seine Polemik auch auf die Parteileitung von Hergt und Helfferich aus, die, als Vertreter der ‚kapitalistisch-materialistischen‘ Richtung in der DNVP, die Banken und die Schwerindustrie ‚nicht vor den Kopf stoßen‘ wollten und in diametralem Gegensatz zur ‚idealistisch-völkischen Richtung‘ in der Partei stünden.15 Das heißt offen auszusprechen, was auf der Gegenseite schon seit längerem geargwöhnt wird: daß es nicht nur um die Rechte der Juden geht, sondern um die Stellung zu der 1919 geschaffenen politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Ordnung. Schon im August 1921 hatte der Landesvorsitzende von Ost-Hannover, Heinrichs, in einem Brief gewarnt, „die ganze Geschäftswelt und namentlich die Großindustrie, der Großhandel und vor allem die Großbanken“ würden im Falle eines Sieges der Radikalantisemiten der DNVP den Rücken kehren, da sie „sich nicht ausschließlich auf die Opposition und die Negation einstellen“ könnten.16
Tatsächlich sind es dann allerdings die Völkischen, die der DNVP den Rücken kehren – oder genauer: die Gefolgschaft der drei Reichstagsabgeordneten Wulle, Graefe und Henning17, die keineswegs sämtliche Völkischen umfaßt, die 1918 der Partei beigetreten sind. Als die Gründung einer Deutschvölkischen Arbeitsgemeinschaft innerhalb der Partei im September 1922 auf den entschiedenen Widerstand der Führung stößt, die eine Partei in der Partei nicht akzeptieren will, beschließt die Gruppe um Wulle im November 1922 die Verschmelzung ihrer Organisation mit dem Deutschvölkischen Freiheitsbund, den der Kapitänleutnant a. D. Graf Ernst Reventlow (1869 – 1943), selbst kein Mitglied der DNVP, kurz zuvor mit dem ausdrücklichen Ziel gegründet hat, unzufriedene Völkische zum Verlassen der DNVP zu bewegen.18 Nach dem Beitritt weiterer Verbände wie dem Deutschen Herold, dem Völkischen Arbeiterbund und dem Völkischen Rechtsblock in Bayern wird im Dezember 1922 die Trennung von der DNVP auch formell vollzogen und die Gründung der Deutschvölkischen Freiheitspartei (DVFP) bekannt gegeben.19 Ihr schließt sich allerdings kein einziger Landesverband und kaum eine Ortsgruppe der DNVP an, so daß die neue Partei sich nicht auf eine bereits vorhandene Organisationsstruktur stützen kann.20 Entsprechend bescheiden fallen die ersten Wahlergebnisse auf Reichsebene im Mai 1924 für die neue Partei aus. Nur in Franken und Oberbayern-Schwaben vermag sie an der DNVP vorbei- und in Mecklenburg knapp mit ihr gleichzuziehen, während sie überall sonst, speziell im agrarisch-protestantischen Milieu Ostelbiens, weit abgeschlagen hinter ihr zurückbleibt.21
Die Sorge um den politischen Erfolg veranlaßt die völkische Deutungselite, das eigene Profil so scharf herauszuarbeiten wie selten zuvor. In der Tradition, einem Organ, das sich die „Paarung der konservativen beziehungsweise preußischen Staatsidee mit der deutschvölkischen Anschauungswelt“ zur Aufgabe gemacht hat22, wendet sich der Herausgeber dagegen, den Konflikt auf die unterschiedliche Haltung in der Judenfrage zu reduzieren und hebt statt dessen die Wandlung der DNVP von einer Rechts- zu einer Mittelpartei hervor; diese Wandlung habe es bewirkt, daß es heute eigentlich kaum mehr eine Frage des öffentlichen Lebens gebe, „in der die Völkischen sich mit der grundsätzlichen oder taktischen Haltung der Deutschnationalen einverstanden erklären könnten.“23 Im gleichen Blatt begründet Wulle seinen Beitritt zur Deutschvölkischen Freiheitspartei mit der Diskrepanz, die bei den Deutschnationalen zwischen systemfeindlicher Rhetorik und faktischem Verzicht auf das „Mittel der Obstruktion“ bestehe. Das Wesen der völkischen Politik liege darin, „daß wir mit rücksichtsloser Klarheit alles Undeutsche in Deutschland bekämpfen und durch Deutsches, Völkisches ersetzen. Völkische Politik verlangt daher rücksichtslosen Kampf gegen das ganze neudeutsche System“, verlangt vor allem auch den Verzicht auf ‚positive Mitarbeit‘.24
Noch schärfer markiert der Hammer die Gegensätze. Während Theodor Fritsch sich zunächst damit begnügt, der DNVP-Führung vorzuhalten, sie betreibe die Geschäfte der Juden25, macht Walther Kramer den Unterschied in zwei Dimensionen fest: Die „Nationalen“ oder auch „Alt-Nationalen“ seien auf einen geographischen und wirtschaftlichen Inkrementalismus ausgerichtet, der sie jede Riesenbrücke, jeden neuen Großdampfer und jede Erweiterung der Großstädte als Fortschritt begrüßen lasse, wogegen die Völkischen alles daran mäßen, ob es mit der „Seele“ des deutschen Volkes vereinbar sei; ebenso lehne man es ab, wie die „Nationalen“ die Nation in ständisch-exklusivem Sinne auf die besitzenden und gebildeten Schichten zu beschränken, wodurch das Nationale in Gegensatz zum Sozialen gerate und „Anreiz zum Klassenkampf“ gebe. „Der Nationale ist eben zuerst Standesmensch: Geheimrat, Akademiker, Fabrikant, Gebildeter, und dann – ganz nebenbei – ist er auch noch Deutscher, aber beileibe nicht etwa Volk. Damit will er am liebsten nichts zu tun haben. ‚Abstand wahren‘ war das beliebte Sprichwort derjenigen, für die der Mensch erst beim Leutnant und der gesellschaftsfähige Mensch erst beim Akademiker anfing. Diese geistig armselige Gesellschaft ist es gewesen, die durch Dummheit und Dünkel den Krieg verloren hat. Wir Völkischen sind zuerst Volk, sind mit Leib und Seele Deutsche, und vergessen dabei fast, daß wir – ganz nebenbei – auch noch Kaufmann, Landwirt, Beamter, Generalfeldmarschall oder – ‚Tapezierergehilfe‘ sind.“26 Theodor Fritsch gefällt dieser Gedankengang so gut, daß er mehrfach auf ihn zurückkommt und noch im Mai 1926 seine Kritik am Alldeutschen Verband darauf aufbaut. „Völkisch“, so seine Version, „bedeutet uns zugleich auch volkstümlich, volksmäßig, volkseinheitlich. Das Völkische will nicht nur Partei-Gegensätze, sondern auch Klassen- und Standes-Gegensätze überbrückt sehen. Es will die Volks-Gemeinschaft, gegründet auf Blut und einheitliche Geistesart.“27 Solche Formulierungen müssen freilich stets auf Fritschs mittelstandsideologisches Fundament bezogen werden, um den Grad an Inklusionsbereitschaft nicht zu hoch anzusetzen.
Über dem Prinzipienstreit gilt es überdies nicht aus den Augen zu verlieren, daß die Sezession in der politischen Wirklichkeit keine absolute Trennung des völkischen vom alten Nationalismus bedeutet. Das gilt weder für die DVFP, der man schon bald vorhalten wird, die Eierschalen des alten Nationalismus nicht vollständig abgestreift zu haben (vgl. den nächsten Abschnitt), noch für die DNVP, die sich zumindest bis 1928 alle Mühe gibt, auch für das völkische Spektrum wählbar zu sein. Als Wulle in einer Kampfschrift seinen Austritt damit begründet, daß die DNVP „von A bis Z nicht völkisch“ sei, läßt die Hauptgeschäftsstelle verlauten, eine „zwingende Veranlassung, sich von der Fraktion und Partei zu trennen“, sei in Wulles völkischer Gesinnung nicht gegeben.28 Wichtiger als die Unterschiede, heißt es in einer Informationsbroschüre für die örtlichen Führer, seien die Gemeinsamkeiten, vor allem die gemeinsamen Feinde, das Judentum und der Marxismus.29 Auch die zu den Gegnern der Dissidenten zählende Deutsche Tageszeitung, das Organ des Reichslandbundes, betont, daß die Sezession „mit dem deutsch-völkischen Gedanken an sich nichts zu tun“ habe; die Grundeinstellung der DNVP sei und bleibe völkisch, weshalb auch die große Masse der Deutschvölkischen in ihr verbleibe.30 Der Reichslandbund selbst verurteilt die Sezession als „parteivölkische Brunnenvergiftung“, die dem wahren völkischen Gedanken abträglich sei.31
Tatsächlich schließen sich prominente Vertreter des völkischen Radikalantisemitismus wie Alfred Roth, Ferdinand Werner und Max Robert Gerstenhauer dem Schritt der Wulle-Gruppe nicht an. Gestützt auf einen nach wie vor beträchtlichen Anhang agitieren sie weiter auf der Linie des bekannten Kurses und erreichen es immerhin, daß nach längeren Kontroversen 1926 der Ausschluß von Juden aus der Partei in die Satzung aufgenommen wird; radikalere Apartheidsideen, die auf eine Rücknahme der Emanzipation zielen, bleiben allerdings auf interne Gremien wie den Völkischen Reichsausschuss bei der Parteileitung beschränkt und finden keinen Eingang in die offizielle Programmatik.32. Wie groß das Interesse der Führung ist, die völkische Klientel bei der Stange zu halten, zeigen darüber hinaus einschlägige Flugschriften und Reden. Hans Schlange-Schöningen, der 1929 von der DNVP zur Christlich-Nationalen Bauern- und Landvolkpartei überwechseln wird, bringt 1924 eine Broschüre Wir Völkischen heraus und spricht vor Studenten über die Aufgaben völkischer Politik. Von einer am 3. 2. 1924 in Stettin gehaltenen Rede dieses Politikers urteilen die Abwehrblätter, sie habe „auf dem Gebiete der Judenhetze mit das ärgste dar(ge)stellt, was je überhaupt von Versammlungsrednern – auch die Deutschvölkischen nicht ausgenommen – geleistet worden ist.“33 Eine andere Flugschrift, verfaßt von Albrecht Philipp, ist überschrieben: Der völkisch-nationale Gedanke im Kampf mit der Republik.34
Das Festhalten an der völkischen Semantik mag mit zu den Faktoren des erstaunlichen Erfolges gehören, den die DNVP in den Reichstagswahlen des Jahres 1924 verbucht. Im Mai entscheiden sich 19,5 %, im Dezember sogar 20,5 % für diese Partei und machen sie damit zur zweitstärksten Reichstagsfraktion hinter der SPD. Ein Blick auf die einzelnen Wahlkreise zeigt, daß der Erfolg vor allem dem Abstimmungsverhalten des ländlichen protestantischen Deutschland zu verdanken ist. Bei den Maiwahlen liegt Pommern mit 49,5 % an der Spitze (1920: 35,5 %), gefolgt von Frankfurt/Oder mit 40,5 % (1920: 27,7 %) und Ostpreußen mit 38,9 % (1920: 30,9 %). In industriell-großstädtischen Regionen wie Berlin, Westfalen-Süd und Düsseldorf-Ost liegt der Anteil nur bei 21,5 %, 12,3 % und 15,0 %.35 Zu Recht wird der DNVP daher bescheinigt, zur „Milieupartei“, zur „‚Volkspartei‘ des evangelisch-ländlichen Deutschland“ geworden zu sein.36
Näher besehen ist sie dies jedoch vor allem deshalb, weil sie bis 1925 als einzige größere Partei nicht an der Regierung beteiligt ist und sich dadurch vorzüglich als Auffangbecken für Protestströmungen aller Art eignet. Auf dem Agrarsektor sind dies die Landarbeiterverbände, die in den Anfangsjahren der Republik mit ungewohnter Vehemenz den Gutsbesitzern entgegentreten und in der DNVP erstmals eine politische Heimstätte finden, die regionalen Landbünde, in denen sich der bäuerliche und adlige Grundbesitz organisiert, sowie jenes caput mortuum der einstigen Deutschkonservativen Partei, das sich im sogenannten Hauptverein eine eigenständige Organisation bewahrt hat und sich schon bald als überaus lebendig erweist.37 Was diese drei Gruppen in die Politik treibt, ist neben ihrem jeweiligen Sonderinteresse der Protest gegen vermeintliche oder reale Benachteiligungen der Landwirtschaft insgesamt, die aus so unterschiedlichen Faktoren wie der hohen Verschuldung, wachsendem Kostendruck, mangelnder Kreditwürdigkeit und nicht zuletzt: steigenden Belastungen durch Reichs- und Landessteuern einerseits, Sozialversicherungsbeiträge andererseits resultieren.38
In den Jahren der Stabilisierung richtet sich dieser Protest weniger gegen die politische Ordnung als solche, als gegen bestimmte Politiken. Um diese zu ändern, drängen gerade die Landbünde die DNVP, sich an den Landesregierungen wie an der Reichsregierung zu beteiligen.39 Als diese Beteiligung jedoch zu keinen spürbaren Erleichterungen führt, die Lage sich vielmehr mit der 1927 einsetzenden Weltagrarkrise dramatisch verschlechtert, löst sich die Interessenkoalition auf. In den Landbünden vermag man sich nicht mehr auf eine gemeinsame Wahlempfehlung zu verständigen, mit der Folge, daß sich die orientierungslos gewordenen Bauern an den Reichstagswahlen von 1928 vielfach nicht mehr beteiligen oder sogar zu außer- und antiparlamentarischen Aktionen übergehen, die sich auch gegen das Partei- und Verbandswesen richten.40 In manchen Regionen wie etwa Schleswig-Holstein kostet dies die DNVP zehn Prozentpunkte, zwei Jahre später noch einmal weitere siebzehn Punkte, so daß die Partei 1930 auf den Status einer Splitterpartei reduziert ist. Selbst in sicheren Hochburgen wie Ostpreußen oder Pommern vermag sie 1930 nur mehr die Hälfte ihres einstigen Wählerpotentials zu mobilisieren, was vermutlich auf die Abkehr vieler Landarbeiter und Bauern zurückzuführen ist.41 Auch in Mittel- und Süddeutschland kündigen viele Landbünde die Zusammenarbeit auf und wenden sich neuen berufsständischen Parteien wie der Christlich-Nationalen Bauern- und Landvolkpartei zu.42
Die Folgen dieser Entwicklung werden in der Forschung gern unter der Überschrift „Radikalisierung des Konservatismus“ behandelt. Die Krise der gouvernementalen Politik habe den Raum für jene reaktionären Kräfte geöffnet, die sich 1918 nur vorübergehend von der politischen Bühne zurückgezogen hätten und nunmehr erneut ihren Führungsanspruch anmeldeten: die Kreise um Alfred Hugenberg, um den alldeutschen Verband und den konservativen Hauptverein. Mit der Wahl Hugenbergs zum Parteivorsitzenden habe eine ‚völkisch-schwerindustrielle Allianz‘ in der DNVP die Macht ergriffen und die Partei auf eine ‚sozialreaktionäre Konfrontationsstrategie‘ festgelegt, die schließlich mit Notwendigkeit in das Bündnis mit der NSDAP geführt habe.43
Richtig an dieser Deutung ist: die DNVP verliert ab 1928 ihren Charakter als Milieupartei, und sie gerät unter die Kontrolle des intransigenten Parteiflügels, der auf „Systemveränderung“ zielt, nicht bloß auf neue Prioritäten in der Agrar-, Zoll- oder Steuerpolitik. Kennzeichnungen wie „Radikalisierung des Konservatismus“, „völkisch-schwerindustrielle Allianz“ oder „reaktionär“ verfehlen jedoch auf eigentümliche Weise den Kern des Wandels, den die DNVP unter Hugenberg erlebt. Statt einer Radikalisierung erfährt der Konservatismus eine weitere Marginalisierung, eine Verdrängung durch den alten Nationalismus, der weit mehr mit dem autoritären Liberalismus gemein hat als mit der Ideologie der societas civilis.44 Von Reaktion kann man ebenfalls nicht sprechen, weil es den Großagrariern und Alldeutschen, die nun in der DNVP den Ton angeben, weder um die Restauration der Ständegesellschaft noch um die Rückkehr zu der in der Vergangenheit durchaus erfolgreichen, die Interessen aller Gruppen des ländlichen Milieus wahrnehmenden Politik geht, sondern um Klassenpolitik im engsten Sinne des Wortes. Diese bezieht sich zwar mit der Grundrente nicht eben auf den progressivsten Teil der deutschen Wirtschaft, setzt aber eine industriekapitalistische Ordnung voraus und ist auch insofern nicht reaktionär zu nennen. Eine konkrete Allianz mit einzelnen Verbänden dieser Industrie bedeutet dies freilich noch nicht. Während des Wahlkampfs von 1930 finden sich keine Spitzenfunktionäre der rheinisch-westfälischen und mitteldeutschen Schwerindustrie mehr im Lager Hugenbergs; dessen Agrarpläne, vor allem das auf eine weitgehende Entrechtung der Gläubiger zielende Entschuldungsprogramm, stoßen bei der Industrie auf so entschiedene Ablehnung, daß auch der Spendenfluß stark zurückgeht. Vor den Landtagswahlen in Preußen im April 1932 steht die DNVP am Rande des finanziellen Ruins und wird nur notdürftig mit Geldern am Leben erhalten, die Hugenberg seinen eigenen Wirtschaftsunternehmen entzieht. Erst bei den Novemberwahlen von 1932 öffnen sich die Schatullen der Industrie wieder, doch geschieht auch dies nicht in einem Umfang und mit so klaren Vorgaben, daß es gerechtfertigt wäre, von einer Allianz mit der Schwerindustrie zu sprechen.45
Was schließlich den „völkischen“ Charakter angeht, den die DNVP in ihrer Endphase angenommen haben soll46, so beschränkt sich dieser auf einige Anleihen semantischer Art. Obwohl gerade Hugenberg von seiner kathedersozialistischen Schulung her durchaus bereit ist, dem kleineren und mittleren Eigentum entgegenzukommen, erscheint doch die von ihm geführte Partei allzu sehr als eine Klassenpartei des Großgrundbesitzes mit einem alldeutschen Zusatz47, als daß sie für die Massen der zunehmend standesbewußter agierenden Bauern und Landarbeiter wählbar sein könnte. Das Entschuldungsprogramm, das u. a. eine Ablösung durch Landabtretung vorsieht, begünstigt den Großgrundbesitz, desgleichen die vorgesehenen steuerpolitischen Erleichterungen48; die agrarpolitische Propaganda macht keinen expliziten Unterschied zwischen landwirtschaftlichen Betriebsgrößen und ermöglicht es dadurch anderen politischen Unternehmern, gezielt das kleine und mittlere Bauerntum anzusprechen und ihm seine gesamtwirtschaftliche und bevölkerungspolitische Unentbehrlichkeit zu bescheinigen.49 Da auch die antisemitische Agitation gegen die „jüdische“ Finanzspekulation und den Bodenwucher in der DNVP seit dem Eintritt in die Regierung Luther (1925) stark zurückgetreten ist50, öffnet sich auf diese Weise zum zweiten Mal nach den 90er Jahren der ländliche Raum für eine agrarische Massenmobilisierung nach Böckelschem Muster, die an den Parteien der ländlichen Oligarchie vorbei in die Richtung einer neuen Milieupartei vorstoßen könnte. Mit den Deutschvölkischen, die sich 1922 von der DNVP getrennt haben, stünde im Prinzip eine für diesen Zweck geeignete Partei bereit. Die Frage ist, warum nicht sie, sondern die Nationalsozialisten das Rennen gemacht haben.