Von einem fehlenden oder gestörten Verhältnis zur Jugend läßt sich freilich nur mit Blick auf die DFVP/DFVB sprechen, nicht auf die völkische Bewegung insgesamt; für diese letztere gilt vielmehr, daß sie nach 1918 in weit größerem Maß auf Zuspruch bei der Jugend rechnen kann als vor 1914. Gewiß zählt auch schon im Kaiserreich das antisemitische Segment der Studentenschaft zu den wichtigsten Trägern der Bewegung, wie die Resonanz der Antisemitenpetition von 1880 / 1881 gerade in Universitätsstädten oder die Bereitschaft zur Aufnahme eines „Arierparagraphen“ in den Vereinen deutscher Studenten zeigt1; und gewiß kennt man auch damals bereits einschlägige Organisationen wie den 1909 an der Berliner Universität gegründeten Deutschvölkischen Studentenverband, in dessen Zeitschrift, den von 1911 bis 1914 erscheinenden Deutschvölkischen Hochschulblättern, sich die völkische Prominenz von Bartels und Böckel bis Wachler und Wilser ein Stelldichein gibt.2 Während sich das Engagement in dieser Zeit jedoch auf den akademischen Raum beschränkt und darüber hinaus starken Fluktuationen unterworfen ist, gewinnt es nach 1918 deutlich an Breite und Kontinuität. Studenten bilden im Nachkrieg eigene Freiwilligenverbände und stellen einen wesentlichen Teil der Freikorps; sie gründen an zahlreichen Universitäten „Hochschulringe deutscher Art“, die sich im Juni 1920 in Göttingen zum Deutschen Hochschulring (DHR) zusammenschließen.3 Daß es hierbei um wesentlich mehr geht als nur um Hochschulpolitik, zeigt die bewußte Einbeziehung von Studentenverbänden in Österreich und der Tschechoslowakei, die eine „großdeutsch-nationalistische“ Ausrichtung signalisiert, zeigt außerdem die 1922 vom DHR in der Deutschen Studentenschaft als der Dachorganisation der örtlichen Studentenschaften durchgesetzte Würzburger Mitgliedschaftsformel, die für die staatsrechtlich nicht zu Deutschland gehörenden Verbände eine Rekrutierung mittels des Abstammungsprinzips zuläßt, das sowohl in antislawischem als auch in antisemitischem Sinne aufgeladen wird.4 Das ist für sich genommen noch nicht spezifisch völkisch, sondern Ausdruck des für verschiedene Strömungen charakteristischen Ethnonationalismus5, doch bildet sich auf dieser Grundlage auch eine „Deutschvölkische Studentenbewegung Großdeutschlands“, die sich seit Oktober 1925 „Völkische Studentenbewegung“ nennt, über eine eigene Zeitschrift verfügt (Der Student) und sich im Streit mit dem preußischen Kultusminister Becker zu profilieren vermag.6 Zwar gelingt es den Deutschvölkischen nicht, den DHR zu erobern, der in der zweiten Hälfte der 20er Jahre immer mehr in das Fahrwasser der DNVP gerät7, doch zeigt ihre Agitation mittelbare Folgen, bereitet sie doch den Boden für den Aufstieg des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes, der ab 1926 / 27 die Hochschulszenerie zu beherrschen beginnt.8
Auch außerhalb der akademischen Sphäre können die Völkischen erhebliche Terraingewinne verbuchen. In der Jugendbewegung, die als solche natürlich ebensowenig völkisch ist wie die Lebensreform- oder die Frauenbewegung9, finden sich schon vor dem Ersten Weltkrieg Verbände wie die Fahrenden Gesellen, die Jugendorganisation des DHV, die von den Alldeutschen Blättern als „völkisch unbedingt zuverlässig“ eingestuft wird (womit wohl vor allem die Übernahme des „Arierparagraphen“ aus der Satzung des Mutterverbandes gemeint ist)10, aber auch Gruppen im Wandervogel, die sich für eine Ethnisierung des Nationsverständnisses und dessen Zuspitzung im antisemitischen Sinne stark machen.11 Friedrich Wilhelm Fulda, Herausgeber der „nichtamtlichen“ Führerzeitung des Wandervogels, öffnet die Spalten seines Blattes sogar für Philipp Stauff. Während des Krieges schließt sich der „Wandervogel V.B. (Vaterländischer Bund für Jugendwandern)“ der völkischen Bewegung an und gibt sich im Sommer 1918 die neue Bezeichnung „Wandervogel, Völkischer Bund für Jugendwandern“.12 Zur gleichen Zeit gewinnt Ernst Hunkel vom Deutschen Orden den Wandervogelführer Otger Gräff als Mitarbeiter für das Beiblatt für die deutschvölkische Jugend beim Neuen Leben, „Heiliger Frühling“.13 Aus dessen Lesern und Mitgliedern seines Greifenbundes bildet Gräff den Jungdeutschen Bund, der manchen wegen des zur Aufnahmebedingung gemachten „Blutsbekenntnisses“ „als erster völkisch-nationaler, ja rassisch bewußter Bund innerhalb der Jugendbewegung“ gilt.14 Ob man allerdings aus solchen Fakten schließen kann, daß zu diesem Zeitpunkt ein Drittel der Jugendbewegung völkisch eingestellt ist, muß allein schon deswegen bezweifelt werden, weil bei solchen Schätzungen meistens völkisch und nationalistisch gleichgesetzt wird.15
Nach Kriegsende ist es vor allem der Deutschbund, von dem weitere Initiativen ausgehen. Wohl um 1919 erscheint eine nicht datierte, von den Deutschbund-Gemeinden Bismarckland und Breisgau unterzeichnete „Denkschrift über die Entfachung einer umfassenden Deutschbewegung unter der Jugend“, die zur Gründung einer an den Deutschbund angelehnten und doch hinreichend selbständigen Jugendgemeinschaft aufruft, die die Bezeichnung „Adler“ tragen soll, in Anknüpfung an den alten Göttervogel der Arier und das Sinnbild des Evangelisten Johannes. In diese Gemeinschaft soll „weder jüdisches noch farbiges Blut, auch nicht in Mischungen“, Eingang finden; ihre Mitglieder sollen Rauch- und Rauschgifte meiden und sich der Aufgabe verschreiben, der Deutschbewegung jene „seelisch und geistig wertvolle Jugend“ zu gewinnen, „die wir sonst den ‚entschiedenen Schulreformern‘ sozialistischer und kommunistischer Prägung überließen.“ Der Leiter des Bundes solle vom Bundeswart des Deutschbundes ernannt werden und dafür sorgen, „daß Ziel und Lebensstimmung des Adlers nicht vom reinen Deutschtum abirren.“ Ähnliches solle für einen noch zu schaffenden Älterenbund gelten, der unter dem Namen „Falken“ alle Adler vereinen solle, die das 18. Lebensjahr überschritten haben.16
Im Februar 1920 läßt der Verfasser dieser Denkschrift, der bei Freiburg ansässige und seit Ende 1913 dem Deutschbund angehörende Schriftsteller Wilhelm Kotzde, den Worten Taten folgen und gründet auf einer Schwarzwaldhöhe bei Kirchzarten mit einer zunächst noch kleinen Schar von Jungen und Mädchen den angekündigten Bund.17 Ein anonymer Beobachter, der im August 1921 an einer Tagung dieses Bundes teilnimmt, notiert: „Die Bewegung ist von Kotzde mit Unterstützung des Deutschbundes vom Schreibtisch aus ins Leben gerufen worden. Nach seiner eigenen Angabe sandte er im ersten Jahr 3000 Briefe hinaus. Der Erfolg äusserte sich schnell […] Dazu waren die Kinder der Deutschbundbrüder so ziemlich zwangsweise geführt wurde, so dass rein zahlenmässig der Bund sehr groß war.“18 Da Kotzde gleichzeitig im Rahmen des vom Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes organisierten „Deutschen Tages“ das Amt eines Obmanns für Deutsche Jugendbewegung innehat, sieht der Hamburger Polizeipräsident im Juli 1922 hinreichende Verdachtsmomente gegeben, um die Adler und Falken als Unterstützungsverein des verbotenen DSTB aufzulösen. Für den Reichskommissar für Überwachung der öffentlichen Ordnung steht zu dieser Zeit fest, „dass zwischen dem deutsch-völkischen Schutz- und Trutzbunde und überhaupt der deutschvölkischen Bewegung, und dem Bunde ‚Adler und Falken‘ die engsten Beziehungen bestehen.“19 Das ist zwar nicht ganz korrekt, da die Adler und Falken im August 1921 für einige Jahre die Beziehungen zum Deutschbund abbrechen, trifft aber trotzdem ins Schwarze, weil die zugrundeliegenden Differenzen nur strategischer, nicht grundsätzlicher Art sind. Schon 1926 versöhnt man sich wieder.20
Es gibt also durchaus Interferenzen zwischen den Völkischen und einem Teil der Jugendbewegung. Versucht man freilich, diese inhaltlich zu bestimmen, stößt man auf erhebliche Schwierigkeiten. Als erstes ist festzuhalten, daß nicht überall dort, wo die Vokabel „völkisch“ als Selbstbeschreibung akzeptiert wird, auch eine Übernahme des entsprechenden Gesinnungskerns vorliegen muß. So kann der George-Anhänger Ernst Kantorowicz 1919 in der Zeitschrift der Freideutschen Jugend die Ansicht vertreten, die völkische Orientierung habe nichts mit Politik zu tun und sei strikt von allem Nationalismus zu scheiden.21 Ein republikanischdemokratischer Freideutscher wie Walter Hammer schickt seinem Hochruf auf Schwarz-Rot-Gold die Aufforderung voran, es sei „im wahrsten Sinne des Wortes völkische Pflicht auch der Jugend, an den Angelegenheiten des Staates herzlichen Anteil zu nehmen.“22 Der Kronacher Bund setzt sich im Rahmen seiner Grenzlandsarbeit explizit die „Pflege eines volkhaften Zusammenhanges“ zur Aufgabe, den er in ethnischem Sinne versteht, lehnt es aber entschieden ab, Juden aus dem Bund auszuschließen. Eine Verpflichtung des Bundes auf genau umschriebene politische oder weltanschauliche Normen gar wird für undenkbar erklärt.23 Der Deutsche Mädchen Wanderbund, das weibliche Pendant der Fahrenden Gesellen, zerbricht Anfang der 20er Jahre an dem anhaltenden Streit über die Frage, ob der Begriff völkisch im antisemitischen Sinne auszulegen sei.24 Der Leiter des Jungnationalen Bundes, Heinz Dähnhardt, will 1922 „neue Formen und Gesetze unseres völkischen Lebens“ entwickeln, zieht für deren Realisierung aber die Volkskonservative Vereinigung den völkischen Parteien und Verbänden vor.25 Als weiteres Beispiel für die sehr unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten, die die „völkische Idee“, besser gesagt: der ethnische Nationsgedanke, in der Jugendbewegung erfährt, mag die Neugründung des Jungdeutschen Bundes im August 1919 durch Frank Glatzel dienen, die das Bekenntnis zum Aufbau eines Deutschen Reiches als „Grundlage und Gestalt völkischen Lebens“ mit der klaren Abgrenzung von der deutschgläubigen Richtung Otger Gräffs und Ernst Hunkels verbindet. Einige Jahre später vollzieht Glatzel den Schnitt zur politischen Rechten, um sich der DVP anzuschließen, für die er 1930 als Abgeordneter in den Reichstag einrückt.26
Auch dort jedoch, wo der Gesinnungskern unzweideutig vorhanden ist, bleibt das ideologische Profil häufig so unscharf, daß es schwerfällt, über den Rechtsnationalismus hinaus Momente auszumachen, die für eine Qualifizierung desselben als völkisch nötig sind. So beschwört Wilhelm Kotzde, der „Bundesvater“ der Adler und Falken, in seinen zahlreichen Reden und Aufsätzen zwar immer wieder „die göttliche Sendung des deutschen Volkstums“ und läßt nicht im Zweifel, daß er „die Deutschen für das auserwählte Volk Gottes“, ja das „Welterlösungsvolk“ hält, die einzigen Erben, „an denen die Zukunft der Lichtsendung des nordischen Menschen hängt“.27 Die Konkretisierung dieser Sendung für die Gegenwart geht jedoch selten über den Wunsch nach einem Helden hinaus, der „Parzival, Faust und Bismarck in eins wäre“.28 Noch mit die genaueste Handlungsanweisung besteht in der Empfehlung, endlich auf die „Priester des deutschen Volkes“ zu hören, die heute die Künstler seien, womit die mangelnde Nachfrage nach seinen, Kotzdes Büchern, zum Sakrileg und die unzureichende Werbung in völkischen Buchhandlungen zum Anschlag auf die Bewegung gestempelt ist.29 Blättert man das Schrifttum des Bundes durch, vor allem die abwechselnd erscheinenden Hefte Der Adler und Der Falke, so gewinnt man allerdings den Eindruck, daß die meisten Mitglieder es wohl auch gar nicht sehr viel genauer wissen wollen. Im Mittelpunkt stehen hier die Berichte von Wanderungen und Fahrten, von Bundestagen und Führertreffen, die sich nur wenig von der Eigenliteratur der nicht explizit politisch ausgerichteten Bünde unterscheiden. „Völkisch“, das heißt oft nicht viel mehr als Aneignung der Nationalkultur, „völkische Arbeit“ etwas ähnliches wie das, was eine spätere Jugendbewegung als „Basisarbeit“ bezeichnen wird.30
Trotz dieses wenig ausgearbeiteten ideologischen Profils gibt es genügend Hinweise auf die Motive, die Adler und Falken sowie die ihnen nahestehenden Bünde dazu veranlassen, sich als Teil der völkischen Bewegung zu verstehen. Dazu gehören: die Attacken auf die Großstadt und die dem großstädtischen Leben zugeschriebenen pathologischen Erscheinungen wie Zivilisationskrankheiten, Alkohol- und Nikotinmißbrauch, ungesunde Ernährung und Lebensführung31; die Empörung über die „Entgleisungen des Expressionismus, Futurismus, Kubismus und anderer fremd-völkischer Strömungen“32; die Wut über das Kino und das zeitgenössische Theater, das „heute zumeist eine Stätte des Schmutzes (sei), an der die Triebe niederer Rassen sich ausrasen dürfen“33; die Klagen über das „Autorasen und Motorengeknatter“ unserer Tage34; und dagegen dann das Kontrastbild einer harmonischen, in sich geschlossenen Volkskultur, die sich unmittelbar der Natur, der Herkunft der Deutschen aus dem Wald verdanken soll.35 Gleichwohl: bei allem laus temporis acti weiß man doch nur zu gut, daß sich die Höhepunkte deutscher Kultur in der Stadt entfaltet haben, und daß sich erst recht die Wiedergewinnung einer Machtstellung Deutschlands nur mit der modernen Technik, nicht ohne oder gar gegen sie, erreichen läßt. Denjenigen Wandervögeln, die die Technik als etwas Grausames und Zerrüttendes verfluchen, hält Kotzde entgegen, daß ihre jetzige äußere Erscheinung nur ein Übergang sei, dem man mit der beim Wandern, im Wald, erworbenen seelischen Kraft begegnen könne.
„Ohne Technik würde Deutschland zu Grunde gehen; denn der Vernichtungswille der anderen Völker ist da. Ohne Technik würden wir der Entwicklung der Zeit hilflos gegenüberstehen. Die Bevölkerung der Erde nimmt zu, der einzelne Mensch, das einzelne Volk wird von Jahr zu Jahr über einen geringern Raum verfügen; ohne Technik müßten wir darauf ersticken. Die Großstädte sind da und nicht von der Erde zu tilgen; die Technik muß uns dienen, daß das Leben in ihnen einmal ertragbar wird für Menschen, die Seele haben. Karl Schmidt hat davon gesprochen, daß die heutigen Großstädte die Form noch nicht haben, die gemeisterte Form. Sie sind unversehens entstanden, unter den Händen von Menschen, die nicht Wandervögel waren, das heißt die tieferen Zusammenhänge deutschen Menschseins verloren hatten. Es wird ein neues Geschlecht kommen, das um diese Zusammenhänge weiß, es wird auch die Großstädte meistern; aber es bedarf dazu der Technik. Heute pfuscht man, wenn man Flüsse reguliert, Kraftwerke anlegt, Städte baut. Wenn das kommende Geschlecht wieder ein waldgeborenes sein und zugleich alle Gegebenheiten der Technik beherrscht, wird man nicht mehr pfuschen.“36
Stellt man Äußerungen wie diese neben das Bekenntnis zum ‚nordischen Rassengedanken‘, das die Publizistik der Adler und Falken von Anfang an durchzieht37, könnte man sogar versucht sein, den Schwerpunkt eher beim Neo- beziehungsweise Rassenaristokratismus zu vermuten als beim völkischen Nationalismus; und in der Tat könnten viele Äußerungen genau so bei Hans F. K. Günther oder Ludwig Ferdinand Clauß stehen, die im übrigen auch in den Zeitschriften der Adler und Falken ausgiebig zu Wort kommen.38 So wird ganz in der Manier Günthers das nordische Blut zur einzigen Quelle von Heldentum und Schöpferkraft erklärt und der kulturelle Niedergang aus einer relativen Abnahme des nordischen Blutsanteils im Verhältnis zum ostischen abgeleitet, wie auch die Gegenstrategie – die Verlagerung überschüssiger Großstadtpopulationen auf das Land – mit diesem Argument begründet wird.39 1925 richten die Adler und Falken ein Amt für Rassenkunde und Vorgeschichte ein, das zunächst unter der Leitung von Ernst Pallme-König steht, anschließend unter derjenigen von Kurt Holler, der zur gleichen Zeit Mitglied des Nordischen Rings und Schriftleiter der Nordischen Blätter ist.40 Als in der Zeitschrift Die Sonne eine heftige Attacke gegen den „Rassenpessimismus“ der Nordizisten erscheint, stellt sich Kotzde vor die Angegriffenen und erklärt: „Das Werk Günthers ist von überragender Bedeutung. Nehmen wir es als Grundlage, die jeder, aber auch jeder sich erwerben muß, der in die Reihen der völkischen Bewegung treten will.“41 Ein Jahr später engagiert er sich im Beirat des vom J. F. Lehmanns Verlag ins Leben gerufenen Werkbundes für deutsche Volkstums- und Rassenforschung, zusammen mit Eugen Fischer, dem Mitautor des verbreiteten Standardwerks Menschliche Auslese und Rassenhygiene (1921), und Hans F. K. Günther, dem Verfasser der Rassenkunde des deutschen Volkes (1922). Der Gründungsaufruf wird in voller Länge im Adler abgedruckt.42
Das Gewicht, das dem Faktor Rasse zugeschrieben wird, ist dennoch geringer als im Rassenaristokratismus. Dem nordischen Blut werden nicht nur positive, sondern auch negative Eigenschaften attestiert, wie etwa die fatale Neigung zu Streit und Dissoziation. Die Germanen, meint Kotzde, seien das Volk des Brudermords, das sich ohne entgegenwirkende Kräfte so zerfleischt hätte, daß es aus der Weltgeschichte ausgeschieden wäre.43 Zu diesen entgegenwirkenden Kräften zählt Kotzde die Religion, in diesem Fall: das Christentum, aber auch die Nationalkultur, allgemeiner: die Kräfte des Geistes und der Seele, die wohl biologisch bedingt seien, in dieser Bedingtheit aber nicht aufgingen. Davon abgesehen stellt sich die Lage für Kotzde deutlich undramatischer dar als für Günther und Clauß, ist für ihn doch ausgemacht, daß „trotz aller Mischung unser Blut (noch) überwiegend nordisch“ ist und gewissermaßen nur der Aktivierung bedarf, um seine volksverbindenden und Brüderlichkeit stiftenden Eigenschaften zu entfalten.44 Der Auffassung, die deutsche Arbeiterschaft sei während der Revolution vor allem deswegen fremden, das heißt jüdisch-sozialistischen Führern gefolgt, weil sie nicht überwiegend nordischen Blutes sei, hält er entgegen: „Nein und dreimal nein! Der deutsche Arbeiter ist vorwiegend nordischen Blutes, so gut wie irgend ein anderer Stand […] Der Arbeiter ist nicht anderen Blutes als die geistigen oder die besitzenden Schichten unseres Volkes.“ Die „Kernfrage aller völkischen Arbeit“ ist von hier aus gesehen nicht auf dem Wege der Exklusion zu lösen, wie die Rassenaristokraten meinen, sondern auf dem Wege der Inklusion, indem die „Geistigen und Besitzenden“ sich nicht in ihrem Kastengeist verbeißen, sondern „ihr ganzes Denken und Handeln auf den Gedanken der Volksgemeinschaft“ einstellen. Das sei bei den Adlern und Falken bereits erreicht, weshalb man sie mit Recht „völkisch“ nennen dürfe.45 „Wer das vermag, der erbringt damit den Beweis dafür, daß das nordische Blut in ihm bestimmend ist, und sei er körperlich nach einer anderen Rasse hin ausgeschlagen.“46 Man sieht: Rasse ist aus dieser Sicht eine Sache der Einstellung, die sich im völkischen Nationalismus manifestiert, keine von der Einheit Volk irgendwie zu unterscheidende Größe. Rassenzüchterische Ideen der „Aufnordung“ spielen denn auch eine weit geringere Rolle als Fragen der seelischen Aufforstung: der Wiedergewinnung der ursprünglichen Waldseele des deutschen Volkes. Als Kotzde seine Anhängerschaft 1927 auf die Lösung der drei großen Fragen der Gegenwart verpflichtet, spricht er nur von der kulturellen, der sozialen und der Siedlungsfrage. Die Rassenfrage dagegen, die den Rassisten so zentral ist, wird nicht einmal erwähnt.47
Im Kern ähnlich verhält es sich mit der Vorstellungswelt der übrigen völkischen Jugendbünde, die sich ab 1926 um die von Kotzde in Verbindung mit Gerhard Roßbach gegründete Zeitschrift Die Kommenden scharen48: u. a. dem Deutschwandervogel, dem Bayreuther Bund der deutschen Jugend, dem Ludendorff nahestehenden Deutschvölkischen Jugendbund Graf Yorck von Wartenburg oder den Geusen. Jungvölkischer Bund e. V., die sich schon 1926 für die NSDAP erklären.49 Sie alle näher vorzustellen, würde viel Raum kosten und doch keine wesentlich neuen Erkenntnisse bringen. Es mag deshalb genügen, den Abschnitt mit einem Blick auf die paradoxe Sonderbildung eines Bundes mit überbündischem Charakter abzurunden, der seine Anhänger aus vielen völkischen Bünden rekrutiert, ohne zugleich von ihnen die Aufgabe ihrer primären Mitgliedschaft zu verlangen50 – den Bund der Artamanen. Dieser Bund entsteht als leicht zeitverzögerte Reaktion auf einen Aufruf, den Willibald Hentschel, der langjährige Weggefährte Theodor Fritschs und somit wichtiges Bindeglied zur völkischen Bewegung des Kaiserreichs, 1923 in der Zeitschrift der Deutschen Bauern-Hochschule ergehen läßt.51 Um den Wiederaufbau der durch den Krieg zerrütteten Volkswirtschaft in Gang zu setzen, gilt es nach Hentschel, mit der Landwirtschaft zu beginnen und vor allem deren Kern, die großen ostelbischen Güter, aus der Abhängigkeit von ausländischen Arbeitskräften zu befreien. Aus den Kreisen der ‚ehrliebenden Jugend‘ soll sich zunächst eine einzelne, freiwillige Werkgemeinschaft, „Artam“ genannt52, bilden, die unter der Leitung eines erfahrenen Obmannes alle laufenden landwirtschaftlichen und technischen Arbeiten auf einem Rittergut übernehmen soll. Im Falle des Erfolges würden weitere Werkgemeinschaften diesem Vorbild folgen und so nach und nach die polnischen Saisonarbeiter überflüssig machen.
Wirkung entfaltet dieser Aufruf freilich erst ein halbes Jahr später, als Wilhelm Kotzde und Bruno Tanzmann, der Leiter der Dresdner Bauernhochschule, ihre Anhängerschaft auffordern, in diesem Sinne aktiv zu werden.53 Im April 1924 kommt auf einem Rittergut in Sachsen die erste Artamanenschaft unter der Leitung des Siebenbürgener Jungbauern August G. Kenstler zum Einsatz; ihr folgen weitere Gruppen, so daß 1926 circa 650 Artamanen auf 65 Gütern und Höfen tätig sind. Ihren Höhepunkt erreicht die Bewegung drei Jahre später, als 2000 – 2300 Artamanen auf 270 – 300 Gütern arbeiten.54 Nach einer Statistik, die Fritz Hugo Hoffmann 1931 veröffentlicht, gehört knapp die Hälfte kaufmännischen Berufen an; der Rest verteilt sich auf andere Gruppen der unteren städtischen Mittelschichten, allen voran aus der Handwerkerschaft. Nur 12 % haben einen landwirtschaftlichen Hintergrund, und nur 2 % kommen aus der Studentenschaft.55 Die Gesamtzahl derjenigen, die sich zwischen 1924 und 1935, dem Datum der endgültigen Auflösung des Bundes, an einer Artamanengruppe beteiligen, beläuft sich nach eigenen Angaben auf 25 – 30 000 Personen, tatsächlich wohl aber auf deutlich weniger, da während des Schismas (1929 – 1933) die Mitgliederzahl auf wenige Hundert zurückgeht.56
Ursache des Schismas sind zum einen persönliche Konflikte innerhalb des engeren Führungszirkels, die die Geschichte der Artamanen von Anfang an überschatten.57 Zum andern sachliche Gründe wie der Konflikt um die Finanzierung der aufwendigen Bundesgeschäftsstelle sowie insbesondere der wachsende Dissens über den Platz, der dem Siedlungsgedanken in der Prioritätenskala zuzuweisen ist. Während eine Gruppe um den von 1927 bis 1929 als Bundesführer amtierenden Fritz Hugo Hoffmann (1891 – 1965), im Einklang mit den ursprünglichen Vorstellungen der Gründerväter Kotzde und Tanzmann, dafür eintritt, bewährten Artamanen die Möglichkeit (und das heißt auch: die erforderlichen Sachmittel) zur Ansiedlung zur Verfügung zu stellen, und sei es vorläufig nur zur sogenannten ‚Halbsiedlung‘58, rückt die im Februar 1929 gewählte neue Bundesführung um Wilhelm Rödiger hiervon ab. Siedlung, so erklärt sie, sei „nur zu erreichen nach dem Zusammenbruch des liberalen und marxistischen Staats- und Wirtschaftssystems“, weshalb es vordringlich darauf ankomme, „die gesamte deutsche Jugend zu einer Arbeitsgemeinschaft für die Erhaltung und Eroberung des Ostens zusammenzufassen“ – wobei mit Osten durchaus nicht nur der deutsche Osten gemeint ist.59 Der Konflikt hat zugleich einen parteipolitischen Hintergrund: die neue Bundesführung tendiert zur NSDAP, während Fritz Hugo Hoffmann sich nach der Spaltung Ludendorff anschließt.60
Der Dissens erweist sich bald als unüberbrückbar, geht es dabei doch nicht zuletzt auch um die Frage, zu welchen Zwecken die finanziellen Ressourcen des Bundes eingesetzt werden sollen. Auf dem Reichsthing im Dezember 1929 kommt es zum offenen Schlagabtausch zwischen beiden Gruppen. Die Mehrheit um die Bundesführung schließt die Minderheit aus, die sich daraufhin als eigener Bund mit Fritz Hugo Hoffmann als Bundesführer konstituiert (‚Die Artamanen. Bündische Gemeinden für Landarbeit und Siedlung‘). Der Niedergang der Bewegung ist damit nur noch eine Frage der Zeit. Schon im Juli 1931 muß der alte Bund Artam e. V. Konkurs anmelden und existiert danach nur noch in Gestalt einiger kleinerer Nachfolgeorganisationen; die Hoffmann-Gruppe hält sich etwas besser, zählt aber 1932 auch nur noch etwa hundert Mitglieder, die sich im Sommer 1934 mit dem alten Bund zu einem neuen Bund Artam e. V. zusammentun.61 Hoffmann selbst ist nicht mehr dabei, sondern leitet die Jugendorganisation der Ludendorff-Bewegung.62 Das faktische Ende der Artamanen kommt im September 1934 mit der Eingliederung in den Reichsnährstand Richard Walther Darrés, der übrigens selbst eine Zeitlang dem Bundschuh, einer Nebenorganisation der Artamanen, angehört hat.63
Die Zuordnung der Artamanen zum völkischen Spektrum ist in der Literatur nicht umstritten. Sie wird aber meist mit Argumenten begründet, die im Rahmen der hier zugrundegelegten Typologie entweder für den Fundamentalismus oder für den Neo- beziehungsweise Rassenaristokratismus charakteristisch sind. Weder das eine noch das andere trifft zu. Die Forderung nach Siedlung, nach Rückkehr aufs Land steht nicht für eine fundamentalistische Ablehnung der Moderne, sondern für die Sicherstellung einer ausreichenden landwirtschaftlichen Basis für Deutschland, was nach der Ernährungskrise des Ersten Weltkriegs durchaus nachvollziehbar ist. Der industrielle und technische Apparat soll dabei erhalten bleiben, da man sich über seine Unentbehrlichkeit gerade für eine effiziente Agrarwirtschaft durchaus im klaren ist. So setzt sich Fritz Hugo Hoffmann für die Schaffung eines neuen Typus ein: des „Wertarbeiter(s) auf dem Lande […], der auf die Dinge der neuen Landarbeitslehre schneller eingeht, mit Maschinen besser umzugehen weiß“64; Bruno Tanzmann plädiert gar für ein umfassendes Intensivierungsprogramm, das die Rentabilität der Landwirtschaft durch gemeinwirtschaftlich oder staatlich organisierte „technische Bewässerung, Berieselung und Beregnung aller Anbauflächen“ steigern soll. „Wenn einmal die verderblichen Trockenperioden in deutschen Landen ausgeschaltet sind, wenn in einem Riesennetz von Beregnungsanlagen die deutschen Ströme und Seen über die deutschen Gaue wandern, dann wird Deutschland zum fruchtbarsten Land der Erde.“ Zugleich werde auf diese Weise „ein ungeheurer, einträglicher und hochverzinslicher Arbeitsmarkt im eigenen Lande entdeckt“, werde es Aufträge regnen für die Industrie, insbesondere für „Fabriken, die Dampfmaschinen, Bagger, Eisenbahnen, Dampfpflüge, landwirtschaftliche Maschinen, Beregnungsanlagen, Baustoffe, Düngemittel u. a. herstellen.“65 Ebensowenig geht es um die Schaffung einer neuen, rassisch bedingten Ständehierarchie, sondern um die Begründung einer kleinbäuerlich geprägten Ordnung, die zugleich eine neue Leistungselite hervorbringen soll. Dazu werden gewiß Topoi der neueren Rassenlehren herangezogen, doch erfolgt deren Rezeption mit so vielen Vorbehalten, daß von Seiten der Nordischen Bewegung Zweifel an der Verankerung des Rassenaristokratismus bei den Artamanen geäußert werden.66 Mit der Kategorie des völkischen Nationalismus wird dieser doppelten Distanz gegenüber den gedanklich konsequenteren Positionen Rechnung getragen.