Mein Vater konnte die lustigste und warmherzigste Person der Welt sein. Er wartete oft mit Blumen vor dem Eingangstor der Fabrik auf Smilja, erzählte unaufhörlich Witze, begehrte sie, führte sie zum Essen aus, tanzte mir ihr, ging mit ihr ins Kino. Sie sahen sich den neuesten James Bond mit Roger Moore an, Komödien, Actionthriller und Western und natürlich alle Filme mit Marlon Brando. Emir liebte Marlon Brando. Manchmal, wenn er sich über jemanden aufregte, plusterte er sich langsam auf, wackelte mit dem Kopf und sagte mit tiefer sonorer Stimme und herabhängenden Mundwinkeln: »Ich mache ihm ein Angebot, das er nicht ablehnen kann.«
Emir befreite meine Mutter aus ihrer kleinen Schokoladenfabrikwelt, er hatte viele Freunde, war spontan, leidenschaftlich und weltgewandt. Im Sommer, als sie schon mit mir schwanger war, versuchte er, ihr im Freibad das Schwimmen beizubringen. Es würde ihr und dem Baby guttun. Er zog ihr orangefarbene Schwimmflügel an, trat einen Schritt zurück und sah sie an. »Sogar mit deinem Bauch und diesen hässlichen Schwimmflügeln bist du die schönste Frau der Welt.«
Smilja wusste, dass sie lächerlich aussah, sie stellte sich ungeschickt an, hatte Angst. Doch Emir blieb geduldig, hob sie sanft durch das Wasser, küsste sie und wiederholte immer wieder, wie sehr er sie liebte.
Aber das war nur eine Seite an ihm. Smilja fragte nicht, woher er all das Geld hatte. Sie verschloss die Augen. Oft kam Emir erst im Morgengrauen, wenn sie zur Arbeit aufbrach, von seinen Sauftouren zurück. Er stank nach fremdem Parfum, nach Zigarettenqualm und Alkohol. Er schlief den ganzen Tag, war verkatert, schrie sie an, verließ abends wortlos die Wohnung. Dann wieder tat ihm alles leid. Er erzählte ihr oft von seiner schlimmen Kindheit, dass sein Vater ihn mit dem Gürtel verprügelt hatte. Smilja erkannte seinen tiefen Schmerz und wollte ihn — wie einst ihren Vater — als Märchenfee mit ihrer Liebe retten.
Zugleich ergriff sie Panik: Was sollte sie mit mir nach ihrem sechswöchigen Mutterschutz machen? Sie musste zurück in die Fabrik. Emir würde kaum das Baby wickeln und ihm die Flasche geben, er wachte nach seinen Sauftouren nicht einmal auf, wenn es schrie. Er hatte ihr zwar einen Antrag gemacht und sie auf dem Würzburger Standesamt geheiratet, aber wirklich zählen konnte sie nicht auf ihn.
Smilja hörte sich bei ihren Kolleginnen in der Schokoladenfabrik um. Diejenigen, die das Glück hatten, mit einem Mann verheiratet zu sein, der genügend verdiente, arbeiteten nur noch halbtags oder kündigten, sobald sie schwanger wurden. Für die anderen Frauen, die als Gastarbeiterinnen angeworben worden waren, war es weitaus komplizierter: Manche hatten ihre Kinder zu den Großeltern in die Heimatländer gebracht, andere hatten sie in ein Heim abgegeben. Kindergärten gab es nahezu keine in Würzburg. Fast alle Frauen waren auf die Unterstützung ihrer Freunde, der Nachbarn oder der Familie angewiesen.
Eines Morgens lehnte meine Mutter in der Pause am Kaffeeautomaten und sah zu, wie zuerst die dunkelbraune, dann die weiße Flüssigkeit in den Plastikbecher triefte. Den Kopf an den summenden Automaten gepresst, das mochte sie, es war wie eine kleine Massage.
»Hallo Smilja, wie geht es dir?« Ayşe, eine junge Kollegin, legte ihr mit einem breiten Lachen die Hand auf den Rücken. »Alles in Ordnung?«
Ayşe hatte schwarz gelockte Haare, war klein, ein wenig mollig, fröhlich und voll übersprudelnder Lebensenergie. Smilja mochte sie sehr.
»Ja, ja, Ayşe, danke. Geht gut. Bin nur manchmal etwas müde.«
Meine Mutter hielt sich den Bauch.
»Du, Smilja, ich habe gehört, dass du dir Sorgen wegen dem Baby machst. Ich kann mir vorstellen, wie es dir geht. Genau sogar. Weißt du, mein Mann ist abgehauen. Es ist alles nicht leicht. Aber wenn du magst, kann ich dir helfen.«
»Ach ja? Wie denn?«
»Na ja, ich habe für meine kleine Dilek eine Pflegefamilie gefunden. Die wohnen in einem schönen kleinen Dorf. Ist nicht weit von Würzburg. Wenn ich arbeite, ist Dilek bei dieser Familie. Aber am Wochenende hole ich sie zu mir nach Würzburg. Verstehst du, du gibst dein Kind nicht weg, es bleibt immer noch deins. Aber unter der Woche kannst du arbeiten. Bei solchen Männern müssen wir sehen, wie wir uns helfen, verstehst du, Smilja?«
»Du hast ja recht.« Mutter dachte an Emir, der im Morgengrauen noch nicht wieder nach Hause gekommen war, an seinen Wutausbruch zwei Tage zuvor, als er sie lallend beschimpft hatte.
»Wenn du willst, kann ich sie fragen, ob sie noch Platz für ein anderes Kind haben. Soll ich?«
»Ja, frag doch mal. Danke, Ayşe, danke!«
Meine Mutter legte Ayşe die Hand auf den Arm und ging mit schweren Schritten zurück an ihren Arbeitsplatz.
Ein paar Wochen später fuhr Ayşe mit meiner Mutter und Dilek an einem nebelverhangenen Sonntagnachmittag nach Gerchsheim zur Familie Behrens. Mit ihrem Käfer brauchte man nur zwanzig Minuten. Ayşe hatte ihr angeboten, sie jeden Freitag und Sonntag mitzunehmen, da Smilja weder Führerschein noch Auto besaß.
»Dann bin ich wenigstens nicht mehr so allein. Und das Benzingeld könnten wir uns auch teilen. Oder wir gehen mal zusammen was trinken. Hm, wir beide? Das wär doch was.« Ayşe lächelte meine Mutter an, die schweigend in den Nebel starrte.
Smilja hatte für alle Kuchen gebacken. Frau Behrens, eine groß gewachsene Dame mit blonden Haaren, die vom Alter her ihre Mutter hätte sein können, öffnete die Tür. Sie trug eine hübsche weiße Bluse und nahm den Kuchen entgegen.
»Ach, Frau Grabovac, das wäre doch nicht nötig gewesen. Kommen Sie. Setzen Sie sich ins Wohnzimmer. Ich hole uns noch schnell einen Kaffee.«
Zusammen mit Ayşe setzte Smilja sich auf einen der tiefen Sessel im Wohnzimmer. Die Freundin klopfte ihr aufmunternd auf die zittrigen Beine und sagte leise: »Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut.«
Smilja war beeindruckt von den fein gepolsterten Möbeln, der vergoldeten Wanduhr, den vielen Blumen auf den Fensterbänken und dem großen Bücherregal im Wohnzimmer. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch kein einziges Buch besessen, geschweige denn gelesen. Das sind gebildete Leute, dachte sie. Dilek spielte im Nebenzimmer mit ein paar anderen Kindern in einem riesigen Laufstall. Das Haus schien sehr groß und ordentlich zu sein.
Frau Behrens brachte das Kuchengedeck aus der angrenzenden Küche, setzte sich in einen großen hellbraunen Polstersessel, schenkte den Kaffee in gemusterte Porzellantassen ein und beugte sich vor. »Erzählen Sie doch ein wenig von sich. Woher kommen Sie, seit wann sind Sie in Deutschland?«
Während sie den Kuchen aßen, erzählte Smilja von Maovice, Zagreb und der Schokoladenfabrik. Frau Behrens hörte ihr aufmerksam zu, lächelte einfühlsam und sagte immer wieder: »Sie haben es nicht einfach gehabt in Ihrem Leben. Wir Frauen müssen stark sein und zusammenhalten.«
Danach erhob sich Ayşe, um noch ein wenig mit Dilek zu spielen. Frau Behrens lobte den Kuchen, zündete sich eine ihrer langen dunklen Zigaretten an und wandte sich an Smilja: »Dann möchte ich mich jetzt gerne bei Ihnen vorstellen, Frau Grabovac. Sie sollen doch wissen, mit wem sie es zu tun haben. Ich bin mittlerweile achtundvierzig Jahre alt. Mein Mann ist vier Jahre älter als ich und arbeitet als Journalist für eine Motorradzeitschrift. Sie werden ihn später noch kennenlernen. Er sitzt gerade unten in seinem Büro und muss noch einen Artikel fertig schreiben. Wir haben uns 1943 in Düsseldorf kennengelernt, sind seit siebenundzwanzig Jahren verheiratet und haben insgesamt sieben eigene Kinder.«
»Hu.« Smilja hob die Augenbrauen. »Wir waren nur zu fünft in Jugoslawien. Sie haben eine sehr große Familie.«
»Zweifellos stimmt Ihre Schlussfolgerung.« Frau Behrens lächelte amüsiert. »Mein Mann und ich lieben nun einmal Kinder. Wie dem auch sei, am Ende sind es, wie bereits erwähnt, sieben geworden. Bert und Hatto, unsere zwei Ältesten, leben bereits außer Haus. Auch die Petra, unsere älteste Tochter, ist kürzlich ausgezogen. Hier bei uns sind noch Frauke, Maxi, Heike und Volker, das Nesthäkchen der Familie.«
In diesem Augenblick betrat ein kleiner Junge, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, das Wohnzimmer. »Mami, darf ich noch kurz rüber zu Paul spielen gehen?«
»Wenn man vom Teufel spricht.« Frau Behrens strich dem Jungen liebevoll über das blonde Haar. »Das ist Volker, unser Jüngster. Volker, sagst du bitte Frau Grabovac guten Tag.« Volker drehte sich zu Smilja um, gab ihr wohlerzogen die Hand und sagte: »Guten Tag, Frau Grabovac.«
Frau Behrens schaute auf die Uhr. »Na gut. Aber um halb sechs bist du wieder zu Hause.«
»Mach ich.« Und schon war Volker wieder verschwunden.
»So, wo war ich stehen geblieben? Ja, also wir haben sieben eigene Kinder. Vor zwei Jahren haben wir uns dazu entschlossen, Pflegekinder aufzunehmen. Ich habe die kleinen Kinder um mich herum vermisst. Außerdem wollte ich Frauen wie Ihnen, die es nicht einfach bei uns haben, auch ein wenig helfen.«
Mit der linken Hand fuhr sich Frau Behrens durch ihre vollen, leicht welligen blonden Haare. »Momentan sind vier Gastarbeiterkinder bei uns in Pflege. Sie heißen Bojan, Dilek, Fatima und Jannis. Sie sehen ja da drüben den Laufstall. Wie klein und süß sie alle noch sind. Aber Frau Grabovac, eines möchte ich gleich zu Beginn klarstellen: Sobald eines der Kinder ins Schulalter kommt, müssen sie uns verlassen. Ich bin ja auch nicht mehr die Jüngste, wie Sie sehen, und möchte nicht noch einmal ein Kind durch die Schule bringen müssen. Zumal ich selbst noch eigene Schulkinder habe. Sind Sie mit dieser Bedingung einverstanden?«
»Ja, natürlich«, antwortete Smilja verschreckt. So weit in die Zukunft konnte sie gar nicht denken. Das hier sollte doch nur eine Übergangslösung sein.
»Gut«, fuhr Frau Behrens fort. »Kinder also nur bis zum Schuleintritt. Alle Kinder nennen uns beim Vornamen. Für die Kleinen bin ich also die Marianne und mein Mann der Robert. Sie und Ihr Mann bleiben selbstverständlich die Mami und der Papi. Die Pflegekinder bekommen morgens, mittags und abends ausreichend zu essen. Sie sind niemals unbeaufsichtigt. Entweder passe ich auf sie auf oder eines meiner älteren Kinder. Ich kann Ihnen versichern, es wird Ihrem Kind hier an nichts fehlen. Montags und freitags unterstützt mich zudem Frau Stiefelbauer, unsere Putzfrau, für ein paar Stunden bei der Hausarbeit.«
Frau Behrens blickte auf Smiljas Bauch. »Wann ist es denn so weit bei Ihnen?«
»Der Geburtstermin ist der 30. Dezember.«
»Und wissen Sie denn schon, was es wird?«
»Nein. Ja. Also ich weiß es nicht sicher, aber ich fühle, dass es ein Junge wird.«
»So, so, Sie fühlen also, dass es ein Junge wird.« Frau Behrens runzelte die Stirn. »Ist ja auch egal, was es wird. Hauptsache gesund, nicht wahr.«
»Da haben Sie recht.« Smilja lächelte schüchtern.
»Ihrem Kind wird es jedenfalls hier an nichts fehlen, falls Sie sich dazu entschließen sollten, es zu uns in Pflege zu geben. Jetzt noch ein wenig zu den Formalitäten und den Abläufen. Sie zahlen für Essen, Windeln, Trinken und alles andere eine Pauschale von hundertsiebzig Mark pro Monat. Die Anziehsachen müssen Sie allerdings selbst kaufen. Waschen tun wir. Das Kind ist jedes Wochenende bei Ihnen. Sie müssen es am Freitag bis spätestens 18.30 Uhr hier abgeholt und am Sonntag zwischen 14 und 16 Uhr wieder hergebracht haben. Sie können, falls Sie mit uns unzufrieden sind oder Ihre persönlichen Umstände sich verändert haben, den Vertrag natürlich jederzeit lösen. Es gibt keine Kündigungsfrist. Das wäre ja noch schöner. Es ist ja schließlich Ihr Kind.«
Frau Behrens sah Smilja forschend an, die ihre Hände im Schoß knetete. »O mein Gott, jetzt habe ich Sie vollkommen überfordert mit all den Informationen. Ich kann mir vorstellen, wie schwer Ihnen diese Entscheidung fallen muss. Aber ich verspreche Ihnen, dass es Ihrem Kind hier gut gehen wird und wir es sehr herzlich behandeln werden.«
Sie machte eine kleine Pause und stand dann auf. »Kommen Sie, Frau Grabovac, ich zeige Ihnen noch das Haus.«
Gemeinsam stiegen sie die Holzwendeltreppe nach oben. »Hier ist das Zimmer von Frauke und Maxi.« An den Wänden hingen Mick Jagger und die Rolling Stones.
»Verzeihen Sie bitte diese grauenhaften Poster. Männer mit langen Haaren«, sagte Frau Behrens mit strengem Gesichtsausdruck, »sind mir einfach zuwider. Ein fürchterlicher Typ ist das und auch noch diese laute Krachmusik. Aber so sind die Kinder heutzutage eben. Was soll man da machen?«
Danach zeigte sie Smilja noch das Zimmer von Heike und Volker, das große Badezimmer mit Dusche und Badewanne im ersten Stock, das Schlafzimmer, ein etwas kleineres Badezimmer im Erdgeschoss, die blitzblank geputzte Einbauküche und das geräumige Kinderzimmer für die Pflegekinder. Über den kleinen Bettchen kreisten Mobiles mit lustigen Figuren und die bunte Wandtapete war mit lachenden Tieren übersät. Meiner Mutter gefiel das Zimmer.
Aus dem Büro von Herrn Behrens drang das Klackern einer Schreibmaschine. Frau Behrens klopfte an. Eine laute Stimme schrie: »Herein.« Das Haupthaar von Herrn Behrens hatte sich bereits gelichtet. Den spärlichen Rest Haare hatte er sich zu einem akkuraten Seitenscheitel zurechtgekämmt. Er war relativ klein, hatte einen sehr dicken Bauch, rauchte Pfeife und begrüßte Smilja mit einem freundlichen Lächeln.
»Tut mir leid, Frau Grabovac, dass wir uns nicht näher kennenlernen durften. Aber Sie sehen ja: Die Arbeit ruft.«
Wie zuvor bereits im Wohnzimmer, war Smilja beeindruckt von den vielen Bücherregalen, die in dem Büro standen. Ihr fiel ein Bild auf, das Herrn Behrens als jungen Soldaten vor einem Panzer zeigte. Sie deutete darauf. »Mein Vater war auch im Krieg.«
Herr Behrens sah sie interessiert an. »Woher kommen Sie?«
»Ich stamme aus Jugoslawien, aus einem Dorf in Kroatien.«
Herr Behrens sog an seiner Pfeife. »Dann hat Ihr Vater an unserer Seite gekämpft?«
Als meine Mutter nicht sofort antwortete, zog Frau Behrens nervös an Smiljas Arm. »So, wir haben dich schon viel zu lange gestört. Jetzt lassen wir meinen Mann mal lieber weiterarbeiten.«
Smilja vergaß die Frage von Herrn Behrens sofort, als sie mit Frau Behrens hinaus in den Garten trat. Auf der Terrasse lag ein großer schwarzer Hund. Frau Behrens bückte sich, streichelte den Kopf des Hundes. »Das hier ist Charly, unser Familienhund. Er bewacht das Haus Tag und Nacht. Er ist ein lieber Hund.«
Der kleine Garten hatte eine schöne Rasenfläche, die selbst im matschigen November gepflegt wirkte. Frau Behrens breitete die Arme aus. »Im Frühling können die Kinder wieder hier draußen spielen. Jetzt ist es leider zu kalt dafür.«
Sie gingen zurück ins Wohnzimmer, tranken noch einen Kaffee, unterhielten sich über die anderen Pflegekinder und ihre Familien und tauschten noch ein paar Kochrezepte aus.
Bei der Verabschiedung gab Frau Behrens Smilja die Hand und schaute ihr liebevoll in die Augen. »So, Frau Grabovac. Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Schwangerschaft und die Geburt. Lassen Sie sich alles gut durch den Kopf gehen und melden Sie sich, falls Sie noch Fragen haben. Ich weiß, wie schwer Ihnen diese Entscheidung fallen muss. Aber wenn Sie es möchten, sind wir für Sie da.«
Meine Mutter und Ayşe setzten sich ins Auto. Meine Mutter drehte sich noch einmal zu Frau Behrens um, die vor der Tür stand und winkte.
»Und«, fragte Ayşe ungeduldig auf der Rückfahrt nach Würzburg, »wie hat dir alles gefallen? Ist doch schön dort. Ist ein großes Haus. Alles ordentlich und sauber. Die Kinder haben Spielkameraden. Und Frau Behrens ist eine ganz liebe Frau.«
Smilja blickte aus dem Fenster auf die leeren Felder. »Das stimmt alles. Aber findest du es nicht merkwürdig, dass sie sieben eigene Kinder haben und sich dann auch noch Pflegekinder ins Haus holen?«
»Ist schon ein bisschen komisch. Aber Frau Behrens liebt eben Kinder. Das ist doch gut.«
»Außerdem ist da dieser Hund, den mochte ich gar nicht. Was, wenn der Hund unsere Kinder beißt?«
»Smilja.« Ayşe klang leicht genervt. »Jetzt hör aber auf mit deiner Meckerei.«
»Tut mir leid. Ich mochte Frau Behrens ja auch. Aber weißt du, wir geben unsere Kinder zu einer deutschen Familie mit einer anderen Kultur. Und ein Kind sollte doch bei seinem Vater und seiner Mutter aufwachsen.« Smilja streichelte sich über ihren gewölbten Bauch. »Ach Ayşe, ich weiß auch nicht.«
Ayşes Gesichtszüge wurden hart. »Glaubst du etwa, mir fällt das leicht? Es ist nicht einfach für Frauen wie uns. Aber siehst du mich hier rumjammern? Du musst dein Kind ja nicht dahin bringen. Dilek hat ein gutes Leben bei den Behrens.«
Smilja legte Ayşe beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Du hast ja recht. Entschuldige bitte. Das war dumm von mir.«
»Schon gut. Ich verstehe dich doch. Wir haben es nicht einfach. Aber immerhin sehen wir unsere Kinder ja noch an den Wochenenden, außerdem ist es nur vorübergehend. Spätestens wenn sie zur Schule gehen, nehmen wir sie wieder ganz zu uns zurück.«
Bis zu meiner Geburt hatte sich meine Mutter gegen eine Entscheidung gesträubt. Sie konnte sich nicht vorstellen, ihr Baby wegzugeben. Doch mein Vater blieb unberechenbar, verbrachte die Nächte in der Kneipe und die Tage im Bett. Unter keinen Umständen würde sie mich, wenn sie zur Arbeit in die Fabrik ging, mit ihm allein lassen können. Verzweifelt rang sie mit sich und entschied sich schließlich dazu, bei den Behrens anzurufen. Sie bekam die Zusage und versuchte, nicht zu weinen.
Als Smilja am 11. Februar 1974 morgens aufwachte, erbrach sie sich im Bad. Sie fühlte sich wie eine schäbige Verbrecherin, die ihr Baby im Stich ließ. Am Nachmittag würde sie mit Ayşe, Dilek und mir nach Gerchsheim fahren und mich abgeben.
Auf der Fahrt war die Stimmung angespannt. Meine Mutter konnte nicht reden, sie hatte Bauchschmerzen und schluckte die Tränen hinunter. Obwohl sie davon überzeugt war, dass sie keine andere Wahl hatte, bereute sie ihre Entscheidung. Sie streichelte mich an ihrer Brust, starrte gedankenverloren auf die schneeverwehten Äcker und konnte nicht fassen, dass sie mich gleich in die Hände einer fremden Frau geben würde.
Als sie vor dem Haus ankamen, fühlte sie einen Stich, der sich tief in ihr Herz bohrte. Smilja sprach sich Mut zu, sie musste stark sein, nahm die Tasche mit den Babysachen und brachte mich ins Haus.
Frau Behrens war sehr feinfühlig und verständnisvoll.
»Was für ein Prachtkerl! Jungchen, du wirst es gut haben.« Sie streichelte mir über die Wange. Dann fasste sie meine Mutter beherzt am Arm. »Ich verspreche Ihnen, dass es Ihrem Sohn gut gehen wird. Und nächsten Freitag sehen Sie ihn schon wieder.«
Die Frauen tranken noch einen Kaffee. Smilja hörte Frau Behrens reden, ohne etwas zu verstehen, wie unter Wasser. Sie fühlte sich betäubt, leer und ausgeliefert.
»Komm, Smilja«, sagte Ayşe, »wir müssen los.«
Meine Mutter legte mich mit zitternden Händen zu den anderen Kindern in den Laufstall, drehte sich um, begann zu weinen, musste sich an einem Stuhl abstützen, um nicht zu Boden zu fallen.
Frau Behrens holte ihr ein Glas Wasser. »Wir Frauen haben es nicht einfach im Leben. Sie müssen jetzt stark sein, Frau Grabovac.« Dann umarmte sie meine Mutter. »Machen Sie sich keine Sorgen. Dem kleinen Alem wird es gut bei uns gehen.«
Auf der Rückfahrt nach Würzburg herrschte Totenstille im Auto. Der Schmerz bohrte sich immer tiefer in Smilja hinein. Sie war wütend auf Ayşe, wütend auf das Leben, am liebsten hätte sie sich selbst geschlagen, um ihre Schuld körperlich zu büßen. Als sie vor der Wohnung am Schmalzmarkt ankamen, nahm Ayşe meine Mutter vorsichtig in den Arm. »Du schaffst das, meine Liebe. Ruf mich an. Und trink einen Schnaps. Glaub mir, das hilft. Bis morgen früh.«
Smilja nickte. Mit bleischweren Beinen schaffte sie es kaum die Treppen hinauf. Als sie die Tür öffnete und das leere Kinderbett sah, würgte sie, rannte ins Bad und übergab sich wie schon am Morgen abermals über der Kloschüssel.