Meine Mutter saß auf dem Sofa und starrte vor sich hin, plötzlich stieg ihr beißender Brandgeruch in die Nase. Sie hatte den Gemüseauflauf vergessen. In der Küche wedelte sie den Rauch zur Seite, öffnete alle Fenster und schmiss den verkohlten Auflauf mit Schwung in den Abfalleimer. Seit sie vom Tod meines Vaters erfahren hatte, war sie unkonzentriert und fahrig: Sie hatte sich beim Brotschneiden tief in den Finger geschnitten, ein Glas Milch war ihr auf den Küchenfliesen zerschellt, beim Treppensteigen war sie ausgerutscht und jetzt auch noch dieser verdammte Gemüseauflauf.
Fluchend setzte sie sich auf den Balkon. Eine Blaumeise flog über das Balkongitter, die tiefgrünen Blätter der Hinterhofbäume flatterten sanft im Sonnenlicht. Aber meine Mutter hatte keinen Blick dafür. In ihrem Kopf drehten sich fortwährend dieselben Gedanken: Ich habe solchen Mist gebaut. Das wird Alem mir niemals verzeihen. Vierundvierzig Jahre lang habe ich ihn belogen. Was mache ich jetzt bloß?
Es klingelte an der Wohnungstür. Slavica. Smilja hatte sie zum Mittagessen eingeladen. Slavica war ein wenig kleiner als meine Mutter, hatte eine spitze Nase, schmale Lippen und lebte mit ihrem Ehemann Tomislav auf dem gleichen Stockwerk.
Slavica rümpfte die Nase. »Mein Gott, Smilja, was ist denn hier passiert?«
»Ach, der Gemüseauflauf ist mir verbrannt. Die ganze Wohnung stinkt. Komm, geh schon mal auf den Balkon. Ich mach uns noch schnell einen Tee.«
Als Smilja mit den Teetassen auf den Balkon trat, fragte Slavica:
»Wo ist denn Dušan?«
»Er ist in die Stadt gefahren, um sich für Anfang Oktober ein Flugticket nach Belgrad zu kaufen. Früher hat er immer im Sommer Urlaub in Kačarevo gemacht. Aber die Hitze ist nichts mehr für ihn. Er freut sich jedenfalls schon auf die Heimat.«
»Ach, wie schön. Aber sag mal, hat er immer noch so große Probleme mit seinem Sohn? Sprechen die beiden immer noch kein Wort miteinander?«
»So ist es. Sie sind so unglaublich stur. Was soll man da machen? Es ist einfach zu viel zwischen ihnen vorgefallen.«
Slavicas Gesichtsausdruck verdüsterte sich. »Grausam ist das. Unser Leben lang haben wir uns abgerackert, damit die Kinder es einmal besser haben als wir. Und was ist der Dank? Hat sein Sohn nicht auch eine kleine Tochter?«
»Ja, Svetozar wohnt mit seiner Frau und der kleinen Nina am anderen Ende von Kačarevo in einer winzigen Zweizimmerwohnung. Weißt du, Dušan hat ja mit all seinem Ersparten ein riesiges Haus für seine Familie in Kačarevo gebaut. Doch die Eltern sind schon vor langer Zeit gestorben, und Svetozar möchte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Jetzt sitzt Dušan alleine in seinem Haus. Das ist schon traurig.«
Slavica schüttelte verständnislos den Kopf. »Der arme Dušan. Womit hat er das verdient? Wahrscheinlich hat die Schwiegertochter die beiden gegeneinander aufgehetzt. Das wäre ja nicht das erste Mal.«
O nein, ging das schon wieder los. Slavica hasste ihre Schwiegertochter, und Smilja konnte all ihre Lästereien längst mitsprechen.
»Die Schwiegertochter ist nicht das Problem. Sie ist sogar nett. Die haben ganz andere Probleme.«
Doch Slavica überhörte sie einfach. »Weißt du, was die Jasna sich letzte Woche wieder erlaubt hat?«
Smilja seufzte. »Erzähl, was hat Jasna schon wieder gemacht?«
»Wir waren zu Gast bei ihnen zu Hause, und die weißen Gardinen waren schmutzig. Also sage ich zu meinem Sohn, dass die Gardinen mal wieder gewaschen werden müssen. Da blafft mich die Jasna an und behauptet, dass die Gardinen nicht schmutzig sind. Ich frage meinen Sohn, ob er nicht auch denkt, dass die Gardinen schmutzig sind. Und was macht mein Sohn: Nur um einen Streit mit seiner Frau zu vermeiden, sagt er, seiner Meinung nach müsste man die Gardinen noch nicht waschen. Ach, mein Goran. Ich hätte ihn strenger erziehen müssen. Er ist einfach viel zu gutmütig und lässt sich alles von dieser blöden Kuh gefallen.«
Smilja mochte Slavica wirklich sehr, wenn sie nur endlich aufhören würde, ständig mit ihrer Schwiegertochter zu konkurrieren.
Slavica führte ihren Tee zum Mund. Doch dann stellte sie die Tasse scheppernd auf das Tischchen, noch bevor sie einen Schluck getrunken hatte.
»Und dann erst beim Mittagessen, Smilja. Der kleine Marko hampelt mit den Beinen und stochert im Essen herum. Da sage ich zu Marko, er soll sich ordentlich hinsetzen und anständig essen. Und Jasna schreit mich an, dass ich mich aus der Erziehung ihres Kindes heraushalten soll. Goran sagt nur: ›Mama, lass gut sein.‹ Das ist doch nicht normal: Die Jasna ist mit dem Haushalt und der Erziehung des Kindes völlig überfordert, und mein armer Goran hat darunter zu leiden. Sie schafft es ja nicht einmal, Marko anständige Tischmanieren beizubringen. Ach, man hat es nicht einfach mit den Kindern. Sag, was macht dein Alem?«
Genau das ist das Problem, dachte Smilja. Aber wollte sie wirklich mit Slavica darüber reden?
»Hör zu, ich werde langsam hungrig und den Gemüseauflauf können wir ja leider vergessen. Lass uns zur Wurst-Ilse in der Kleinmarkthalle gehen, ich lade dich ein. Was hältst du davon?«
Slavica liebte die warme Fleischwurst von der Wurst-Ilse und rieb sich erwartungsfroh die Hände.
Bereits auf der Günthersburgallee sprudelte es nur so aus Smilja heraus: »Alles ist eine Katastrophe. Du weißt doch, dass ich offiziell noch verheiratet bin. Jetzt wollte ich mich endlich von Emir scheiden lassen.«
Slavicas Augen leuchteten. »Hat Dušan dir endlich einen Antrag gemacht?«
»Nein, das nicht. Aber ich dachte, dass wenn ich frei wäre, na ja, dass er mich dann vielleicht fragen würde.«
»Das wird er bestimmt noch machen. Mach dir mal keinen Kopf.«
»Das ist nicht das Problem. Ich habe vor einigen Monaten die Scheidungsunterlagen eingereicht. Mein Anwalt hat Emir monatelang in Bosnien gesucht und schließlich in Belgrad gefunden. Er ist schon seit zwei Jahren tot.«
»O mein Gott, Smilja, wie schrecklich. Mein herzliches Beileid. Gott habe ihn selig, deinen Emir.« Sie bekreuzigte sich.
»Ja, es ist wirklich schrecklich. Aber weißt du, Emir war kein guter Mensch. Man soll ja nicht schlecht über Tote sprechen, aber bei mir hat es alles wieder aufgewühlt. Ich musste an all das denken, was er mir angetan hat. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für ein Scheißkerl er war. Ständig besoffen, hat Brieftaschen geklaut und mich mit anderen Frauen betrogen. Später ist er sogar in Goli Otok gelandet. Kannst du dir das vorstellen? Goli Otok! Im Sommer 1980 habe ich ihn dort besucht. Da waren wir längst getrennt. Ich wollte ihn noch einmal besuchen und mich anständig von ihm verabschieden.«
»Das wusste ich ja alles gar nicht, meine arme Smilja. Weshalb um Himmels willen saß er denn in Goli Otok?«
»Er hat geklaut, Tito beleidigt und sich mit hochrangigen Kommunisten angelegt. Er hat drei Jahre bekommen.«
»Drei Jahre in Goli Otok: Das muss grausam gewesen sein.«
»Ich war also in Goli Otok und habe ihm gesagt, dass ich einen neuen Mann habe und dass es endgültig aus ist mit uns.«
»Du hattest eine Affäre«, fiel ihr Slavica kichernd ins Wort. »War der neue Mann etwa Dušan?«
»Jetzt hör aber auf. Ich habe dir doch gesagt, dass wir bereits getrennt waren. Und ja, es war Dušan. Emir kannte ihn nicht. Dušan habe ich ja erst in Frankfurt getroffen. Ich bin also in Goli Otok und sage Emir, dass es vorbei ist, und dann ist er durchgedreht und hat mich beschimpft: Hure und Schlampe. Aber das war nicht mal das Schlimmste.«
Sie waren inzwischen in die Bornheimer Landstraße abgebogen, und Slavica hakte sich bei ihr unter.
»Aber was war denn das Schlimmste? Jetzt spann mich doch nicht so auf die Folter. Erzähl schon.«
Smilja zitterte am ganzen Leib. »Seine letzten Worte. Er hat mir gedroht und gesagt, dass er irgendwann kommen und mir Alem wegnehmen würde.«
Meine Mutter weinte lautlos. Slavica holte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und legte tröstend den Arm um ihre Schulter.
»Meine arme Smilja.«
In diesem Augenblick kam die Apothekerin Frau Schneiderhahn schnellen Schrittes auf sie zu. Sie trug einen altmodischen, mit Blumen verzierten Hut. »Frau Grabovac, das ist ja ganz wunderbar, dass ich Sie hier treffe. Ich bräuchte mal wieder ein wenig Ihre Unterstützung im Haushalt. Hätten Sie vielleicht nächste Woche Zeit?«
»Ich denke schon«, sagte Smilja und wischte sich verstohlen mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen.
»Das freut mich außerordentlich.« Frau Schneiderhahn kramte ihren Terminkalender aus der Handtasche, blätterte in den Seiten herum und sagte mit resoluter Stimme: »Mittwoch, 14 Uhr?«
Smilja nickte. »Das lässt sich einrichten. Ich werde um Punkt 14 Uhr an ihrer Tür klingeln.«
»Ach, wären doch nur alle Menschen so pünktlich wie Sie, Frau Grabovac. Gut, dann möchte ich Sie jetzt auch nicht länger behelligen und wünsche Ihnen und Ihrer Freundin noch einen angenehmen Tag.«
Slavica schnaubte, als Frau Schneiderhahn außer Hörweite war. »Es ist eine Schande, dass du in deinem Alter noch putzen gehen musst. Was für eine eingebildete Dame. Bla, bla, bla, dann möchte ich Sie jetzt nicht länger behelligen. Pah.«
»Ach, die Apothekerin ist doch ganz nett. Obwohl sie neunundsiebzig ist, arbeitet sie immer noch halbtags in ihrer Apotheke in der Berger Straße, die inzwischen eigentlich ihr Sohn leitet. Die Arbeit hält sie jung und gesund, meint sie. Vom Band bei VDO kann man das nicht gerade sagen. Sie hat eine wirklich schöne Altbauwohnung in der Egenolffstraße mit hohen Stuckdecken.«
»Ja, ja, sie ist reich und bezahlt dir wahrscheinlich einen Hungerlohn. So sind die Deutschen.«
»Ich bin zufrieden.« Smilja konnte es nicht leiden, wenn ihre Freundin abfällig über Menschen sprach, die sie gar nicht kannte.
In der Eschenheimer Parkanlage setzten sie sich auf eine Bank in der Nähe des großen Ententeiches. Smilja blinzelte im Sonnenschein, schaute auf die Wasserfontäne und seufzte.
»Es gibt noch etwas viel Schlimmeres, was ich dir verschwiegen habe. Weißt du, das Problem ist, ich habe Alem angelogen. Ich habe ihm erzählt, dass sein Vater ein Bauarbeiter war, uns verlassen hat und 1980 auf Montage bei einem Arbeitsunfall in Jugoslawien gestorben ist.«
Slavica sah sie fassungslos an. »Nein, hast du nicht.«
»Doch, leider schon. Nach Goli Otok war ich so wütend auf Emir. Ich wollte nicht, dass Alem wusste, dass er der Sohn eines Diebs und Alkoholikers ist. Das wäre nicht gut für ihn gewesen. Außerdem wollte ich Emir ein für alle Mal aus meinem Leben entfernen. Ich wollte seine Drohung auslöschen. Wollte, dass Alem und ich nie mehr etwas mit diesem Mistkerl zu tun haben. Verstehst du das? Aber jetzt ist Emir tot, und ich habe ein schlechtes Gewissen. Ich habe den Zeitpunkt verpasst … Ach Slavica, was soll ich jetzt nur machen? Was soll ich Alem nur sagen?« Sie begann wieder zu weinen.
Slavica gab meiner Mutter ein frisches Taschentuch. »Smilja, du musst ihm alles erzählen. Mit dieser Lüge kannst du nicht leben. Du musst reinen Tisch machen.«
Meine Mutter ließ die Schultern hängen, starrte auf den Boden. »Ja, wahrscheinlich hast du recht. Ich habe nur so große Angst vor seiner Reaktion. Er wird mich bestimmt dafür hassen.«
»Ach, meine arme Smilja. Natürlich wird er wütend auf dich sein. Aber er hat ein Recht darauf zu wissen, wer sein Vater war. Es hilft nichts, du musst es ihm erzählen. Und dann wird er dir verzeihen. Er wird es verstehen.«
»Ja, ich muss es ihm erzählen, es geht nicht anders.«
Am Abend holte meine Mutter den Brief mit Emirs Sterbeurkunde aus der untersten Schublade ihres Kleiderschranks, setzte sich auf das Sofa, rief mich an und erzählte mir reumütig und tränenreich die wahre Geschichte meines Vaters.