Ich kam am 11. Februar 1974, sechs Wochen nach meiner Geburt, zu Marianne und Robert. Kleine Gastarbeiterkinder wuselten durch ihr großes Haus in Gerchsheim. Im Amtsdeutsch hießen wir »Kurzzeit-Pflegekinder«.
Auf einem gelbstichigen Foto von 1976 sieht man sechs Babys und Kleinkinder in einem Laufstall. Es ist ein ungewöhnlich großer Laufstall, der das halbe Wohnzimmer einnimmt, vielleicht eine Sonderanfertigung. Mit sehr dünnem Strich hat Marianne den Kindern ihre Namen zugeordnet. Bojan krabbelt mit einer Rassel in der Hand. Ein zweieinhalb oder drei Jahre altes Mädchen mit schwarz gelocktem Haar, Dilek, scheint einem etwa gleichaltrigen Jungen, Jannis, irgendetwas zu erklären. In der linken Ecke sitzt João in einem gelben Strampler, auf dem eine überdimensionierte Maus breit lacht. Er hält einen hellblauen Ball in den kleinen Händen. Ich stehe mit Fatima am Laufgitter. Fatima hat kumpelhaft ihren Arm um meine Schulter gelegt. Ich trage einen weißen Pulli, auf dem ein rotes Motocross-Motorrad durch die Luft segelt. Wir blicken beide konzentriert in die Kamera, wahrscheinlich hatte Robert sie in der Hand. Im Hintergrund steht Marianne. Sie trägt eine weiße Bluse, raucht eine ihrer langen M & M-Zigaretten und blickt leicht amüsiert herab auf ihre kunterbunte Kinderschar.
Da brabbeln und krabbeln wir also im vermeintlich ersten multikulturellen Laufstall der Bundesrepublik Deutschland, wir spielen und hauen uns, lachen und weinen. Wir kommen aus Griechenland, der Türkei, aus Portugal, aus Jugoslawien, Gastarbeiterkinder, Kinder von Männern und Frauen, die ihre Heimat verlassen haben, um in der Fremde ihre Chance auf ein besseres Leben zu suchen. Unsere Eltern haben keine Zeit: Sie arbeiten auf Baustellen, in Putzkolonnen, in Restaurants, in Fabriken oder klauen den Einheimischen die Brieftaschen. Unsere Eltern haben keine Zeit und wir, ihre Kinder, sitzen im Laufstall und betrügen die Stunden und die Tage.
In welcher Sprache haben wir uns damals im babylonischen Laufstall eigentlich unterhalten? War es Deutsch, Serbokroatisch, Portugiesisch, Türkisch oder ein Mischmasch aus allem? Wie sind wir damals in unseren aufgereihten Gitterbettchen fern von unseren Eltern eingeschlafen? Waren wir verunsichert? Hatten wir Angst? War uns alles egal? Wovon haben wir geträumt? Und wie sind wir aufgewacht? Haben wir vergnügt miteinander gequatscht oder standen wir schweigend und in uns gekehrt vor unseren kleinen großen Gitterstäben?
In unserem Kinderzimmer hing eine bunte Wandtapete mit lachenden Tieren, und über den kleinen Bettchen kreisten Mobiles mit lustigen Figuren. Das zumindest hat meine Mutter erzählt. Von alldem weiß ich nichts mehr. Ich kann mich überhaupt nur an zwei Geschichten aus jener Zeit mit den anderen Gastarbeiterkindern erinnern.
Einmal saß ich abends mit Dilek in der Badewanne. Marianne trocknete gerade ein anderes Kind ab, und Dilek kackte in das Badewasser. Wir beide fanden das unglaublich lustig. Als Marianne sich zu uns umdrehte, sagte Dilek freudestrahlend: »Schau, Marianne, ich habe ins Wasser gekackt.« Marianne hievte uns blitzschnell aus dem Wasser und schimpfte mit Dilek. Sie begann zu weinen, und ich fühlte mich mitschuldig, schließlich hatte ich es lustig gefunden. Überhaupt verstand ich nicht, weshalb Marianne plötzlich so aufgebracht war. Diese kleinen, festen Kackhäufchen, das mangelnde Verstehen und die vermeintliche Mitschuld, das ist meine allererste Erinnerung an das Leben.
Dann ist es Sommer. Wir Pflegekinder spielen nackig im Planschbecken, toben auf dem Rasen herum. Marianne hat eine riesige Sonnenbrille auf, raucht eine ihre langen M & Ms, liest mit angewinkelten Beinen eine bunte Zeitschrift im Gartenstuhl. Ich sitze mit der quirligen Dilek und dem gutmütigen Jannis im orangefarbenen Planschbecken. Wir spritzen uns nass, lachen, ich bin vielleicht dreieinhalb Jahre alt. Plötzlich springt Dilek auf. Sie rennt durch den Garten und schreit: »Fang mich doch, du Eierloch, fang mich doch, du Eierloch.« Jannis und ich rennen ihr hinterher. Ich bin schneller als Jannis, als ich Dilek fast eingeholt habe, spüre ich plötzlich einen gewaltigen Schmerz im rechten Fuß. Ich bin auf eine Biene getreten. Ich schreie und weine. Dilek streichelt mich vorsichtig, versucht mich zu trösten.
Jannis aber, der sonst so verschwiegene und friedliche Jannis, nimmt eine Schaufel und schlägt wie wild auf die im Gras liegende Biene ein. Er schreit: »Ich habe sie getötet. Ich habe sie getötet. Schau, Alem, ich habe die böse Biene getötet.« Sein Gesicht voller Kraft und Entschlossenheit verkörperte in diesem kurzem Augenblick die pure Schönheit von Gewalt. Jannis hatte für mich das vermeintlich Böse in der Welt zerstört. Für immer und ewig werde ich ihm dankbar sein für diesen eingefrorenen Moment der Rache.
Dilek, Jannis und die anderen Kinder sind irgendwann verschwunden. Ich habe keine Ahnung, was aus all den Gastarbeiterkindern geworden ist. Sie waren wie ausgelöscht, und ich war zu klein, um sie zu vermissen, sie spielten keine Rolle mehr in meinem Leben. Und es kamen auch keine kleinen Kinder mehr nach. Ich war der Einzige, der blieb.