An einem Freitagnachmittag fuhr mich Marianne mal wieder mit unserem metallicroten BMW zum Stuttgarter Hauptbahnhof. Es war Frühling, die Sonne schien, die Winterkälte lag hinter uns. Sie kurbelte das Fenster herunter, rauchte, sang zu den Liedern von Peter Alexander, lächelte mir aufmunternd im Rückspiegel zu. Ich war ein wenig traurig, wollte nicht wirklich nach Frankfurt.
Da ich als Kleinkind nur unter Beaufsichtigung reisen durfte, brachte Marianne mich am Bahnsteig zum Zugpersonal. Schon öfter war ich allein nach Frankfurt gefahren. Der Abschied fiel mir dennoch schwer. Marianne umarmte mich, streichelte mir sanft über die Haare und sagte: »Komm schon, Alemchen, wird schon nicht so schlimm werden. Und schon am Sonntag bist du wieder bei uns.« Ich versuchte stark zu sein, nickte, gab ihr einen Kuss. Sie wartete draußen auf dem Bahnsteig. Der Zug ruckelte los, wir winkten zum Abschied, und dann fuhr ich in mein anderes Leben.
Von den Schaffnern, die erst Schwäbisch und später Hessisch sprachen, bekam ich Malbücher, Comics und Kartenspiele mit dem Logo der Deutschen Bahn geschenkt. Während ich feuerspeiende Drachen und lachende Lokomotiven bunt ausmalte, rauschten im Zugfenster kleine Dörfer und zartgrüne Wälder vorüber, die ein paar Stunden später, kurz vor Frankfurt, durch moderne Industrieanlagen und überfüllte S-Bahn-Stationen abgelöst wurden. Danach tauchten die glitzernden Wolkenkratzer des Bankenviertels auf. Sie waren das Zeichen für meinen Ausstieg. Ich stellte mich mit meinem großen braunen Lederkoffer an die Tür, schaute durch das Fenster auf die riesige Bahnhofshalle mit ihrer dunklen Stahlkonstruktion und dann auch auf Smilja und Dušan, die bereits auf dem Bahnsteig auf mich warteten.
Mutter begrüßte mich mit einer überschwänglichen Umarmung, drückte mich an ihre Brust, knutschte mich ab. Sie trug wie immer zu viel Parfüm und kam mir körperlich viel zu nahe. Dušan klopfte mir auf die Schulter und fragte mich auf Serbokroatisch: »Na, wie geht es dir, Kleiner? Alles gut?«
Nichts ist gut, dachte ich und behauptete das genaue Gegenteil, denn für die Wahrheit gab es hier keinen Platz.
Dušan nahm meinen Koffer in seine starken rauen Hände. Er arbeitete als Schweißer auf dem Bau, ein groß gewachsener Serbe, muskulös, mit schwarzem Haar und sehr tiefer Stimme. Dušan trug wie immer eine seiner dunkelgrünen Bundeswehrjacken, deren vielen Seiten- und Innentaschen gefüllt waren mit kleinen Schraubenziehern, Feuerzeugen, Kräuterbonbons, Tabakbeuteln, Taschentüchern, Klemmzangen, Kugelschreibern, Schweizer Taschenmessern und weiß der Teufel noch was. Einmal fragte ich ihn, weshalb er all diese Dinge ständig mit sich herumschleppte. Ein richtiger Mann müsse auf jede Situation im Leben vorbereitet sein, grinste er. Ich nickte, ohne zu verstehen, was für Situationen er meinte.
Vor der Bahnhofshalle, mit Blick auf die Frankfurter Skyline, stellte Dušan meinen Koffer auf den Boden. Er drehte sich eine Zigarette. Sein blauer Samson-Tabak mit dem goldschimmernden Löwen auf der Verpackung, seine nikotinverfärbten Finger, die Bettler, Drogenabhängigen, Prostituierten und Dealer des Bahnhofsviertels, das unschuldige Lächeln meiner Mutter — diese Stadt würde mich gleich mit all ihren fremdartigen Gesichtern verschlingen.
Wir fuhren mit der Tram zu unserer kleinen Erdgeschosswohnung in der Hanauer Landstraße. In dem Viertel sah man nahezu nur Ausländer: Spanier, Jugos und Türken, die jetzt, am frühen Freitagabend, ihren Wochenendeinkauf erledigten und mit schwer bepackten Aldi-Taschen durch die Straßen liefen. Es gab viele Kneipen, Döner-Imbisse, kleine Gemüseläden, Spielcasinos und Kioske, die Trinkhallen, an deren runden Außentischen zwielichtige Männer in Begleitung gemeingefährlicher Hunde Bier tranken. Es roch nach Pisse, nach Alkohol, nach Armut.
Die Eingangstür zum Vorderhaus in der Hanauer Landstraße 56 war glänzend blau, unterdessen im düsteren Hinterhof der Putz von den Wänden bröckelte. Unsere Erdgeschosswohnung war sehr klein: Küche, Bad und ein Schlafzimmer, um die fünfzig Quadratmeter. Wenn wir die Vorhänge nicht zuzogen, konnte jeder vom Hof aus in unser Leben hineinschauen. Mutter öffnete die mehrfach verriegelte Tür, und ich stürmte wie immer als Allererstes zu dem weißen Schuhkarton, der unten im Küchenregal stand. Sie hatte ihn für mich mit Süßigkeiten gefüllt. Bei Marianne und Robert bekam ich nur bei unseren Einkaufsausflügen und am Sonntagnachmittag etwas Süßes, aber hier in Frankfurt durfte ich so viel Schokolade essen, wie ich wollte.
Ich saß auf meiner Matratze, die sie vor ihrem Bett ausgelegt hatten, schaute Fernsehen und steckte mir dabei einen Schokoriegel nach dem anderen in den Mund. Mutter ging in die Küche, um das Abendessen vorzubereiten. Dušan saß am Küchentisch, rauchte und trank Bier. Sie unterhielten sich auf Serbokroatisch, das sich als summendes Grundgeräusch unter die deutschen Fernsehstimmen legte. Mutter kochte Kartoffeln, brutzelte Fleisch in den Pfannen. Die Wohnung roch nach Schweinekoteletts und Zigarettenrauch. Ich kann mich an kaum ein Essen ohne Fleisch in Frankfurt erinnern. Dušan liebte es deftig. Ein Gericht ohne Fleisch, sagte er immer, sei wie ein Mann ohne Eier. Schon wieder verstand ich ihn nicht.
Wir aßen spätabends im Bett. Bei meiner Mutter in Frankfurt gab es keine Tischmanieren, kein Sandmännchen, kein Dalli Dalli und keine Nachtruhe. Ich durfte aufbleiben, so lange ich wollte. Meine Mutter und Dušan liebten Westernfilme, Boxkämpfe und Krimis, liebten John Wayne, Humphrey Bogart, Columbo und Lino Ventura.
Ich war sechs, und während ich Fleisch und Schokoladenriegel in mich hineinstopfte, tauchten coole sporentragende Cowboys auf dem Bildschirm auf, die sich in Saloons prügelten und Whisky tranken, Indianer, federgeschmückt, die vor ihren Tipi-Zelten seltsame Tänze aufführten, ich beobachtete Columbo dabei, wie er in seinem zerknautschten Trenchcoat die kniffligsten Fälle löste, sah leicht bekleidete Damen und kettenrauchende, wortkarge, mürrische Kommissare, die, umgeben von einer Aura der Melancholie, standhaft gegen das Böse in der Welt kämpften. Ich verliebte mich in die dunklen und gefährlichen Seitengassen von L. A. und Paris und in die weiten Steppenlandschaften Nordamerikas. Irgendwann schlief ich vollgefressen und übermüdet vor dem Fernseher ein.
Samstag war Putz- und Waschtag. Dušan war unter der Woche auf Montage, auf irgendeiner Baustelle in Deutschland. Den Samstagmorgen verbrachte er im Bad, rasierte sich, schnitt sich die Finger- und Fußnägel, badete ausgiebig, schrubbte sich den Baustellendreck der ganzen Woche vom Körper. Im Bad stand sein Seesack voller schmutziger Wäsche. Mutter sortierte seine stinkenden Socken, löchrigen Hemden und langen Unterhosen, schmiss die Waschmaschine an, hängte die Wäsche auf, putzte die Wohnung und bereitete das Essen vor. Mutter hatte unter der Woche im Akkord Verbindungen auf Elektronikplatten zusammengelötet und diese dann Stück für Stück in Gehäuse von Autotachometern montiert. Das interessierte Dušan jedoch nicht: Als Frau war sie für den Haushalt zuständig. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, auch nur einen Finger in der Wohnung zu rühren.
Sobald Dušan im Bad fertig war, setzte er sich an den Küchentisch, rauchte, trank Bier und schaltete auf dem schwarzen Kofferradio mit der riesigen Antenne den Jugosender an. Die jugoslawischen Volkslieder waren leichter, zärtlicher, wilder, leidenschaftlicher und auch verspielter als die deutschen Lieder und etwas verbarg sich in dieser Sprache, in diesen slawischen Lauten, das mein Herz zutiefst berührte.
Nach dem Mittagessen schliefen meine Mutter und Dušan. Sie zogen die weinroten Vorhänge zu, und ich ging mit dem Fußball und meiner stattlichen Sammlung an Spielzeugpistolen in den Hof. Unentwegt hämmerte ich den Ball gegen die große graue Brandschutzmauer. Irgendwann schrie ein Mann mit fettverschmiertem weißem Trägerunterhemd aus irgendeinem Fenster, dass ich mit dem Lärm aufhören solle. Dann versteckte ich mich mit meinen Spielzeugpistolen hinter den Mülleimern im Hof und schoss, genauso wie in den Filmen, die ich in der Nacht zuvor gesehen hatte, den Nachbarn und alle, die den Hof durchquerten, einfach tot.
Erst wenn die weinroten Vorhänge geöffnet wurden, durfte ich wieder in die Wohnung. Am Nachmittag spielte ich mit Dušan am Küchentisch Mensch ärgere Dich nicht. Nie werde ich dieses Spiel vergessen. Er trank Henninger Flaschenbier, zwischendurch auch ein Glas Schnaps, rauchte seine selbstgedrehten Zigaretten. Ich öffnete den Karton, auf dem ein Mann abgebildet war, der mit roter Krawatte und in schwarzem Anzug sich grübelnd über das Spielbrett beugte. Dušan nahm immer die schwarzen Figuren und ich die grünen, weil Grün die Farbe meines Warmbronner Fußballvereins war. Er hatte schlecht geschlafen, war gereizt, vielleicht auch schon betrunken. Ich hatte einen Lauf, würfelte lauter Sechser, flog über die runden Kreise der Spielfläche, gewann ein Spiel nach dem anderen. Beim vierten Spiel, als ich mal wieder eine seiner schwarzen Figuren hinauswarf, rief ich »Juhuuu«, und als das letzte »u« noch nicht ganz verklungen war, spürte ich seine gewaltige Pranke auf meine rechte Gesichtshälfte niedersausen.
Er schrie: »So gehst du nicht mit mir um. Das lass ich mir von dir nicht gefallen. Du musst lernen, mich mit Respekt zu behandeln. Hast du mich verstanden?«
Meine rechte Gesichtshälfte brannte, ich weinte, blickte fragend zu Mutter, die am Herd vor den Kochtöpfen stand. Mutter tat so, als ob sie nichts gesehen hätte. Ich sagte leise »Entschuldigung«, spielte weiter, machte absichtlich Fehler und hoffte inständig auf die niedrigsten Würfelzahlen.