Geneva Sweet zog ein orangefarbenes Verlängerungskabel an Mayva Greenwood, Geliebte Ehefrau und Mutter, Möge sie beim himmlischen Vater in Frieden ruhen, vorbei. Die Vormittagssonne fiel in dünnen Strahlen durch die Bäume und bildete ein gepunktetes Muster auf dem Bett aus Kiefernnadeln zu Genevas Füßen, als sie das Kabel zwischen Mayvas Schwester und ihrem Ehemann Leland, Vater und Bruder in Christus , entlangführte. Sie zog einmal kräftig daran und erklomm den kleinen Hügel, achtete darauf, nicht auf die Gräber zu treten, sondern nur auf den Furchen zwischen den Grabsteinen zu gehen, die wie Zähne eines Bettlers in krummen Winkeln zueinander standen.
Sie hatte eine Papiertüte von Brookshire Brothers in Timpson dabei, gemeinsam mit einem kleinen Radio, aus dessen Lautsprecher Muddy Waters dudelte, und zwar eines von Joes Lieblingsstücken – Have you ever been walking, walking down that ol’ lonesome road . Als sie den letzten Ruheplatz von Joe »Petey Pie« Sweet erreichte, Ehemann und Vater und, vergib ihm, Herr, ein Teufel auf der Gitarre, stellte sie das Radio vorsichtig auf den polierten Granitstein und klemmte das Stromkabel an seinen verborgenen Platz hinter dem Grabstein. Der Stein daneben war von identischer Form und Größe. Er gehörte noch einem Joe Sweet, vierzig Jahre jünger, aber genauso tot. Geneva öffnete die Einkaufstüte und holte einen mit Alufolie bedeckten Pappteller heraus, eine Opfergabe für ihren einzigen Sohn. Zwei handgemachte Teigtaschen, perfekt geformte, in Fett ausgebackene Halbmonde, gefüllt mit braunem Zucker und Obst – Genevas Spezialität und Lil’ Joes Lieblingsspeise. Sie konnte die Wärme durch den Tellerboden spüren, und der buttrige Duft überlagerte den intensiven Kieferngeruch in der Luft. Sie legte den Teller mittig auf den Grabstein und beugte sich hinunter, um heruntergefallene Nadeln von den Gräbern zu wischen, wobei sie, sich ihrer arthritischen Knie stets bewusst, eine Hand auf die Granitplatte stützte. Unten donnerte ein Sattelzug über den Highway 59 und schickte einen Schwall heißer, benzingeschwängerter Luft zwischen den Bäumen empor. Für Oktober war es einer der wärmeren Tage, doch das waren sie heutzutage alle. Knapp sechsundzwanzig Grad, und sie fand, dass es an der Zeit war, die Weihnachtsdekoration aus dem Trailer hinter ihrem Laden zu holen. Klimawandel nennen sie das. Wenn das so weitergeht, lebe ich wahrscheinlich noch lange genug, um die Hölle auf Erden mitzuerleben . Das alles erzählte sie den beiden Männern in ihrem Leben. Erzählte ihnen von dem neuen Stoffladen in Timpson. Dass Faith ihr wegen eines Autos in den Ohren lag. Von dem hässlichen Gelbton, in dem Wally sein Eishaus gestrichen hatte. Sieht aus, als hätte jemand einen großen Batzen Schleim abgehustet und an die Wände der Kneipe geworfen .
Allerdings erwähnte sie nicht die Morde oder den Ärger, der sich im Ort zusammenbraute.
Diesen kleinen Frieden ließ sie ihnen.
Sie küsste ihre Fingerspitzen und berührte damit zuerst den einen und dann den anderen Grabstein. Beim Grab ihres Sohnes verweilte sie einen Moment und stieß einen müden Seufzer aus. Der Tod hatte anscheinend vor, sie ihren Lebtag nicht in Ruhe zu lassen. Er war wie ein heimlicher Schatten in ihrem Rücken, so zielgerichtet wie ein Hund auf der Jagd – und genauso treu. Hinter sich hörte sie Kiefernnadeln knirschen und Blätter rascheln, die von den Pappeln geweht worden waren, und als sie sich umdrehte, stand Mitty vor ihr, der inoffizielle schwarze Friedhofswärter. »Es gibt Batterien für die Dinger«, sagte er und nickte zu dem kleinen Radio hin, während er sich auf den Betongrabstein von Beth Anne Solomon, Viel zu früh von uns gegangene Tochter und Schwester , stützte.
»Schick mir die Stromrechnung, sobald du sie kriegst«, sagte Geneva.
Mitty war älter als Geneva, an die achtzig schätzungsweise. Er war ein kleiner, dunkelhäutiger Mann mit Beinen so dürr wie Zweige und aschfahl. Er verbrachte die Nachmittage in der kleinen Hütte auf dem Grundstück und vertrieb streunende Hunde und Gesindel. An fünf Tagen der Woche war er mit einem Motorsportmagazin und einem Zigarrenstumpen hier draußen, wachte über die versammelten Toten und hatte ein Auge auf sein zukünftiges Zuhause. Er tolerierte Genevas spezielle Art, sich um ihre Verstorbenen zu kümmern – die Steppdecken im Winter, die Lichterketten an Weihnachten, das Gebäck und das fortwährende Bluesgedudel. Er beäugte den Teller und hob mit einem Finger die Folie an, um besser sehen zu können. »Sie verpetzen dich«, sagte Geneva, »und dein Name steht auch nicht drauf.«
Der Weg den Hügel hinunter war für ihre Knie jedes Mal eine größere Tortur als der hinauf, und auch heute war es nicht anders. Sie zitterte vor Schmerzen, als sie zu ihrem Wagen ging und dabei die Strickjacke ihres Mannes auszog, eine der letzten in ausreichend gutem Zustand, um sie täglich zu tragen. Ihr 98er Grand Am stand auf einem Gelände aus Grasflecken und roter Erde am Rand des vierspurigen Highways. Sie hatte noch nicht einmal die Schlüssel aus ihrer Handtasche genommen, als sie Mitty eine der Teigtaschen essen sah. Geneva rollte mit den Augen. Der Mann hatte nicht einmal den Anstand, wenigstens so lange zu warten, bis sie weggefahren war.
Sie stieg in ihren Pontiac und rumpelte langsam von dem provisorischen Parkplatz, wobei sie nach Sattelschleppern und zu schnell fahrenden Wagen Ausschau hielt, bevor sie auf den Highway 59 abbog und Richtung Lark fuhr. Sie tuckerte die Dreiviertelmeile bis zu ihrem Laden in aller Stille, während sie in Gedanken eine Bestandsaufnahme machte. Sie hatte nur noch zwei Halbliterdosen Fruchtcocktail, acht Salatköpfe, Sirup für den Getränkeautomaten, Dr Pepper, von dem sie nie ausreichend Vorrat hatte, außerdem ein oder zwei Flaschen Ezra Brooks Whiskey, den sie für ihre Stammgäste unter der Kasse aufbewahrte. Sie fragte sich, ob der Sheriff wohl schon da war, ob sich dieses Mädchen, das einsam in ihrem Hinterhof gelegen hatte, noch immer dort befand. Sie war ein wenig besorgt darüber, wie sich das auf ihr Geschäft auswirken würde, doch hauptsächlich versuchte sie zu verstehen, was in Gottes Namen mit dem kleinen Ort passierte, in dem sie die ganzen neunundsechzig Jahre ihres Lebens verbracht hatte.
Zwei Leichen in einer Woche.
Was zum Teufel war nur los?
Vor Geneva Sweet’s Sweet, einem niedrigen Flachbau, der rotweiß gestrichen war, fuhr sie vom Highway runter. Das Café hatte geraffte Vorhänge in den Fenstern und ein Schild an der Ladenfront mit einem beleuchteten Pfeil, der auf die Eingangstür zeigte. Schwarzrot gestreifte Buchstaben verkündeten BBQ PORK SANDWICH $4.99 und DIE BESTEN TEIGTASCHEN IN SHELBY COUNTY. Sie parkte auf dem gewohnten Platz, den ausgefahrenen Reifenspuren von der Breite eines Pontiacs, neben dem Café, zwischen der Holzwand des Gebäudes und dem Unkraut auf dem öffentlichen Parkplatz auf der anderen Seite. Sie war seit Jahrzehnten an diesem Ort, seit damals, als er nur Geneva’s geheißen hatte und eine von Hand errichtete Bretterbude war, die aus einem einzigen Raum bestanden hatte. Die asphaltierten Parkplätze neben der Zapfsäule waren für Gäste. Und für Wendy natürlich, mit der Geneva gelegentlich Geschäfte machte. Ihr alter grüner Mercury parkte direkt vor dem Eingang. Der rostige, zwanzig Jahre alte Wagen sah aus wie eine Piñata, auf die man zu lange eingeschlagen hatte, und er war vollgestopft mit gebrauchten Nummernschildern, Eisenpfannen, zwei Perückenständern, alten Klamotten und einem kleinen Fernseher, dessen Antenne aus dem hinteren linken Fenster ragte.
Die winzige Messingglocke an der Cafétür bimmelte leise, als Geneva eintrat.
Zwei ihrer Stammgäste blickten von ihren Plätzen am Tresen auf: Huxley, ein Rentner aus dem Ort, und Tim, ein Fernfahrer, der Woche für Woche die Strecke Houston-Chicago zurücklegte. »Der Sheriff ist da«, sagte Huxley, als Geneva hinter ihm vorbeiging. Am Ende des Tresens öffnete sie die Klappe, die zu ihrer »Zentrale« führte, dem Bereich zwischen Küche und Gästen. »Ist vor dreißig Minuten aufgekreuzt «, sagte er, und sowohl er als auch Tim machten lange Hälse, um ihre Reaktion zu sehen.
»Muss den ganzen Weg hundertvierzig Sachen draufgehabt haben«, bemerkte Tim. Geneva presste die Lippen aufeinander und schluckte ihre Wut hinunter.
Vom Haken neben der Tür, die zur Küche führte, nahm sie eine Schürze. Sie war alt und verwaschen, mit zwei ausgeblichenen Rosen auf den Taschen.
»Bei andern hat’s n’ ganzen Tag gedauert – das hast du doch gesagt, oder?« Tim hatte sein Schinkensandwich zur Hälfte gegessen und redete mit vollem Mund. Er schluckte und spülte mit einem Schluck Cola nach. »Van Horn hat sich alle Zeit der Welt gelassen.«
»Der Sheriff?«, fragte Wendy von ihrem Hocker am anderen Ende des Tresens aus. Sie saß vor einer Reihe Einmachgläser, die mit dem Besten aus ihrem Garten gefüllt waren, dicken roten Paprikas, gehackten grünen Tomaten, eingelegt mit Kohl und Zwiebeln, und ganzen, in Essig konservierten Okraschoten. Geneva hob die Gläser der Reihe nach hoch, hielt sie gegen das Licht und prüfte den Dichtungsgummi.
»Ich habe noch ein paar andere Sachen draußen«, sagte Wendy, als Geneva einen Filzstift aus ihrer Schürzentasche zog und einen Preis auf jeden Deckel schrieb.
»Du kannst das eingelegte Gemüse und die Okra-Pickles dalassen«, sagte Geneva, »aber bei dem ganzen anderen Kram, den du zu verkaufen versuchst, muss ich nein sagen.« Sie nickte zum Fenster hin, vor dem Wendys Wagen stand. Wendy und Geneva waren im gleichen Alter, wobei Wendy je nach Zuhörer oder Stimmungslage ihr Alter anzupassen pflegte. Sie war eine kleine Frau mit männlich breiten Schultern und gespielter Gleichgültigkeit, was ihr Aussehen betraf. Ihr Haar war grau und mit Hilfe von Pomade zu einem strengen Dutt gebunden. Zumindest war es das gewesen, als sie es das letzte Mal gekämmt hatte, was zwischen drei und sieben Tage her sein durfte. Sie trug das Unterteil eines gelben Hosenanzugs, ein verwaschenes T-Shirt der Houston Rockets und Herrenhalbschuhe.
»Geneva, die Leute kaufen gern alten Kram am Wegrand. Das gibt ihnen das Gefühl, im Wohlstand zu leben. Sie nennen es Antiquitäten.«
»Ich nenne es Schrott«, sagte Geneva. »Und die Antwort lautet nein.«
Wendy warf einen Blick durch das Café – von Geneva zu Tim und Huxley und weiter zu den beiden anderen Gästen in einer der Sitznischen aus Kunstleder – bis zum anderen Ende des Ladens, wo kein Essen mehr serviert wurde und Isaac Snow viereinhalb Quadratmeter gemietet hatte, die einen Spiegel und einen erbsengrünen Friseurstuhl beherbergten. Isaac war ein schmächtiger Mann in den Fünfzigern mit hellbrauner Haut und kupferfarbenen Sommersprossen. Er redete nur so viel wie nötig, doch für einen Zehner schnitt er jedem, der darum bat, die Haare. Ansonsten ließ Geneva ihn ein wenig fegen, damit er sich die drei Mahlzeiten am Tag verdiente, die er in ihrer Küche zu sich nahm.
Der Herr hatte keine Seele erschaffen, die von Geneva nicht etwas zu essen bekam.
Ihr Laden war aus der Idee heraus entstanden, Schwarzen, die in diesem County sonst nirgendwo einkehren konnten, einen Rastplatz zu bieten. Man konnte eine ordentliche Mahlzeit und einen Schluck Whiskey bekommen, sofern man es für sich behielt; sich einen anständigen Haarschnitt verpassen lassen, bevor man weiter zu den Verwandten im Norden oder einem Job fuhr, der hoffentlich noch zu haben war, wenn man auf der anderen Seite von Arkansas ankam, weil es sonst keinen Grund gab, sich auf den Weg zu machen, wenn man Arkansas nicht hinter sich lassen wollte. Etwas über vierzig Jahre nach dem Tod von Jim Crow hatte sich nicht viel geändert: das Geneva’s war noch genauso wie früher, einschließlich der vergilbten Kalender an den Wänden des Cafés. Es war eine feste Größe am Rand des Highways, auf dem unaufhörlich Menschen vorbeizogen.
Wendy blickte in die schwarzen Gesichter im Raum und versuchte, den Grund für die gedrückte Stimmung und das, was in der Luft lag, zu finden. Die Jukebox hinter ihr spielte einen der fünfzig Songs, die rund um die Uhr dudelten, diesmal eine Ballade von Charley Pride mit einem Gospelwehklagen, einer flehentlichen Bitte um Gnade.
Einen Moment lang sagte keiner etwas.
An Geneva gewandt bemerkte Wendy schließlich: »Wieso bist du heute Morgen so gereizt?«
»Sheriff van Horn ist draußen«, sagte Huxley und nickte zur Rückwand des Cafés, die mit sich wellenden Wandkalendern der letzten fünfzehn Jahre bedeckt war – die für alles Mögliche warben, von Malzlikör über das örtliche Bestattungsinstitut bis hin zur gescheiterten Kandidatur von Jimmie Clark zum County Commissioner. Hinter der Rückwand befand sich die Küche, wo Dennis einen Topf mit Ochsenschwänzen zubereitete. Geneva konnte Lorbeerblätter riechen, die in Rinderfett mit Knoblauch, Zwiebeln und Flüssigrauch durchzogen. Hinter der Fliegengittertür der Küche lag ein weitläufiges Grundstück, auf dessen roter Erde Butterblumen und Fingerhirse wuchsen, und das sich bis zum Ufer eines rostfarbenen Bayous erstreckte, der die westliche Grenze von Shelby County bildete. »Er hat drei Deputys mitgebracht.«
»Was ist los?«
Geneva seufzte. »Sie haben heute Morgen eine Leiche aus dem Bayou gezogen.«
Wendy blickte entgeistert. »Noch eine?«
»Eine weiße diesmal.«
»So ein Mist.«
Huxley nickte und schob seinen Kaffee weg. »Erinnert ihr euch noch, wie unten in Corrigan ein weißes Mädchen ermordet wurde? Sie haben fast jeden Schwarzen im Umkreis von dreißig Meilen verhaftet. Haben sie aus Kirchen und Spelunken geholt, aus den Geschäften, die im Besitz von Schwarzen waren, haben jeden, der ihrer Vorstellung von einem Mörder entsprach, verfolgt.«
Geneva spürte, wie sich in ihrer Brust etwas löste, wie die Furcht, die sie in Schach zu halten versucht hatte, in ihr aufstieg, bis sie sie beinahe von innen heraus erstickte.
»Aber wegen dem Schwarzen, der letzte Woche ein Stück die Straße rauf ermordet wurde, hat niemand auch nur einen Finger gerührt«, sagte Huxley.
»Sie verschwenden keinen Gedanken mehr an den Mann«, sagte Tim und warf eine fettige Serviette auf seinen Teller. »Nicht, wenn ein weißes Mädchen tot aufgefunden wird.«
»Merkt euch meine Worte«, sagte Huxley und blickte ernst in jedes schwarze Gesicht im Café. »Jemand wird dafür einfahren.«