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Darren betrat das Café durch den Vordereingang ein paar Schritte hinter Wally, der zum einzigen freien Platz am Tresen ging. Allerdings setzte dieser sich nicht, sondern stand da wie ein Bär, der Futter witterte. Seine Körperhaltung hatte etwas Besitzergreifendes, die Füße mit den Straußenlederstiefeln breitbeinig auf den Linoleumboden gepflanzt, während seine kräftigen Hände mit den Leberflecken den Tresen umklammerten. Tim, der junge Trucker, ging so weit wie möglich auf Distanz zu ihm, indem er sich von seinem Hocker gleiten ließ und in eine Nische am Fenster setzte. Huxley, der alte Mann, der jetzt allein dasaß, beäugte Wally über seine Lesebrille hinweg. Geneva, der Wally nicht einmal ein Nicken schenkte, stellte eine leere Kaffeetasse vor ihn hin und goss ihm aus einer Kanne mit orangefarbenem Deckel ein, die neben der gewölbten Glasvitrine mit den Backwaren stand, eckigen Rosinenbrötchen und Teigtaschen wie die, für die Darren als Kind um Fünf-Cent-Stücke gebettelt hatte. Wally dankte ihr für den Kaffee, und Geneva nickte ihm kurz, aber nicht unfreundlich zu. Darren war vom Umgang der beiden miteinander fasziniert. Als Wally nach seinem Geld griff, um zu zahlen, hielt Geneva bereits das Wechselgeld für den Zwanziger bereit, den er aus seiner silbernen Geldklammer zog. Es gab da eine alte Vertrautheit, die jedoch ziemlich reserviert war.

Wallace Jefferson III., wie Darren herausfinden sollte, gehörte das seltsame Backsteingebäude auf der anderen Straßenseite, von dessen Wohnzimmer aus man einen Blick auf Geneva Sweet’s Sweets hatte. »Eine echte Schande, das Ganze«, sagte Wally mit rauer Raucherstimme. »Über den Highway kommt alles mögliche Gesindel hierher. Van Horn und seine Männer finden das bestimmt verdächtig, dass dieses Mädel hinter deinem Laden gefunden wurde. Du hast hier Kontakt zu ’ner Menge Leute, Trucker von Chicago und Detroit hoch im Norden bis zu welchen aus Laredo. Jeder von ihnen könnte was damit zu tun haben. Es heißt, Missy sei vielleicht vergewaltigt worden.«

»Haben Sie ein Telefon, das ich benutzen kann?«, fragte Darren.

»Was ist mit dem in Ihrer Hand?«, fragte Geneva mit einem Nicken zu seinem Handy. Ihre Freundlichkeit von vorhin, als sie das Essen serviert hatte, war verschwunden. Sie sah ihn jetzt an, als verstünde sie nicht, weshalb er noch immer hier war. Er hatte gegessen und bezahlt und war mit niemandem hier verwandt oder befreundet. Sie war damit beschäftigt, Salz- und Pfefferstreuer aufzufüllen, und das in einer düsteren Stimmung, die sie unverhofft wie eine Sturmflut getroffen hatte.

»Der Akku ist leer«, erwiderte er.

»Irgendwann sind die Akkus von unseren Gehirnen auch leer, wenn man zu viel mit den Dingern rumhantiert«, sagte Wendy, die gerade aus der Küche kam. Offensichtlich war sie Geneva durch die Hintertür gefolgt. Sie ließ sich seufzend auf einen Kunstlederstuhl mit gerader Lehne sinken, der in einer Ecke hinterm Tresen stand. Geneva zeigte mit einem Pfefferstreuer auf ein Münztelefon in einer Ecke hinter einem Plastikvorhang, auf den Enten aufgedruckt waren. Darren dankte ihr und durchquerte den Raum, wobei er zweimal »Entschuldigung« sagen musste, bevor Tim seine Beine anzog, die er aus der Nische gestreckt hatte. Tim hatte anscheinend beschlossen, sich Genevas Spielchen anzuschließen und ihm ebenfalls die kalte Schulter zu zeigen. Weshalb er sich Zeit damit ließ, Darren vorbeizulassen.

Wie Darren vermutet hatte, lag auf einem schmalen Holzbrett hinter dem Vorhang ein Telefonbuch von Timpson und Umgebung – so dünn wie ein Grundschuljahrbuch. Besser zufällig auf das Telefonbuch stoßen als den ganzen Laden darauf aufmerksam zu machen, dass er jemanden suchte. Er blätterte es durch auf der Suche nach Keith Dale, Missy Dales Ehemann und ehemaliger Insasse des Texas State Penitentiary in Huntsville, Tummelplatz der Arischen Bruderschaft von Texas. Es war nur eine vage Spur in einem Doppelmord, zu vage, um einen Durchsuchungsbefehl zu rechtfertigen. Ohne Marke konnte er hier nicht viel ausrichten und er stellte fest, dass er ihre Macht vermisste.

Er dachte an das erste Mal, als er eine aus der Nähe gesehen hatte.

Darren war zwölf gewesen, als William Mathews zu einem der ersten schwarzen Texas Ranger in der beinahe zweihundertjährigen Geschichte des Departments ernannt wurde. Er hatte mit den Gatney-Jungs von nebenan mit Wasserspritzpistolen gespielt, als der Onkel eines Tages in seinem blauen GM Pick-up vorgefahren war und ihn zu sich gewinkt hatte. Er sollte ein paar Fallakten aus dem Sheriffbüro im benachbarten Shepherd abholen.

Komm, fahr mit, mein Sohn .

Darrens feuchte Beine klebten auf dem Plastiksitz in der Fahrerkabine. Er starrte die ganze Zeit auf die Waffe, die Pop an seiner Seite trug, eine Kaliber 357 mit einem Griff aus poliertem Walnussholz, auf dem sich ein Sonnenstrahl spiegelte, der durch das Beifahrerfenster fiel, als sie durch den südlichen Teil des Countys fuhren. William, der frisch verheiratet und dabei war, mit Naomi in Houston eine Familie zu gründen, war in Huntsville stationiert. Clayton, der seit der Grundschule in Naomi verliebt gewesen war, hatte sie jahrelang heftig umworben, sie aber an seinen Zwillingsbruder verloren, während er auf der juristischen Fakultät war. Es tut mir leid, Clay, hatte Naomi gesagt, als sie und William ihre Verlobung bekanntgegeben hatten. Von da an hatte Clayton nicht mehr mit William gesprochen und ihn sogar aus ihrem gemeinsamen Geburtshaus in Camilla verbannt.

Sie lauschten einem John-Lee-Hooker-Song im Autoradio und William versprach ihm eine eiskalte Cola aus dem Laden im Ort. Darren war stolz, anderen Kindern im Vorbeifahren zuzuwinken, die keinen Ranger als Onkel hatten. Doch er wurde sichtlich angespannt, als sie am Highway-Schild von Shepherd vorbeikamen: EINWOHNERZAHL 1674. Sein Leben lang hatte man ihm eingebläut, die Ortschaft zu meiden, die, solange sich seine Onkel erinnern konnten, eine Klanhochburg im County gewesen war. Man hatte Darren eingeschärft, nie mit dem Fahrrad auf einer der Straßen zu fahren, die nach Shepherd führten.

Aber mit der Marke änderte sich das.

Die weißen Deputys vor Ort mussten zweimal hingucken, als William die Dienststelle betrat. Und sie erwiesen ihm einen solchen Respekt, wie Darren ihn noch nie von Weißen erlebt hatte. Ihnen blieb nichts anderes übrig: William hatte einen höheren Rang als sie alle. Bis zum heutigen Tag glaubte Darren, dass ihn sein Onkel auf diese Fahrt mitgenommen hatte, um ihm die Macht der Rangermarke zu demonstrieren. William ging schon damals davon aus, dass er den Kampf um die juristische Fakultät für Darren gewinnen würde, wie er auch den Kampf um Naomi gewonnen hatte.

Darren hörte Tim sagen: »Wir lassen uns das auf keinen Fall anhängen.«

»Wer ist wir , mein Sohn?«, fragte Wally. »Du bist doch’n Junge aus Houston, oder?«

»Lass das mit dem Jungen.«

»Ihr seid vielleicht empfindlich«, sagte Wally und betrachtete nacheinander das halbe Dutzend Schwarzer im Café. »Genau davor hat van Horn Angst, dass einer von euch hier auf die Idee kommt, dass irgendwas an der Sache mit dem Kerl, der ertrunken ist, faul ist …«

»Du meinst den, der ermordet wurde«, sagte Geneva.

»Dafür gibt’s nicht den geringsten Beweis, das weißt du genau.«

»Wir wissen gar nichts. Man erzählt uns ja nichts.«

Darren fand eine Adresse von Keith Dale, doch ohne Durchsuchungsbefehl gab es keine legale Möglichkeit, in die Wohnung des Mannes zu gelangen. Ein Schwarzer, der ohne Marke herumschnüffelte, würde sofort bezichtigt, einen Einbruch zu planen. Erneut fragte er sich, ob es richtig gewesen war, hierherzukommen. Was zum Henker glaubte er hier ausrichten zu können? Er war suspendiert, Herrgott noch mal. Ohne die Marke war er ein Niemand. Fahr nach Hause .

Doch der Durst zerrte ebenfalls an ihm. Es war bald fünf Uhr und er war sich nicht sicher, ob er es ohne einen kleinen Schluck, um die Anspannung zu lindern, bis Houston schaffen würde. Ein Drink, höchstens zwei.

»So was hatten wir hier nicht mehr, seit Joe gestorben ist«, sagte Huxley.

»Welchen von beiden meinst du?«, erwiderte Tim.

»Das reicht, Tim«, warf Geneva ein.

»So ’n Verbrechen«, sagte Wally, »halten ein paar Leute bestimmt für ’ne gute Gelegenheit, dich hier rauszudrängen. Sag mir, wenn du reden willst. Mein Angebot steht noch. Ich sorge dafür, dass du weiter dran teilhast.«

»Wenn ich dir den Laden verkaufen wollte, hätte ich das längst getan.«

Darren unterbrach sie, indem er sich zwischen Huxley und Wally schob, Ellbogen auf den Tresen gestützt. Er versuchte, Augenkontakt zu Geneva herzustellen, bevor er ging; seine Erziehung verlangte das, für ihre Zeit und das Essen. Wenn sie außerdem eine Kundenliste der letzten Tage anfertigen sollte, wollte er als völlig harmlos gelten. Für einen Mann, der ohne Kenntnis seiner Vorgesetzten unterwegs war, hatte er schon mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen als geplant.

»Danke, Ma’am.«

Geneva erwiderte nichts.

»Ich habe Laura gesagt, ich würde ihr was mitbringen«, sagte Wally.

»Wir haben Pfirsich und Apfelkraut.« Geneva zeigte auf die Teigtaschen in der Vitrine. »Wie viele willst du?«

»Vier von denen mit Pfirsich und zwei mit Apfelkraut.«

Sie schob den schweren Glasdeckel der Kuchenvitrine zurück. »Die mit dem Apfelkraut sind ein Experiment. Dafür berechne ich dir nichts.«

Wieder hielt Geneva das Wechselgeld bereit, bevor Wally einen weiteren Zwanziger hervorholen konnte – offenbar sein bevorzugtes Zahlungsmittel, egal wie hoch die Rechnung war. Darren fragte sich, ob er einen Haufen unbenutzter Fünfer und Zehner in der Kabine seines Siebzigtausend-Dollar-Trucks hortete, an dessen Windschutzscheibe noch immer die Schilder des Händlers klebten, und den er einen Steinwurf vom Eingang von Genevas Café abgestellt hatte. Als Darren draußen war, ging er an Wallys schwarzem Ford F-250 vorbei, der so auf Hochglanz poliert war, dass er sein müdes Gesicht darin sehen konnte. Es war ein langer Tag gewesen, den er mit einem gerechten Zorn begonnen hatte. Er kletterte in seinen neun Jahre alten Chevy, ließ den Motor an und fuhr auf dem Highway 59 in Richtung Eishaus. Das Mädchen, Missy Dale, hatte dort gearbeitet, weshalb sich Darren einreden konnte, hier draußen etwas Gutes zu tun, wenn er weiter Steine umdrehte.