Ihr Name war Randie Winston und sie hatte den Anruf vor drei Tagen erhalten – von ihrem Agenten, der sie in Saint Albans in der Nähe von London erreicht hatte, wo sie im Auftrag der britischen Vogue eine Modestrecke fotografieren sollte. Seither war sie nonstop gereist – zuerst eine Zugfahrt nach London, dann ein Achtstundenflug nach New York, wo sie umsteigen musste, um nach Dallas zu kommen, weil man ihr gesagt hatte, dass es von dort näher zum Sheriffbüro von Shelby County sei, wo sie hinfuhr, um Sheriff Parker van Horn zu treffen. Nur dass es nicht der Sheriff war, der sie in der winzigen Polizeistation in Center, Texas, empfing – eine Dreistundenfahrt zusätzlich zu den zwölf Stunden, die sie bereits unterwegs gewesen war –, sondern ein Deputy, höchstens neunzehn Jahre alt mit einem Absolventenring an der rechten Hand, der in seinen wulstigen Finger schnitt. Er war gerade dabei, einen Chili-Hotdog von einer Tankstelle zu verschlingen, als sie hereinkam, und wäre beinahe daran erstickt, als sie ihren Namen nannte. »Michael Wrights Frau«, sagte sie und brachte das letzte Wort kaum heraus, weil es ihr die Kehle zuschnürte.
Sie und Michael hatten seit über einem Jahr getrennt gelebt, doch sie war bis zum Schluss seine Frau gewesen, hatte alles stehen und liegen lassen und trug noch immer die Sachen, in denen sie aufgebrochen war. Sie war eine international gefragte Modefotografin, und Kaschmir und edler Schmuck, die zu ihrem Leben gehörten, machten sie hier zur Außenseiterin. Ihre Kameraausrüstung befand sich noch immer im Mietwagen, Darren versicherte ihr mehrmals, dass er sie holen würde, und wenn er die sechs Meilen zum Eishaus zu Fuß zurücklegen müsste. Er hatte in einem Motel am Highway ein Stück von Lark entfernt Zimmer reserviert. Sie zitterte, als der Truck auf den Highway fuhr und das Eishaus in Darrens Rückspiegel verschwand. Vor Erschöpfung und Trauer sank sie auf dem Beifahrersitz in sich zusammen. Sie war am Ende ihrer Kräfte.
Das Motel war ein hufeisenförmiges Gebäude mit zehn Zimmern und einem Neonschild auf einem etwa sechs Meter hohen Turm aus alten Autoreifen. Es hieß The Lucky Ten . Die Empfangsdame bot ihnen zwei Zimmer an, ohne dass Darren darum gebeten hatte, nachdem sie ihren Blick von dem Ehering an seiner Linken zu Randies Hand hatte gleiten lassen, an dem sich keiner befand. Sie trug eine wahrscheinlich selbst gemachte Dauerwelle, mit festen, spröden Löckchen in der Farbe von angelaufenem Silber. Sie war um die sechzig, hatte ein goldenes Kreuz um den fleckigen Hals hängen und sorgte dafür, dass jeder nur einen Schlüssel bekam. Darren hatte Randie das Zimmer mit dem größeren Bett überlassen. Jetzt saß sie auf der Kante und betrachtete die dicken gelben Vorhänge.
Darren saß auf einem Stuhl mit dunkelgrünem Kunstlederbezug. Seine Füße standen nebeneinander auf dem dicken Teppich, und er ließ seine Hände dort, wo Randie sie sehen konnte, und verzichtete auf Notizen. Er wollte, dass sie sich sicher fühlte.
»Der Sheriff hat also gar nicht mit Ihnen gesprochen?«
»Er war nicht im Büro«, sagte sie.
Sie hatte ihren Mantel ausgezogen, saß in Jeans und einem grauen T-Shirt da, und Darren konnte sehen, wie dünn sie war.
Sie hatte die Schultern hochgezogen und das Haar zurückgestrichen, und er sah mehr von ihrem Gesicht. Darren wusste, dass van Horn heute Nachmittag in Lark gewesen war, doch er sagte nichts. Er hatte den anderen Leichnam oder den Namen Missy Dale nicht erwähnt, und er würde es auch jetzt nicht tun – zumindest noch nicht.
Er konnte hören, wie auf dem Highway alle paar Minuten Sattelschlepper vorbeifuhren, spätabendlicher Lärm auf dem 59er, gefolgt von Inseln der Stille, wenn außer dem Quaken der Laubfrösche in den umliegenden Wäldern nichts zu vernehmen war.
»Ich habe einen seiner Deputys getroffen«, sagte sie. »Er hat mir eine Plastiktüte mit den Sachen meines Mannes gegeben und gesagt ›Es tut mir leid‹ und ›Der Leichnam ist in Dallas‹ und alles Mögliche, woran ich mich nicht mehr erinnere. Dann hat er mich gebeten, ihn anhand eines Fotos zu identifizieren.«
»Welche Sachen?«
Sie drehte sich um und tastete auf der Bettdecke nach ihrer Handtasche. Sie zog eine kleine Plastiktüte heraus, die feucht vom Kondenswasser und achtloser als jedes Lunchpaket gepackt worden war, ganz zu schweigen von der Unbrauchbarkeit als Beweismaterial. Tod durch Ertrinken hatte im offiziellen Obduktionsbericht gestanden. Doch laut Greg hatte sich der Gerichtsmediziner gefragt, ob es sich nicht doch um Mord handelte. Darren spürte, wie sich die Frage aufdrängte. Sie lag in dem fauligen Geruch, der aus der Plastiktüte drang, dem Gestank des Bayous, der über dem Fall waberte. Er hatte Latexhandschuhe in seinem Wagen, eine ganze Schachtel. Doch er wollte sie jetzt nicht allein lassen. Stattdessen betrachtete er den Inhalt so gut es ging durch das Plastik hindurch. In der Tüte waren eine Brieftasche aus schwarzem Leder, durchnässt und aufgequollen; ein goldener Ehering, ähnlich wie der an Darrens Hand, den er heute Morgen als hoffnungsvolle Geste im Bezirksgericht getragen hatte; ein BMW-Schlüsselanhänger, ein Laubblatt, das, schwarz und zerdrückt, in dem Silberring klemmte, an dem ein halbes Dutzend Schlüssel hingen. Alles, was von Michael Wright übrig war, wog insgesamt weniger als ein Pfund. »Das hat man bei seiner Leiche gefunden«, sagte sie. »Er muss ein paar Tage im Bayou gelegen haben, bevor man ihn entdeckt hat, und er war bis zur Unkenntlichkeit aufgequollen.« Die Stimme versagte ihr. Sie schluckte und versuchte weiterzusprechen. »Es war die Brieftasche – da habe ich gewusst, dass es Michael ist«, sagte sie. »Ich habe sie ihm an unserem letzten gemeinsamen Weihnachten geschenkt.« Sie fing wieder an zu weinen und sank langsam in sich zusammen, während sie salzige Tränen vergoss.
Darren ging ins Badezimmer, wo eine Schachtel mit billigen, rauen Kosmetiktüchern in einer Plastikbox steckte, die mit Abziehbildern von Rosen in pink und rot beklebt war. Er brachte ihr das gesamte Ding und stellte es neben sie aufs Bett, bevor er wieder seinen Platz ihr gegenüber einnahm. Stiefel auf den Boden, Hände gut sichtbar auf den Knien, so saß er unter einer gerahmten Farmlandschaft mit braunen und schwarzen Rindern.
Randie nahm ein Tuch aus der Box und schnäuzte sich. »Was er gesagt hat, ergibt einfach keinen Sinn.«
»Hat der Deputy außer dem Ertrinken noch etwas anderes erwähnt?«
»Er meinte, der Sheriff glaubt, Michael sei ausgeraubt worden.«
Das hörte Darren zum ersten Mal. »Ausgeraubt?«
»Dass er an dem Abend aus dem Eishaus gekommen sei. Der Deputy des Sheriffs meinte, er sei vielleicht betrunken gewesen.«
Wodurch belegt? , dachte Darren und erinnerte sich an Gregs Bemerkung, dass im Obduktionsbericht nichts von einem ungewöhnlichen Blutalkoholwert gestanden hätte, was Darren jetzt unbedingt schwarz auf weiß haben wollte.
Sie griff nach einem weiteren Kosmetiktuch. »Aber seine Kreditkarten sind noch immer in seiner Brieftasche.«
»Haben Sie sie angefasst?«, fragte Darren, obwohl ihm ein Blick auf die Tüte verriet, dass es keine Rolle spielte. Sämtliche Spuren auf den Gegenständen mussten bereits vernichtet worden sein.
»Ich habe sie in Anwesenheit des Deputys geöffnet. Da waren Kreditkarten und über hundert Dollar in bar drin. Vielleicht hat jemand seine Uhr gestohlen oder sie ist ins Wasser gefallen. Doch wie soll er ausgeraubt worden sein, wenn niemand seine Brieftasche angerührt hat?«
»Der Wagen«, sagte er, nicht weil er es unbedingt glaubte, doch jeder Cop müsste das in Betracht ziehen. Randie sah ihn an und nickte. »Michael hatte ein ›wirklich schickes Auto‹, wie es der Deputy ausdrückte, als wäre schon das ein Verbrechen, und er hat gesagt, dass jemand Michael vielleicht deswegen überfallen hätte.«
»Aber sein Wagenschlüssel ist hier«, erwiderte Darren.
»Er hatte einen Ersatzschlüssel im Handschuhfach. Jeder hätte ihn an sich nehmen können«, erklärte Randie. »Michael war nicht von hier, deshalb glauben sie, er hat sich verlaufen – wahrscheinlich, als er durch den Wald gegangen ist – und ist dann in den Bayou gestürzt. Sie sagen, dass der Wagen bestimmt noch auftauchen wird.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber Sie haben den Laden gesehen. Michael würde da nie reingehen.«
Derselbe Laden, in dem auch Missy Dale gearbeitet hat, dachte Darren.
»Wie war Ihre Ehe?«, fragte er unvermittelt.
»Wie ist Ihre?«, konterte sie.
Er sah zum ersten Mal die Frau hinter den Tränen, an der Art, wie sich ihre großen Augen zu zwei zornigen Schlitzen verengten und sich ihre Kiefermuskeln anspannten. Sie nahm ihm die Frage übel. Er ließ sich ebenfalls nicht gern übertölpeln. »Sie haben ›getrennt‹ gesagt, das ist alles«, sagte er.
»Er hat mich betrogen.«
Es war eine nüchterne Feststellung und sie überließ es anschließend ihm, die Stille zu durchbrechen.
»Es tut mir leid«, sagte er rasch und bemerkte zu spät, dass er ihr zum ersten Mal sein Beileid ausdrückte, und ausgerechnet dafür, dass ihr Mann eine andere Frau gevögelt hatte.
»Es tut mir leid«, sagte er noch einmal, diesmal wegen seiner Taktlosigkeit. Doch sie winkte ab und schwieg noch immer, während sie auf ihren nackten Ringfinger blickte. »Haben Sie ihn verlassen?«
»Nein«, sagte sie. Sie weinte nicht mehr, brachte die Worte jedoch nur mit Mühe heraus. »Ich habe gar nichts getan. Ich habe mich nicht scheiden lassen, aber ich habe ihm auch nicht verziehen. Ich bin nicht gegangen, aber auch nicht geblieben. Ich war monatelang beruflich unterwegs, habe jeden Auftrag angenommen, den ich kriegen konnte, hab so viel Distanz zwischen uns gebracht, wie ich konnte.«
»Haben Sie ihn geliebt?«
»Spielt das eine Rolle?«
Er sah erst jetzt, dass sie eine wunderschöne Frau war, und er verstand ein Universum nicht, in dem ein Mann, der von so einer Frau geliebt wurde, mit anderen herumvögelte. Aber er musste diese Frage stellen. Er wusste noch immer nicht, wieso Michael allein nach Texas gekommen war. »Hat er sich noch mit anderen Frauen getroffen?«
»Michael und ich haben monatelang nicht miteinander gesprochen«, sagte sie mit einer Förmlichkeit, die zuvor nicht da gewesen war, und mit der sie Darren wohl die kalte Schulter zeigen wollte.
»Wissen Sie, wieso er hierhergekommen ist, die ganzen tausend Meilen von Chicago?«
Sie blickte zum Bettrand, wo die Plastiktüte mit den Habseligkeiten ihres Mannes lag. Die Antwort war dort nicht zu finden. Und sie hatte offenbar auch keine.
»Was gab es in Lark?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie. In den sieben Jahren, die sie zusammen waren, sagte Randie, hatte Michael sie kein einziges Mal in seinen Heimatort mitgenommen, von dem sie fälschlicherweise geglaubt hatte, dass er ganz in der Nähe sei, weil sie Timpson mit Tyler verwechselt hatte.
Darren dankte ihr und sagte, er habe ein wenig Wilddörrfleisch und ein paar Cracker in seinem Truck, und sie sei eingeladen, nachdem die Empfangsdame ihnen mitgeteilt hatte, dass die Verkaufsautomaten des Motels nach Mitternacht gesperrt waren. Randie meinte, sie sei am Verhungern und nicht wählerisch. »Danke.« Sie zeigte ein mattes Lächeln, ein reflexartiger Ausdruck von Dankbarkeit, den Frauen sogar dann zustande brachten, wenn sie litten. Als Darren sich von seinem Stuhl erhob und in Richtung Tür ging, sprang sie vom Bett auf und packte ihn mit Panik im Gesicht am Arm, so als würde er nicht zurückkommen. Sie grub ihre Finger in seine Oberarme. »Finden Sie heraus, was ihm zugestoßen ist. Denn ich habe ihn geliebt – das habe ich«, sagte sie flehentlich, als dächte sie, er würde ihr sonst nicht helfen. »Finden Sie heraus, wer ihm das angetan hat, ja? Deswegen sind Sie doch hier, oder?«
Darren brachte es nicht über sich, ihr zu sagen, dass niemand ihn geschickt oder angefordert hatte, dass sie der einzige Mensch auf der Welt war, der ihn dort haben wollte.
Im Moment genügte das auch.
»Ruhen Sie sich aus«, sagte er und tätschelte ihren Arm. »Ich lasse Sie nicht im Stich.«
Er schickte Lisa erst dann eine SMS, als er wusste, dass sie bereits schlief. Ein Gespräch darüber, dass er noch nicht nach Hause kam, musste bis morgen warten. Randie war eingeschlafen, nachdem sie eine Packung Salzcracker verschlungen hatte, und er hatte leise ihre Zimmertür hinter sich zugezogen, ihren Mietwagenschlüssel in der anderen Hand. Dann wartete er. Er stand vor Zimmer 9 und hielt Wache. Gegen das schmale Stück Wand zwischen ihren Zimmern gelehnt, ließ er den Blick zwischen dem Parkplatz, der bis auf seinen Truck leer war, und dem vierspurigen Highway dahinter hin- und herwandern, bis er überzeugt davon war, dass ihnen niemand gefolgt war – weder die Schlägertypen aus der Bar noch jemand, der inzwischen wusste, dass die Ehefrau da war. Es wäre vor Sonnenaufgang einigermaßen sicher, doch er wartete noch eine Stunde, während er vermutete, dass keine Kneipe in Osttexas länger als bis zur Teufelsstunde um zwei Uhr morgens geöffnet hatte. Dann machte er sich auf den Weg den Highway entlang.
Er ging zu Fuß, Taschenlampe in der Hand, die 45er an der Hüfte, und einen halb vollen Flachmann Wild Turkey in der Gesäßtasche. Es war gerade genug Bourbon, um Lust auf mehr zu bekommen, doch es war besser als nichts. Er bewirkte, dass der Nachthimmel aussah, als wäre er niedrig, und als bestäubten die Sterne die Kiefernwipfel mit Schnee. Die Luft war inzwischen frostig, und er bedauerte es, seine Jacke nicht anzuhaben, doch das weiße Hemd war überlebensnotwendig, ein Reflektor vom Umfang eines Oberkörpers für die Scheinwerfer, die mit siebzig Meilen vorbeirauschten. Er hielt sich die meiste Zeit auf dem Randstreifen, knirschenden Kies und Erde unter seinen Füßen, ein Ohr auf Tiere im Wald gerichtet, der an den Highway grenzte. Um diese Uhrzeit waren die Scheinwerfer spärlich und die Ruhe half ihm, den Kopf freizubekommen. Er nahm ein, zwei Schlucke von dem Bourbon – um sich zu wärmen und um sich, wie er sich eingestand, Mut zu machen. In Lark zu bleiben, würde ihn etwas kosten; er wusste das. Er wusste nur nicht, was . Und er wusste auch nicht, was es mit den Morden auf sich hatte, die ihn so beschäftigten. Etwas an ihrer scheinbaren Einfachheit – Mordtheorien, die mühelos aufgestellt wurden, gestützt auf einen uralten Mythos – machte Darren misstrauisch.
Es fing schon mit der Reihenfolge an: Zuerst stirbt ein Schwarzer und anschließend das weiße Mädchen. Das war nicht das gewohnte Drehbuch, entsprach nicht den Warnungen, die er von seinen Onkeln erhalten hatte, ja nicht mit weißen Mädchen rumzumachen oder irgendeinen verfänglichen Kommentar ihnen gegenüber abzugeben, und es unterstellte Rachedurst für den Mord an Michael bei der schwarzen Bevölkerung vor Ort, der sinnlos war. Die Gäste im Geneva’s hatten nicht den Eindruck auf ihn gemacht, als wären sie zornig auf jemanden, bis auf die Gesetzeshüter vielleicht, die hinter dem Café herumschlichen, und er hatte auch kein böses Wort über Missy Dale gehört. Geneva hatte sogar mitfühlend über das Kind der jungen Frau gesprochen. Tim, der Trucker, schien ebenfalls besorgt zu sein. Es war Wally gewesen, der behauptet hatte, Missy sei wegen irgendwelcher Ressentiments seitens der schwarzen Bevölkerung in Lark gestorben und dass ihr Mord nicht ohne Grund und keineswegs zufällig im Anschluss an den von Michael Wright geschehen sei. Nun, Wally und Sheriff van Horn – der Geneva um eine Liste mit den Namen der Gäste gebeten hatte, die am Vorabend im Café gewesen waren – stellten Überlegungen in diese Richtung an. Er hörte Gregs Stimme in seinem Kopf, wurde an das Zögern seiner Sippschaft erinnert, an bloßen Zufall zu glauben – das heißt, der Sippschaft der Strafverfolger. Doch Cops, die dort suchten, wo nichts war, konnten ebenfalls ein Problem sein. Und je länger er darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher fand er es, dass jemand das neue BMW-Modell gesehen und es Michael gestohlen hatte, wobei er ihn allein und desorientiert in einer dunklen Nacht wie dieser zurückgelassen hatte. Schon möglich, dass er sich verlaufen hatte. Zumindest musste man es in Betracht ziehen. Und Missys Fall und ihr furchtbarer Tod hatten vielleicht nichts mit Michael Wright, aber viel mit der Klientel des Eishauses zu tun, den rauen Gesellen, die sie bediente, und von denen einer vielleicht eine Akte voller Anklagen wegen Vergewaltigung hatte. Man musste es in Betracht ziehen , sagte er sich erneut, auch wenn er seine Zweifel hätte.
Es waren beinahe sechs Meilen bis zum Eishaus und seine Füße schmerzten in den Stiefeln, einem Paar brauner Rindsleder-Ropers, die bestimmt auseinanderfielen, falls er vorhatte, den Weg ein zweites Mal zurückzulegen. Er war froh, als er den Mietwagen entdeckte, einen blauen, zweitürigen Ford, der allein auf dem dunklen Parkplatz stand. Die Neonreklame der Kneipe war ausgeschaltet und die Lichter im Inneren ebenfalls. Er war darauf gefasst gewesen, den Wagen demoliert vorzufinden, doch er sah unversehrt aus und durch die Scheiben sah er im Licht der Taschenlampe Randies Gepäck auf dem Rücksitz, einschließlich einer schwarzen Fototasche. Er war durchgeschwitzt von dem Fußmarsch und sobald er den Motor angelassen hatte, ließ er die Fenster herunter, um sich beim Fahren den Wind um die Nase wehen zu lassen.
Er fuhr jedoch nicht zum Motel zurück, noch nicht.
Er verließ den Parkplatz und fuhr in die entgegengesetzte Richtung, wobei in dem winzigen Wagen seine Knie beinahe seine Brust berührten, während er den 59er entlangfuhr. Er fand die Abzweigung auf die FM 19, die Landstraße, die durch den Wald zum Attoyac Bayou führte, der an Genevas Café und Wallys Eishaus vorbeiführte. Die beiden Lokale und ihre unterschiedlichen Welten waren nur rund eine Viertelmeile voneinander entfernt.
Darren holperte über den schmalen Streifen Asphalt, der keine Mittellinie hatte. Durch den Fahrzeugboden hindurch spürte er jede Bodenwelle und jeden Riss im Asphalt, und sein Kopf stieß alle paar Sekunden gegen das Wagendach. Er fuhr ein kurzes Stück die Straße entlang, bevor er hielt. Die Fahrertür knarrte, als er sie öffnete, um auszusteigen, das einzige Geräusch in der Dunkelheit außer dem gemeinschaftlichen Zirpen der Grillen und dem Quaken der Laubfrösche. Links und rechts von ihm ragten riesige Kiefern auf, die ihn und den kleinen Ford winzig aussehen ließen, während Mücken im Licht der Scheinwerfer tanzten. Aus Neugier griff er durch das geöffnete Fenster in den Wagen und schaltete die Scheinwerfer aus. Die Dunkelheit war absolut und beinahe zum Greifen, eine schwarze Samtdecke, bestickt mit Sternen, kleinen Lichtpunkten, die kaum hell genug waren, um die Hand vor Augen zu sehen. Darren wusste, dass man Michael hier gefunden hatte, einen Steinwurf vom Eishaus entfernt, doch was hatte er dort überhaupt zu suchen gehabt?
Falls die Theorie des Sheriffs stichhaltig war, war es ausgeschlossen, dass man Michaels Wagen vom Eishaus-Parkplatz gestohlen hatte. Michael war ein intelligenter Mensch, hatte einen Abschluss an der juristischen Fakultät gemacht, Herrgott noch mal. Bestimmt wäre er einfach den relativ gut beleuchteten Highway entlang zum Geneva’s zurückgegangen. Nein, irgendetwas hatte Michael auf diese Landstraße geführt und hier war ihm der Wagen gestohlen worden. Anders konnte es nicht sein . Um diese Uhrzeit, ohne dass auch nur ein Wagen auf dem Highway entlangfuhr – und die Scheinwerfer einem den Weg aus diesem Wald hätten weisen können –, konnte man im Dunkeln schnell die Orientierung verlieren und sich verlaufen, vor allem nach ein paar Drinks. Darren schätzte, dass er gerade ein Promille intus hatte, für einen Mann mit seinen Gewohnheiten nicht zu viel, um nicht mehr zu wissen, dass er aufhören sollte, doch war er auch nicht betrunken genug, um das Problem an der Theorie des Sheriffs zu übersehen.
Wie er feststellte, lag der Bayou in vielleicht hundert Metern Entfernung vor ihm. Wenn Michael ohne seinen Wagen dort zurückgelassen worden war, wieso sollte er dann auf ein Gewässer zugehen, das er nicht sehen konnte? Niemand, der bei Verstand war, würde das tun, was Darren jetzt tat: durch einen dichten dunklen Wald laufen, wo es keinen Weg gab. Doch sich dem Unbekannten zu stellen, war das, wozu er sich verpflichtet hatte, und noch hatte er die Marke nicht zurückgegeben.
Er ging einfach geradeaus, vorbei an der Stelle, wo die Landstraße eine Kurve gen Süden machte, und setzte seinen Weg zwischen den Bäumen hindurch fort, in die Richtung, in der er den Bayou vermutete. Er duckte sich unter tief hängenden Zweigen hindurch, wobei er die größeren beiseiteschob, in einer Hand noch immer seine Taschenlampe, deren schwacher Strahl in dem dichter werdenden Wald nicht viel ausrichten konnte. Als er sich gerade überlegte, ob er nicht umkehren sollte, um die Scheinwerfer des Fords zur Orientierung wieder einzuschalten, rutschte er aus. Der Sturz war nicht tief, doch vor Schreck konnte er ihn nicht aufhalten. Er drehte sich im Fallen, um sich an der Böschung festzuklammern, doch er fand nicht genug Halt und verlor dabei seine Taschenlampe. Mit den Stiefeln voraus landete er im Bayou, glitt ganz hinein und spürte, wie sich seine Klamotten mit Wasser vollsogen.
Er kniff Augen und Mund zu und ruderte mit den Armen, um an der Oberfläche zu bleiben. Einmal treten mit dem rechten Bein genügte, um den Grund des Bayous zu berühren. Dabei stieß er sich den Zeh in seinem Stiefel. Dem Schmerz folgte ein Erkenntnisblitz. Steh einfach auf, Mann. Steh auf . Innerhalb von Sekunden stand Darren, und das Wasser des Bayous reichte ihm gerade mal bis zur Hüfte. Da wusste er, dass Michael Wright unmöglich im Bayou gelandet und dort ertrunken war.