16

Falls Chris Wozniak gern gewusst hätte, warum der Texas Ranger, der den Tod von Michael Wright untersuchte, um neun Uhr morgens aus dem Motelzimmer der Ehefrau kam, behielt er es für sich. Zweimal sah er Randie an und fragte: »Und Sie sind die Witwe?«, als müsste er sich vergewissern. Er sprach ihr sein Beileid aus und sagte, dass er sie ebenfalls gern interviewen würde. »Mein Redakteur sagte, Sie kennen Teresa Martin.« Randie nickte, ohne ihn anzusehen.

»Wir waren zusammen auf der SAIC. Dem Kunstinstitut von Chicago«, fügte sie für Darren hinzu. Sie trug eine schwarze Hose und ein purpurfarbenes T-Shirt, das dünn wie Krepppapier war. Sie zitterte und hatte die Arme fest vor der Brust verschränkt. Darren war versucht, reinzugehen und ihren hellen Mantel zu holen, doch es war Oktober in Texas und noch vor Mittag würde es fünfundzwanzig Grad haben.

»Ich kenne das Institut«, sagte er. »Ich habe ein paar Jahre in Chicago gelebt.«

Sie blickte ihn eigentümlich an, so als würde die Information nicht zu den Stiefeln und der Marke des Mannes passen, der vor ihr stand. »Ach ja?«, fragte sie.

Darren nickte. »Ich war auf der juristischen Fakultät an der UC.«

Juristische Fakultät passte ebenfalls nicht. Doch bei der Erwähnung musste sie lächeln.

»Michael war auch an der UC«, sagte sie.

»Ja, das ist gut«, sagte Wozniak. »Ich möchte das alles genau wissen. Den Hintergrund des Opfers … und interessant, dass Sie diese Gemeinsamkeit haben«, sagte er zu Darren, als er in die Tasche griff und Stift und Block herausholte. Er machte eine kurze Notiz und wandte sich dann an Darren, der erschrocken über die Taktlosigkeit des Reporters war. »Hören Sie«, sagte er, »ich erwarte ein Kamerateam. In ein paar Stunden, hoffe ich. Und ich würde gern wissen, wie die Faktenlage ist, ganz zu schweigen von dem Drumherum, um’s mal so zu sagen. Da war irgendwas mit einer Redneck-Kneipe in dem Ort.« Er blickte zu Randie hinüber. Es gab noch mehr, was er wissen wollte, doch offensichtlich nicht in ihrer Gegenwart.

»Ich kann fahren«, sagte Darren schnell.

Wozniak hatte einen digitalen Camcorder in seinem Mietwagen, wollte so schnell wie möglich Bilder vom Tatort und meinte, dass Darren ihn während der Fahrt doch ins Bild setzen könnte. Aber Darren wollte wieder zu Geneva’s Café, wollte mehr erfahren über die Verbindung zwischen Missy Dale und dem Laden. Es war hilfreich zu wissen, dass Michael wahrscheinlich seine letzten Stunden in Wallys Eishaus verbracht hatte. Diese beiden Etablissements, die sich an den entgegengesetzten Ortsausgängen befanden, waren wie der doppelte Pol in der Geschichte dieser beiden Morde: Es war unmöglich, den einen ohne den anderen zu verstehen. Und jetzt hatte van Horn angeblich etwas gegen Geneva in der Hand. Darren hatte keine Ahnung, was das sein sollte.

Mehr denn je hatte er das Gefühl, dass der Schuss auf Genevas Café letzte Nacht ihm gegolten hatte. Die Arische Bruderschaft von Texas hatte einen Feind in Shelby County, vielleicht brachte er Randie tatsächlich in Gefahr, je öfter sie zusammen gesehen wurden. Er warf einen Blick auf den regennassen Highway, der am Motel vorbeiführte, und von dem Regenwasser in von Unkraut überwucherte Gräben lief, und entwickelte einen Plan. Er war nicht bereit, dem Reporter überhaupt etwas zu erzählen, solange er nicht wusste, wie das ins Gesamtbild passte. Und im Moment hatte er kein Gesamtbild.

Er wollte mehr über Missy und Lil’ Joe, Genevas Sohn, erfahren. Seit gestern Abend hatte ein Gedanke in seinem Kopf Gestalt angenommen. Wenn Keith Dale das von seiner Frau und Lil’ Joe gewusst hatte, wer wollte dann behaupten, er hätte seine Wut nicht an Michael Wright ausgelassen, weil ihm das bei Lil’ Joe verwehrt geblieben war? Es bot eine Erklärung für die Reihenfolge der Morde, die sich für Darren plausibel anhörte. Keith sieht, wie Michael und seine Frau vom Eishaus auf die Landstraße fahren, und er tötet den Schwarzen, von dem er glaubt, dass er mit seiner Frau rummacht. Zwei Tage später bringt er seine Frau in einem Wutanfall um. Beide Leichen werden im gleichen brackigen Wasser gefunden. Warum sich Keith zwei Tage Zeit ließ, bis er seine Frau tötete, konnte Darren nicht sagen. Er würde bei der Befragung im Sheriffbüro mehr über den Zeitablauf erfahren.

Doch zuerst wollte er mit Geneva sprechen.

Er warf Randie einen flehenden Blick zu und teilte Wozniak mit, dass Ranger angewiesen seien, der Familie eines Verstorbenen die Gelegenheit zu geben, mit der Presse zu sprechen, bevor es eine offizielle Stellungnahme vom Department gab. Die Lüge ergab keinen Sinn. Aber er war ziemlich groß und trug Marke und Waffe, was ein überzeugendes Gesamtpaket darstellte. Und Wozniak stellte es nicht infrage. Randie würde bei dem Reporter bleiben und über Michael und das, was sie über seine Reise nach Texas wusste – oder eigentlich nicht wusste – reden. Darren hatte keine Einwände. Es war ihre Geschichte. Und es würde ihm Zeit verschaffen. Sie fragte, wann er zurück sei und sah dabei etwas verloren aus. Er erwähnte die Befragung von Keith Dale nicht vor dem Reporter, doch er blickte sie an und gab ein Versprechen. Er wäre bald zurück.

Wendy saß vor dem Café, als er mit dem Chevy auf den Parkplatz fuhr, der noch immer voll war. Geneva war mindestens genauso beschäftigt wie am Vormittag, als er gegangen war, und er wusste nicht, wie schwierig es werden würde, sie allein zu erwischen. Das Thema war heikel und privat. Bis es das nicht mehr ist , dachte er. Lark war wirklich ein winziger Ort. Jeder bei Geneva’s schien zu wissen, dass Lil’ Joe Zeit im Eishaus verbracht hatte und Lynn, die Barkeeperin, hatte auf Missys Vorliebe für Schwarze hingewiesen. Vielleicht war die Beziehung zwischen Missy und Lil’ Joe ja allgemein bekannt gewesen, auch wenn nicht darüber gesprochen wurde.

»Sie schnüffeln hier noch immer herum?«, fragte Wendy.

Sie hatte eine Dose Bier im Schoß, gemeinsam mit ihrer rostigen 22er, und wachte über das heutige Warenangebot: Marmeladengläser und gusseiserne Töpfe, ein hölzerner Perückenhalter und eine gelbrote Coca-Cola-Kiste, die bestimmt dreißig Jahre alt war. Es war Krempel, über den sie eindeutig bei sich zu Hause gestolpert war, Gegenstände, die, von einer schillernden alten Dame auf einer Decke drapiert, genügend historische Bedeutung hatten, um sich damit ein kleines Taschengeld zu verdienen. Darren bewunderte den Schwindel. »Die erlauben Ihnen nicht, dass Sie jemanden wegen der Morde verhaften, keinen von denen«, sagte sie. Es hatte aufgehört zu regnen und die Sonne brach zwischen zwei Wolken hervor.

Wendy beschirmte ihre Augen mit einer Hand.

Darren lächelte und sagte: »Erst recht ein Grund, mir die Wahrheit zu sagen.« Dann sagte er ohne Überleitung: »Das Kind ist also von Lil’ Joe, stimmt’s?«

»Sieh an, da hat aber einer die Weisheit mit Löffeln gefressen.«

»Und Geneva weiß es?«

Wendy sah ihn an, als wäre er schwer von Begriff.

»Keith ebenfalls?«, fragte er.

»Er hat dem Jungen seinen Namen gegeben, aber das kann niemanden hinters Licht führen.«

»Wieso zum Henker will van Horn Listen von Genevas Gästen, von Leuten, die in Lark nur einen Zwischenstopp machen, wenn der Ehemann der Toten das Kind eines anderen großzieht?«, fragte Darren. Ein Kind, das Keith und seine Familie bei Wally und Laura Jefferson abgeladen hatten, eine nachträgliche Lossagung von einem Jungen, der nicht von ihnen abstammte. Wendy winkte ihn neben sich, damit sie nicht die ganze Zeit in die Sonne starren musste. Also stellte er sich unter das Vordach und in dem bisschen Schatten, den es bot, sah er, dass Wendys Augen von einem helleren Braun – einem warmen Honigton – waren, als er gedacht hatte. Sie sagte: »Sie sind ein Junge aus Texas, Sie wissen, wie der Hase läuft.«

Wally sei es gewesen, der angefangen habe, Gerüchte zu streuen.

»Er hegt ’n bösen Groll.«

Wendy war sich sicher, dass er den Sheriff in eine Richtung gelenkt hatte, die ihm nützlich war.

»Wissen Sie, die Familie von Wallace Jefferson hat diesen Ort aufgebaut«, sagte sie.

Lark war ursprünglich eine Plantage gewesen, vor über einhundertsiebzig Jahren. »Das dort ist der alte Familiensitz«, sagte sie mit einem Nicken in Richtung Wallys Haus auf der anderen Straßenseite. Wallys Familie bildete sich etwas darauf ein, entfernt mit dem dritten Präsidenten der Nation verwandt zu sein und betrachtete sich als direkte Erbfolgerin der amerikanischen Geschichte. Und wie der alte Thomas Jefferson prosperierten sie als Sklavenhalter, mit reinem Gewissen und vollen Taschen. Juneteenth und damit die Abschaffung der Sklaverei änderte die Situation für sie, aber nicht sehr; es gab immer eine Möglichkeit, ein paar Dollar zu verdienen. Die meisten Schwarzen in Lark stammten aus Familien von Baumwollpflückern, die ihr Leben als Arbeitssklaven gegen ein Leben mit erdrückenden Pachtschulden eingetauscht hatten, nur ein Sprung vom offenen Feuer in die Bratpfanne, von der Gewissheit der Hölle in die langsame, quälende Folter der Hoffnung.

Die Jefferson-Familie verdiente eine ordentliche Stange Geld, als der Staat einen brandneuen Highway direkt durch die Ortsmitte bauen ließ. Wendy vermutete, es lag an seinem Geschäftssinn, dass Wally eine Generation später noch immer in hochgezüchteten Trucks herumfahren und Diamantringe tragen konnte. Das und die Tatsache, dass Wally neunzig Prozent des Grund und Bodens in diesem Zipfel des Countys besaß – alles, bis auf Genevas Laden. Darren fragte sich, wie eine junge, alleinstehende Schwarze in den Sechzigerjahren ein Grundstück am Highway kaufen konnte. »Genau das versuche ich Ihnen gerade zu erzählen.«

Geneva Marie Meeks kam nie über die elfte Klasse hinaus, weil in dem Jahr ihr Vater krank wurde und sich nicht länger um die Baumwolle auf seinen zehn Morgen kümmern konnte. Ihre Mutter und Brüder packten mit an, doch die Familie geriet mit den Zahlungen so sehr in Rückstand, dass sie beschloss, sogar die Jüngste, Geneva, zum Arbeiten zu schicken. Sie hatte früh kochen gelernt, hatte die sechsköpfige Familie mit Essen versorgt, als sie kaum groß genug war, um an das oberste Regal im Küchenschrank zu kommen, weshalb sie eine Beschäftigung in Jeffersons Küche annahm – was hieß, an sechs Tagen in der Woche Frühstück, Mittag- und Abendessen zuzubereiten wie auch das Lunchpaket für Wallace Jefferson III. zu packen, der in Timpson auf die Highschool ging und einen kleinen Ford Fairlane besaß, den ihm sein Vater gekauft hatte, sodass er zweimal am Tag stilgerecht den Highway entlangflitzen konnte. Wally trug immer ein bisschen zu dick auf. Doch er vergötterte seinen Vater und imitierte ihn in allem, angefangen damit, seine Reithose eng um die Hüften zu tragen, festgehalten von einem Gürtel mit Sterlingsilberschnalle, bis zu der vornehmen Art, durch den Ort zu flanieren, den Damen die Tür aufzuhalten und niemals das Wort Nigger in gemischter Gesellschaft zu benutzen. Wallace Jefferson II., der von seinen Leuten Jeff genannt wurde, war damals zum zweiten Mal verheiratet. Nachdem seine erste Frau, Wallys Mutter, überraschend gestorben war, war er regelmäßig bis nach Marshall und Dallas gefahren, um auf Zusammenkünften der Kirchengemeinden nach einem braven Mädchen zum Heiraten Ausschau zu halten, um wieder ein richtiges Zuhause zu haben. Doch die zweite Mrs. Wallace Jefferson II., Phyllis Slatterly of Longview, blieb ihm nicht lang erhalten, da sie die Freuden des Plantagenlebens weit überschätzt hatte. Ihr wurde bald langweilig in einem Ort mit gerade mal zweihundert Einwohnern, von denen viele zu schwarz und zu arm waren, um ihre soziale Stellung als Mrs. Wallace Jefferson II. ausreichend würdigen zu können. Außerdem musste sie beinahe drei Stunden bis nach Dallas fahren, um Jeffs Geld auf befriedigende Weise verpulvern zu können. Es dauerte keine achtzehn Monate, bis sie die Flucht ergriff und die Ehe auf dem Amtsgericht ihres Heimatortes annullieren ließ. Jeff ließ sie gehen und zog seine Jungs – Wally und seinen jüngeren Bruder Trent, der in seinem ersten Jahr an der Texas A&M University bei einem Autounfall ums Leben kam – allein groß. Er fand sich mit seinem Leben als Junggeselle ab und gab die Liebe auf. Weshalb er überhaupt nicht auf Geneva vorbereitet war.

Sie war viel zu jung für ihn, das wusste er.

Tatsächlich entgingen ihm die Blicke nicht, die sein älterer Sohn Wally Geneva zuwarf, wenn sie durch das Zimmer ging, in dem er sich gerade aufhielt, oder wie Wally ihr eine kalte Cola den ganzen Weg von Timpson mitbrachte und sie bat, eine Pause einzulegen und sich zu ihm auf die Verandastufen zu setzen. Wally und Geneva lagen altersmäßig nicht weit auseinander, von ihrem Temperament her jedoch schon. Selbst mit achtzehn war er noch ein Wichtigtuer, der seinen eigenen Ansprüchen hinterherhinkte und gern mit Geld prahlte, das er nicht verdient hatte. Geneva war ein stilles Mädchen, klug und witzig, wenn man sie in der richtigen Stimmung antraf, und sie wusste, was harte Arbeit war. An zwei oder drei Abenden in der Woche blieb sie länger, um Essen für den nächsten Tag vorzubereiten, damit sie morgens mehr Zeit hatte, um Essen für ihre eigene Familie zu kochen.

So kamen sie ins Plaudern, der ältere Jefferson und Geneva. Spät am Abend, einen Whiskey auf dem Küchentisch, sah Jeff Geneva dabei zu, wie sie Teig für Klöße knetete oder einen Kohl Blatt für Blatt wusch, um sicher zu sein, dass sie sämtliche Raupen erwischt hatte. Ein paarmal erbot er sich, ihr zu helfen, doch sie sagte ihm, er solle sich wieder hinsetzen, und das tat er auch.

Sie redeten über die Schule. Vermisste sie sie? Ja.

Sie redeten über ihren Daddy. Ging es ihm besser? Nein.

Sie redeten über Jeffs erste Frau und dass er immer noch wegen ihr weinte.

An manchen Abenden tauschten sie alte Familiengeschichten aus, seine Vorfahren gegen ihre.

Er hätte die Finger davon lassen sollen, doch sie war so verdammt hübsch.

»Sie wird es Ihnen erzählen«, sagte Wendy. »Sie wird Ihnen erzählen, dass sie sich in ihn verguckt hat.«

Jeff ging dazu über, Geneva an den Abenden, an denen sie länger blieb, nach Hause zu fahren. Sie wohnte kaum zehn Minuten entfernt, doch irgendwann hatte er ein seltsames Gefühl dabei, sie nach Mitternacht zu Fuß nach Hause gehen zu lassen. Und auch sonst hatte er ein seltsames Gefühl. Ein heißes Prickeln auf dem Hals, wenn sie ihn anblickte. Ein schreckliches Verlangen unterhalb der Gürtellinie, wenn sie zu dicht neben ihm stand. Und ein Bedürfnis, sie überall zu berühren, zu erfahren, wie sich diese Locken anfühlten, wenn er sie um seine Finger wickelte.

Eines Abends sagte sie zu ihrer Mutter, dass die Jeffersons sie die Nacht durcharbeiten lassen wollten und als Jeff in seinen Pick-up stieg, um sie wie gewohnt nach Hause zu fahren, bat sie ihn, stattdessen irgendwo zu halten. Er blickte in der Kabine zu ihr hinüber und spürte das Blut in seinem Körper rauschen. In dem Wissen, was passieren würde, kaute er auf seinen Fingernägeln, als er bis ganz zur Grenze des Grundstücks fuhr, auf dem sein Herrenhaus stand. Er hatte noch nie ein farbiges Mädchen gehabt, weshalb er, als er sie zum ersten Mal küsste – ein Kuss, der beinahe eine Stunde dauerte – nicht wusste, ob es Geneva war, die so köstlich schmeckte, oder ob es an ihrer Hautfarbe lag.

Es war ihr erstes Mal, und er nahm sich vor, es langsam angehen zu lassen.

Doch er konnte nichts für das, was geschah. Bald schon stand der Truck wippend auf dem Feld, während sich Jeff mit der einen Hand am beschlagenen Beifahrerfenster abstützte und mit der anderen ihre linke Hüfte umfasste. Sie bewegten sich rhythmisch, Geneva schrie auf und biss ihn ins Ohrläppchen. In weniger als zehn Minuten war es vorbei und sie lagen vorn im Truck beisammen, bis die Sonne aufging.

Es war möglich, dass Wally nicht mitbekommen hatte, was geschehen war, als er am nächsten Tag zum Frühstück die Treppe herunterkam und Geneva zur Arbeit »erschien«, wobei sie noch immer die Sachen vom Vortag trug. Doch was er mit Sicherheit mitbekam, war, dass sein Vater kurz nach dieser schicksalhaften Nacht ohne ein Wort der Erklärung damit begann, eine kleine Hütte direkt gegenüber von ihrem Zuhause am Highway zu bauen. Er errichtete sie eigenhändig und zahlte Isaac, der für die Jefferson-Familie Arbeiten auf dem Grundstück erledigte, fünf Extradollar die Woche, damit er das Holz zurechtsägte. Isaac war damals erst zwölf und genauso dickköpfig wie heute, erzählte Wendy. Wally dachte zuerst, es würde ein Haus für Geneva, was schon schlimm genug war, doch ein Café auf dem Grundbesitz der Familie ärgerte den Jungen noch viel mehr. Sein Daddy hatte dem Mädchen, das er, Wally, liebte, ein Geschäft errichtet. Jeff malte das Schild mit ihrem Namen darauf persönlich von Hand, und es war Genevas Idee, ein paar Lichter außen anzubringen, um ihren Laden fröhlich und einladend zu gestalten. Es war damals das einzige schwarze Café in weitem Umkreis, und sie machte ordentlich Umsatz, genug, damit ihre Familie schließlich das gepachtete Farmland aufgeben konnte. Als ihr Daddy schließlich am Krebs starb, begrub sie ihn in einem mit Satin ausgeschlagenen Sarg und hatte genug Geld für einen Marmorgrabstein und ein Meer von Blumen – Lilien, die Lieblingsblumen ihrer Mutter. Sie bildeten eine seltsame Familie, Jeff, der zu den Mahlzeiten ins Restaurant kam und am selben Tisch aß wie die farbige Familie, die für ihn arbeitete, und Wally, der sich weigerte, ihnen Gesellschaft zu leisten.

Jeder, der sie gesehen hatte, hätte behauptet, sie wären glücklich, Geneva und Jeff.

Doch dann kam Joe.

An dem Abend, als sie Jeff von dem Musiker erzählte, war Joe bereits seit zwei Tagen im Trailer hinter dem Café. Die beiden waren verliebt und hatten sich vom ersten Moment an die Wahrheit gesagt. Und Joe hatte genug davon, sich zu verstecken.

Sie platzierte Jeff am besten Tisch und brachte ihm ein Stück Zitronenbaiser-Torte und ein Glas Whiskey, was er beides nicht anrührte. Er hatte sie mit dem viel jüngeren und viel schwärzeren Mann gesehen und sagte nur: »Ist es das, was du willst, Neva?« Und als sie das bejahte, stand er vom Tisch auf.

»Na schön.«

Das waren die letzten Worte, die er je mit ihr sprach.

Joe fand Jeff mit dem Geld seiner Gagen ab und Jeff, Gott sei seiner Seele gnädig, war innerhalb eines Jahres tot. Doch Geneva war noch immer da und verdiente gutes Geld mit Wallys Grund und Boden, jedenfalls sah er das so.

Sie hatte es ihm gestohlen, und seit Jahrzehnten bedrängte er sie, es ihm zu verkaufen, doch nur, um es abzureißen. »Das ist das Problem mit ihm, verstehen Sie?«

»Und wann genau nach Joes Ankunft wurde Lil’ Joe geboren?«

Es war wirklich eine heikle Angelegenheit.

»Junge, ich hab das nicht im Kalender stehen«, sagte Wendy. »Aber wenn Sie wissen wollen, ob Lil’ Joe mit Joe verwandt ist, dann ist die Antwort nein. Spielte keine große Rolle. Joe liebte den Jungen, als wär’s sein eigener. Solche wie Joe gibt’s nicht mehr.«

»Dann waren also Wally und Lil’ Joe Brüder?«

»Sie kapieren schnell«, sagte sie mit einem Augenzwinkern.

»Das Baby – mein Gott, dann ist Missys Kind Wallys Neffe. Weiß Wally das?« Keith Jr. war seit dem Mord in seiner Obhut.

»Ich weiß nicht, was dieser Mann weiß.«

Eine korpulente Schwarze kam aus Genevas Café und fuhrwerkte mit einem Zahnstocher in ihrem Mund herum. Sie warf einen Blick auf Wendys Ware vor der Tür und beugte sich hinunter, um sie sich genauer anzusehen, besann sich und watschelte zu ihrem burgunderroten Honda Civic. Der Wagen neigte sich stark nach links, als sie sich hinters Steuer setzte, und Wendy sagte: »Ich hab ein Korsett in meinem Wagen. Bestimmt hätte sie das gekauft.«

Als der Honda zurückstieß und den Parkplatz verließ, bot sich Darren ein seltsames Bild. Ein Streifenwagen vom Shelby County fuhr mit blauweiß blinkenden Lichtern auf den Parkplatz. Die Sirene war ausgeschaltet, für Darren passten Geräuschkulisse und Geschwindigkeit nicht zusammen, was ihm das Gefühl gab, die Welt um ihn herum bewegte sich in Zeitlupe. Ein zweiter Streifenwagen folgte und fuhr ebenfalls auf den Parkplatz. Als van Horn aus dem ersten Wagen stieg, stieß Wendy einen tiefen Pfeifton aus. Darren verspürte ein Engegefühl in der Brust, und ein Stein der Hoffnung fiel in einen Schacht, als die Schwerkraft ihr Spiel der Unausweichlichkeit spielte. Es würde immer so enden, oder nicht? Würde jemand in Genevas Café für den Mord an Missy in den Knast wandern? Er streckte eine Hand aus, bevor van Horn die Tür des Cafés erreichen konnte. »Was ist los?«, fragte er, während er zwei Deputys aus dem zweiten Wagen steigen sah. Wozu bloß so viele Polizeikräfte? Van Horn forderte Darren auf, zurückzutreten, und teilte ihm mit, dass das nicht seine Angelegenheit sei. Dann ging er, gefolgt von den beiden Deputys, die sich neben der Jukebox an die Wand lehnten, hinein. Als Darren hinterherkam, stießen sich die bewaffneten Männer des Sheriffs von der Wand ab. Geneva hinterm Tresen bemerkte Darren und die County-Männer im selben Moment und sah überrascht aus, so als wären sie gemeinsam gekommen, als wäre das ein koordinierter Einsatz.

»Geneva«, sagte van Horn. »Wir bringen das ohne Aufsehen über die Bühne, okay?«

Er bat sie, mit ausgestreckten Händen hinterm Tresen hervorzukommen. Dann nickte er einem seiner Männer zu, der jünger und dicker war als van Horn. Er nahm die Handschellen von seinem Gürtel und wartete geduldig darauf, dass Geneva nach vorn kam. Sie blickte auf die Szenerie vor sich, als fände sie zu ihrer Unterhaltung statt, als wären die Männer schlechte Schauspieler, die nach einem misslungenen Drehbuch agierten.

»Parker, was zum Teufel soll dieser Unsinn?«

»Sagen Sie nichts, Geneva«, sagte Darren. »Sagen Sie kein Wort.«

»Wir verhaften Sie wegen Mordes an Melissa Dale«, sagte der Sheriff.

Huxley schwang auf seinem Hocker herum, Tim stand auf.

»Seid ihr verrückt?«, sagte Tim. »Wie kommt ihr darauf, dass Geneva Missy an dem Abend getroffen hat?«

»Wir haben Beweise, die nahelegen, dass Mrs. Sweet sie als Letzte lebend gesehen hat.«

»Ach – hab ich sie etwa auch vergewaltigt?«, fragte Geneva.

Der Deputy mit den Handschellen sagte: »Wir gehen nicht davon aus, dass sie vergewaltigt wurde.«

»Das reicht«, fauchte van Horn seinen Deputy an und befahl ihm, ihr umgehend die Handschellen anzulegen. Sowohl Huxley als auch Tim versuchten den Deputy daran zu hindern, sich Geneva zu nähern. »In dem Streifenwagen ist auch Platz für drei«, sagte der Sheriff, worauf Huxley und Tim zurückwichen. Der Deputy ging hinter den Tresen und legte Geneva – ziemlich behutsam, wie Darren fand – Handschellen aus Metall um ihre dünnen Handgelenke. Die Küchentür ging auf, Faith kam herein und schrie.

»Was macht ihr da mit meiner Großmama?«

Darren blickte von ihr zu Huxley und Tim und schließlich zu Geneva, als sie, die Hände auf dem Rücken gefesselt, an ihm vorbeiging. Der Deputy hatte eine Hand fest auf Genevas Schulter. Darren folgte ihnen hinaus und sah zu, wie der Cop Geneva den Kopf hinunterdrückte, damit sie ihn sich nicht am Türrahmen des Streifenwagens stieß. Sie hielt inne und warf einen Blick auf ihren Laden, um den sich ihr gesamtes Leben drehte.

»Huxley«, sagte sie. Er war zusammen mit Tim und ein paar Gästen herausgekommen, um zu sehen, was mit ihr geschah. »Schließ den Laden und ruf diesen Anwalt in Timpson an, der gekommen ist, als Joe erschossen wurde.« Dann sah sie Darren an. Ihre Unterlippe zitterte, es war der erste Riss, den er in ihrer undurchdringlichen Fassade sah, das erste Mal, dass er ihre Angst bemerkte. »Sagen Sie nichts, auf keinen Fall«, befahl er ihr. Dann machte er ein Versprechen, obwohl er nicht sicher war, ob er es halten konnte. »Ich hole Sie da wieder raus.« Sie nickte, als sie auf den vergitterten Rücksitz glitt.