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Nachdem Sheriff van Horn seine Festnahme beendet hatte, war Melissa Dales Obduktionsbericht ein Grund, stolz zu sein. Oh, er war nur allzu gern bereit, die Erkenntnisse mit Darren zu teilen, hätte sie sogar in Geschenkpapier gewickelt, wenn er gekonnt hätte, so zufrieden war er mit der Wendung der Ereignisse, stolz darauf, zumindest einen Mordfall gelöst zu haben, auch wenn es bedeutete, eine Frau Ende Sechzig verhaften zu lassen, was für Darren nicht den geringsten Sinn ergab.

Das Polizeirevier war holzgetäfelt und eiskalt, oder zumindest der Raum, in den ihn van Horn führte. Der Teppichboden war verfilzt und grau und von den Stiefelabsätzen stellenweise abgenutzt. An den Wänden hingen Fotos von der Junior Football League – ein Team, das vom Department des Sheriffs von Shelby County gesponsert wurde –, die die Entwicklung der Jungen von Knirpsen zu Teens zeigten, und ein Wandkalender mit Wildblumen aus Texas. Darren saß unter dem Kalender an einem Tisch, auf den eine Sekretärin ein Zierdeckchen als Untersetzer für Styroporbecher und Zuckerwürfel neben die Kaffeemaschine von Mr. Coffee gelegt hatte. Darren schob alles beiseite und schlug die Akte auf.

Die Bilder waren nicht ganz so blutig wie die von Michael Wright. Im Gegensatz zu Michael war Missys Gesicht unversehrt geblieben: es war ziemlich rund, mit Aknenarben am Kinn, doch alles in allem ein hübsches Mädchen, oder was man im kleinstädtischen Texas für hübsch hielt. Allein mit blonden Haaren würde man es in dieser Gegend weit bringen, und Missy hatte dichte goldene Strähnen ohne dunkleren Haaransatz. Im Kopfbereich gab es keine Anzeichen von Gewalteinwirkung. Ihre Augen waren geschlossen, so als befände sie sich in einem Traum, der gerade eine schlechte Wendung genommen hatte. Was sich unterhalb ihrer Kinnlinie befand, verriet, was tatsächlich geschehen war. Auf beiden Seiten ihres Halses waren vertikale Kratzer von Fingernägeln, wo sie ihren Angreifer abzuwehren versucht hatte. Darren konnte die Abdrücke der Finger sehen, die sie erwürgt hatten. Die Blutergüsse waren dunkelrot und mitternachtsblau, die Haut gesprenkelt von den geplatzten Gefäßen. Laut Gerichtsmediziner hatte Missy nicht so lange wie Michael Wright in dem säurehaltigen Wasser des Attoyac Bayous gelegen. Keine Spur des Attoyacs in ihren Lungen – kein Bayouwasser oder Schlick –, was bedeutete, dass sie schon tot war, bevor sie dort gelandet war. Als Todesursache war Ersticken durch Strangulation vermerkt. Ihr Zungenbein war an zwei Stellen gebrochen. Als Todesart war Mord vermerkt.

Der Bayou hatte als Schauplatz gedient, wie Darren feststellte, eine Inszenierung, die eine Verbindung zwischen dem Mord an Missy und dem an Michael Wright herstellen sollte, die einen Kausalzusammenhang suggerierte, der vielleicht gar nicht existierte. Es war ein schlauer Trick. Hatte nicht van Horn genau unter dieser Annahme ermittelt – dass der eine Mord als Vergeltung für den anderen geschehen war? Aber was das alles mit Geneva zu tun haben sollte, verstand Darren nicht – bis er zur vorletzten Seite kam. Unten am Rand, unter dem Vermerk des Blutalkoholwerts, der null Prozent betrug, lüftete Missys Mageninhalt das Geheimnis, wie sie die letzten Stunden ihres Lebens verbracht hatte.

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»Van Horn hat vielleicht Nerven«, sagte Geneva zu Darren. Sie war im Gefängnis des Bezirksgerichts bereits erkennungsdienstlich behandelt worden, und man hatte ihr die Schürze und den Ehering abgenommen. Eine schmale, goldene Armbanduhr, die sie in ihrer Tasche trug, damit Mehl und Fett nicht das Armband verklebten, hatte man ihr ebenfalls weggenommen. Ihr Anwalt war ein korpulenter Weißer mit einem weißen Haarschopf, der sich gleichzeitig lichtete und hochstand. Er sah wie ein typischer Verteidiger aus, mit einem Dresscode, der einen unkonventionellen Touch hatte. Darrens Onkel Clayton war bekannt für seine Sammlung verrückter Socken, kariert, gepunktet und gestreift, die er stolz in jeder erdenklichen Kombination trug. Frederick Hodge, der Verteidiger von Mrs. Sweet, trug unter seiner Anzugjacke ein mit Perlmuttknöpfen besetztes Hemd im Westernstil und derbe Cowboystiefel, die in seiner Berufsgruppe eigentlich nichts zu suchen hatten. Er hatte sein Bestes getan, um seine Klientin davor zu bewahren, mit Mitgliedern der Strafvollzugsbehörde zu sprechen, doch wie Darren vermutete, versprach sich van Horn etwas davon, Darren bei Geneva freie Hand zu lassen, weil der Besucherraum, sofern man nicht Mitglied der Anwaltskammer war, höchstwahrscheinlich abgehört wurde.

»Erzählen Sie«, hatte er gesagt.

Der Raum war klein und die stickige Luft roch durchdringend nach Schimmel. An der Decke waren Wasserflecken, die wie schmutzige Wolken aussahen. »Der hat wirklich Nerven«, wiederholte Geneva und rang die Hände.

»Nerven? Oder einen hinreichenden Verdacht?«

Geneva verengte die Augen, als sie Darren über die Schulter blickte. Da waren zwei Deputys, die die Unterhaltung hinter dem schmutzigen Glas einer Fensteröffnung verfolgten, die man in die Gipskartonwand eingelassen hatte. Darren passte auf, was er sagte, doch er spürte, dass er gegenüber einer Frau, die er kaum kannte, an seine Grenzen kam. Sie hatte ihm ein Gefühl von Heimat vermittelt, wie die Frauen, in deren Nähe er in Camilla aufgewachsen war, Frauen, die jene Mutterfigur verkörperten, die er nie gehabt hatte, und er befürchtete, es hatte sein Urteilsvermögen getrübt, und er hatte womöglich ein mütterliches Gesicht mit einem friedvollen Herzen verwechselt.

»Das ist nicht gut, Geneva.«

»Der Anwalt sagt, man darf mich nicht viel länger hier festhalten. Dass alles auf Indizien beruht. Dass sie in Panik sind, weil es schon drei Tage her ist und sie noch immer nicht wissen, wer es getan hat und was passiert ist. Er sagt, sie dürfen nicht …«

»Ihr Anwalt hat den Obduktionsbericht noch nicht gesehen.« Er nahm den anderen Platz am Tisch ein, setzte sich ihr direkt gegenüber, um ihr Gesicht sehen zu können, wenn er die teilweise verdauten Speisen, die man aus Missys Magen und Dünndarm entnommen hatte, aufzählen würde: Rind und Rinderfett, Letzteres in einer Menge, die vermuten ließ, dass es sich um Ochsenschwanz handelte, dazu Augenbohnen, rohe grüne Tomaten und Essig; gebackener Teig und Puderzucker; Aprikosen aus der Dose und Rohrzuckersirup. Bis auf den Nachtisch war es genau die gleiche Mahlzeit, die er im Geneva’s gegessen hatte – am selben Tag, an dem Missys Leiche nicht einmal hundert Meter vom Café entfernt entdeckt worden war.

»Nur Indizien«, sagte sie erregt.

Sie hatte zwei Morde miterlebt und meinte, das eine oder andere über Schuldfähigkeit zu wissen. Er konnte sehen, dass sie sich ein wenig beruhigt hatte und noch entschlossener war, seit man sie auf den Rücksitz eines Streifenwagens verfrachtet hatte. Etwas Neues war in ihrem Gesicht mit den feinen Fältchen um ihre Augen und den angespannten, spröden Lippen zu erkennen: Es war eine tiefe Empörung. Es machte Darren wütend, wie falsch sie ihre Situation einschätzte. »Sie haben mich angelogen«, sagte er.

»Nein. Ich habe Ihnen nur Dinge nicht erzählt, die Sie nichts angehen.«

»Aber Sie haben Missy an dem Abend, an dem sie gestorben ist, gesehen.«

»Und wenn schon.«

»Hatten Sie nicht vor, es jemandem zu erzählen?«

»Sie behalten auch so einiges für sich.« Sie verschränkte die Arme und stützte ihre spitzen Ellbogen auf den Tisch. »Sie haben nicht erzählt, dass Sie ’n Ranger sind, als Sie um die Ecke gekommen sind, und auch kein Wort darüber, dass man Sie suspendiert hat.«

Wally und Geneva hatten sich also unterhalten. Darren verstand die Beziehung zwischen Geneva und Wally ums Verrecken nicht. Sie war offen feindselig und gleichzeitig seltsam familiär in der Art, wie sie einander tolerierten, sogar akzeptierten. Ob es ihnen nun gefiel oder nicht, sie kamen nicht darum herum: Sie gehörten zu einer Familie.

»Ich versuche, Ihnen zu helfen«, sagte Darren.

»Nicht, wenn Sie diese Marke tragen.«

»Ich bin nicht van Horn, Geneva.«

Sie dachte darüber nach, sah aber völlig unbeeindruckt aus.

»Ich weiß von Ihrem Enkel«, sagte er schließlich.

»Dann wissen Sie auch, dass sie deswegen gestorben ist.«

»Keith?«

»Wer sonst?«

»Man wird behaupten, Sie seien die Letzte gewesen, die sie gesehen hat.«

»Ich hatte jedes Recht dazu«, sagte sie und schlug mit der Faust auf den Tisch. Darren hatte sich getäuscht. Es war nicht Entrüstung, die ihr schlanker Körper verströmte. Es war Zorn. Sie stieß ihren Stuhl vom Tisch zurück, unter dessen abgeplatzter Lackierung Holz zum Vorschein kam. Beinahe hätte sie den Stuhl umgeworfen. »Ich habe jedes Recht, meinen Enkel zu sehen. Das werde ich Missy stets hoch anrechnen. Sie hat alles dafür getan, damit ich ihn sehen konnte, aber ohne Keith damit zu provozieren. Sie hat mich hin und wieder in meinem Trailer besucht, normalerweise, wenn sie dachte, dass Keith erst spät aus dem Sägewerk in Timpson kommt. Ein paarmal im Monat macht er Überstunden.«

»Worüber haben Sie sich unterhalten?«, fragte er. »Sie und Missy.«

In seinem Kopf hörte er die Stimme von Onkel Clayton: Finde eine Lücke in der Abfolge der Ereignisse, mein Sohn . Darren hatte im Sommer nach seinem ersten Jahr an der juristischen Fakultät bei einem gemeinnützigen Rechts- und Prozesshilfebüro in Cook County gearbeitet und häufig mit Clayton bis spät in den Abend hinein telefoniert, wobei sie ein paar der schwierigeren Fälle, die Darren bearbeitet hatte, analysierten. So nah hatten sie sich noch nie gestanden, und im Augenblick brauchte er Claytons Einfluss auf ihn mehr als Williams. Die Obduktion hatte ergeben, dass Missys Mageninhalt »stark zersetzt« war; ein Teil davon war bereits im Dünndarm angekommen, was bedeutete, dass sie schätzungsweise vier Stunden vor ihrem Tod gegessen hatte. Wenn Geneva und sie nicht im Trailer gesessen und sich stundenlang unterhalten hatten, bevor Geneva aufgestanden war und sie erwürgt hatte, war es möglich und wahrscheinlich , dass Missy noch woandershin gegangen war, nachdem sie Geneva’s Café verlassen hatte.

Geneva seufzte und sagte: »Sie wusste, dass ihr nicht viel Zeit bleiben würde.«

Während sie so dastand, schienen ihre Knie ein wenig nachzugeben, als sie über Missy und das Baby sprach. »Obwohl der Junge blond ist, kann man seine eigentliche Hautfarbe nicht übersehen. Missy hatte deswegen eine Zeit lang Panik. Diesen Sommer hat sie ihm trotz der Hitze so oft was Langärmeliges angezogen, dass er einen leichten Hitzeschlag erlitten hat, und er musste mehrmals zum Kinderarzt in Timpson. Ich hab ihr gesagt, dass sie damit aufhören soll. Dass sie dem Kind noch die Luft abschnürt. Ich habe dem kleinen Racker sogar einen Haufen Sachen gekauft, wo Arme und Beine rausschauten. Ich sagte ihr, sie soll die Sonne für die Farbe verantwortlich machen, wie es die Leute schon seit hundert Jahren tun. Niemand hat sich darum geschert, außer Keith. Er hatte dem Jungen schon seinen Namen gegeben, also brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Ich hab ihr das jedes Mal gesagt, wenn sie ihn vorbeibrachte. Manchmal haben wir gestritten, das geb ich zu. Doch meistens hat Missy uns in Ruhe gelassen. Sie hat ferngesehen, während ich mich mit dem Kleinen beschäftigt habe.« Genevas Gesicht hellte sich auf. »Ich schaukle ihn auf den Knien, was ich schon mit Lil’ Joe gemacht habe. Er mag das. Und meine Zuckerkekse ebenfalls.« Sie seufzte und ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. »Jetzt, wo Missy tot ist, weiß ich nicht, ob ich ihn noch sehen darf.«

»Er ist bei Wally.«

»Ich weiß.«

Das schien sie beinahe genauso zu beunruhigen wie die Vorstellung, ihren Enkel überhaupt nicht mehr zu sehen; dass Wally uneingeschränkten Zugriff auf den Jungen hatte, wurmte sie. »Wahrscheinlich freut er sich, wenn ich hier drin verrotte.«

»Geben Sie mir etwas, womit ich das anfechten kann.« Darren wies mit einer Kopfbewegung hinter sich zu den Deputys. »Um wie viel Uhr hat sie Ihren Trailer verlassen? Hat sie irgendetwas gesagt, wo sie hinwollte, als sie gegangen ist?«

»Ich weiß, wo sie hin ist«, sagte Geneva ohne Umschweife. »Ich habe sie nach Hause gefahren.«

»Nach Hause?«

»Nach Hause.«

»War Keith da?«, fragte Darren.

»Sein Truck war es.«

»Dann hat er sie als Letzter gesehen?«

»Das kann ich nicht beweisen. Ich habe sie schließlich nicht zur Tür gebracht oder bin auf ein Glas Tee reingebeten worden. Ich bin noch nie drin gewesen. Ich wollte nur dafür sorgen, dass sie und der Kleine sicher nach Hause kommen. Ich hatte seit ’ner Weile einen Kindersitz im Kofferraum, damit ich sie heimfahren konnte. Im Augenblick ist er auf dem Rücksitz.«

»Wieso zum Teufel haben Sie nichts gesagt?«

»Keith hat mich nicht gesehen. Es wäre sein Wort gegen meins.«

»Aber wenn van Horn es wüsste, würde er Keith dazu befragen.«

»Sie sind lang genug hier, um zu wissen, dass das nicht unbedingt passieren wird.«

Sie blickte auf ihre Hände in ihrem Schoß. Sie zupfte eine Fluse am Rand ihres übergroßen Pullovers ab. »Außerdem«, sagte sie, »dachte Missy wirklich, niemand wüsste, dass der Junge nicht von Keith ist. Es war ihr wichtig, das geheim zu halten. Und ich wollte nicht gleich nach ihrem Tod mit ihren persönlichen Angelegenheiten hausieren gehen.«

Es galten Anstandsregeln, die sie wegen Missys Tod nicht aufgeben wollte; sie fand, es stünde ihr nicht zu, Missy zu outen , nur weil das Mädchen nicht länger für sich selbst sprechen konnte. Sie hatte ihr versprochen, das Geheimnis zu hüten, als sie noch am Leben war, und hatte versucht, Missys Entgegenkommen ihr gegenüber zu honorieren, indem sie kein Wort hatte verlauten lassen. Dass sie damit letztlich Keith schützte, war der Preis, den Geneva jetzt zahlte. Doch Darren war nicht in Lark aufgewachsen und kannte diese Leute nicht. Zum Teufel mit den Anstandsregeln . Van Horn hatte die falsche Person verhaftet und Darren würde das nicht auf sich beruhen lassen.