22

Wieder wurde er von Wilson geweckt.

Eine halbe Minute lang glaubte er zu träumen. Er konnte das Zimmer und die Frau, die neben ihm schlief, nicht einordnen, eine Frau, deren Atem er auf seinem Kinn spürte, da sie ihren Körper an seinen geschmiegt hatte, den Kopf zurückgelegt, nur Zentimeter von seiner Schulter entfernt. Lisa , dachte er. Doch das Haar, das seinen Hals streifte, war ganz anders, es war dick, während das von Lisa dünn und glatt war, und ihre Haut roch herb und säuerlich, anders als der Vanillegeruch der teuren Cremes, auf die seine Frau schwor. Randie. Er flüsterte ihren Namen, bevor er begriff, was der Lieutenant sagte. Seufzend rollte sie von ihm weg und drehte sich zur anderen Seite. Darren setzte sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. Er hatte das Handy am Ohr – er konnte sich gar nicht daran erinnern, rangegangen zu sein. »Sie müssen augenblicklich nach Center fahren«, blaffte Wilson. »Die Sache findet im Bezirksgericht statt, und das Hauptquartier in Austin will, dass Sie sich vor die Kameras stellen.«

»Wovon reden Sie da eigentlich?«

»Von der Pressekonferenz.«

»Welcher Pressekonferenz?«

»Sagen Sie, Ranger, waren Sie die letzten vier Stunden unter einem umgekippten Baum eingeklemmt oder haben Sie meine Anrufe absichtlich ignoriert?«

Darren blickte auf sein Telefon. Es war gerade mal kurz nach neun Uhr morgens und er hatte acht Sprachnachrichten, die seit fünf Uhr morgens eingegangen waren. Er erkannte sowohl Wilsons als auch Gregs Nummer. Mindestens drei der Anrufe waren von Greg aus seinem Büro beim FBI in Houston. Darren hatte sie offensichtlich verschlafen. »Warten Sie«, sagte er, als er sich die verklebten Augen rieb und den Stoff zwischen seinen Beinen glattstrich. »Wer hält eine Pressekonferenz?«

»Man hat Keith Dale verhaftet.«

»Für den Mord an seiner Frau?«

»Für beide Morde.«

»Nein«, sagte Darren und stand auf. »Nein. Van Horn hat mir mehr Zeit für den Michael-Wright-Fall gegeben. Er hat mir versprochen, nichts zu unternehmen, bis ich …«

»Ranger, Sie haben Ihren Fall gelöst«, sagte Wilson, wobei er nicht ganz zu verstehen schien, was das Problem war. Er hatte die mangelnde Begeisterung in Darrens Stimme als Groll interpretiert, so als wartete sein Officer auf irgendeine Entschuldigung. Wilson schnaubte verärgert. »Ich hab falsch gelegen, okay? Sie haben Ihre Verhaftung.«

»Auf welcher Grundlage?«

»Es gibt ein Geständnis.«

»Das ist nicht wahr«, sagte Darren. Er verließ das Zimmer, um Randie nicht zu wecken, doch als er die Tür hinter sich schließen wollte, sah er, dass sie sich aufgesetzt hatte und ihn anblickte. »Ich war dabei«, sagte er, als er die Tür zuzog und sich an die Wand des schmalen Flurs lehnte. »Er hat ausgesagt, er hätte Wright geschlagen, mehr nicht.«

»Van Horn will ihm beide anhängen.«

»Es fehlt etwas«, sagte Darren. »Zum einen der Wagen.«

»Irgendwas passt immer nicht; Sie kennen das.«

»Wenn er es getan hat, dann womöglich nicht allein. Dahinter könnte eine größere ABT-Verbindung stehen. Das Eishaus hier draußen ist ein Stützpunkt der Bruderschaft. Wallace Jefferson weiß das ganz genau, aber er unternimmt nichts dagegen, dass Mitglieder einer kriminellen Bande sich in seinem Lokal treffen. Wenn wir ein bisschen tiefer graben …«

»Hören Sie, das ist genau das, was das County und die Feds nicht wollen.«

»Die Feds?«, wiederholte Darren und dachte an Gregs Anrufe.

»Das ist irgend so ein idiotisches Ariergetue, Mathews, und Sie wissen das«, sagte Wilson. »Das haben Sie vom ersten Tag an behauptet. Aber das Letzte, was wir brauchen, ist, dass die Arische Bruderschaft in Osttexas außer Kontrolle gerät, oder dass sich Schwarze und Weiße in diesem Staat gegenseitig umbringen. Die ganzen Proteste, die im Rest des Landes stattfinden – Texas braucht so etwas nicht auch noch. Die Leute hier haben das mit den Schüssen auf die Cops in Dallas noch nicht überwunden. Fangen wir wegen eines dämlichen Rednecks keinen Rassenkrieg in Shelby County an. Im Augenblick gibt es nicht den kleinsten Beweis dafür, dass die Bruderschaft ihre Finger drin hat, nehmen wir also, was wir kriegen können und machen keinen Kreuzzug daraus.«

Trotzdem stimmte etwas nicht.

Darren spürte das, auch wenn er wusste, dass er keine andere Wahl hatte, als seinen Vorgesetzten im Bezirksgericht von Center, Texas, dem County-Sitz, zu treffen, wohin Wilson Darren in weiser Voraussicht ein sauberes weißes Hemd und eine gebügelte schwarze Hose aus seiner unteren Schreibtischschublade in Houston mitgebracht hatte. Er zog sich auf der Herrentoilette im ersten Stock um, die sich direkt neben dem Standesamt befand, vor dem Leute Schlange standen, um ein Aufgebot zu bestellen oder eine Geburtsurkunde abzuholen.

Nachdem Wilson gesagt hatte, dass man ohne ihn nicht anfangen würde, beeilte sich Darren. Er steckte das Hemd in die Hose, die vom vielen Bügeln glänzte, und strich sie glatt. Er wusste nicht mehr, wie lange die Hose schon in der Schublade gelegen hatte, und er schämte sich für den Kick, den ihm die Erkenntnis gab, dass man seinen Schreibtisch in seiner Abwesenheit nicht ausgeräumt hatte, er von den Rangern vielleicht wieder aufgenommen würde und zwar dieses Mal richtig. Vermutlich hatte er das Michael Wright zu verdanken und dieses perverse Gefühl von Dankbarkeit war getrübt von einer schrecklichen Schuld, die ihn regelrecht lähmte. Bis zu dem Augenblick, in dem er seinen Stetson aufsetzte, war er sich nicht sicher, ob er das durchziehen würde. Wenn er das tat, wenn er dort hinausging und zuließ, dass man sein schwarzes Gesicht dazu benutzte, einem Haufen Reportern zu erzählen, dass es nichts zu sehen gab, dass sie den Schuldigen gefunden hatten, dass der Tod eines Schwarzen aus Chicago und einer Weißen aus der Gegend lediglich auf einen Ehestreit zurückzuführen waren, dass Ranger und County für die Ermittlungen einen schwarzen Officer eingesetzt hatten, um einen sensiblen Umgang mit dem Thema Hautfarbe zu gewährleisten – wenn er diese Vereinfachung zuließ, dass Keith Dale nicht mehr war als ein eifersüchtiger Ehemann, der die Kontrolle verloren hatte, wenn er, wie van Horn es formuliert hatte, sich das auf die Fahne schrieb, konnte er seine Marke zurückbekommen und nach Hause fahren. Die Tür zur Toilette ging auf und Greg steckte den Kopf herein. »D«, sagte er und lächelte, als sich ihre Blicke begegneten.

Er war kleiner als Darren.

Doch das waren die meisten.

Er trug einen marineblauen Anzug, der um seinen Oberkörper herum ein wenig zu eng saß. Greg sah darin aus wie ein Teenie, der sich für eine überraschende Beerdigung in seinen einzigen guten Anzug gezwängt hatte, einen Anzug, aus dem er längst herausgewachsen war. Seine Stimmung war aufgekratzt, obwohl sie hätte nüchtern sein sollen, und passte irgendwie nicht zum Anlass. Er kam herein und machte Anstalten, Darren zu umarmen, doch weil der steif und unbeholfen wirkte, beließ es Greg bei einem Schulterklopfen. »Du hast es geschafft, Mann, spitzenmäßig.«

»Hat dich das FBI geschickt?«

Greg nickte. »Sobald mein Vorgesetzter erfahren hat, dass ich derjenige war, der dir einen Tipp zu dem Doppelmord gegeben hat, hat er mich von der Schreibtischarbeit befreit und hier raufgeschickt, um den Jungs vom County meine Hilfe anzubieten.« Sein Haar war sandbraun, er trug es mittlerweile kurz geschoren im Gegensatz zu dem gegelten Bürstenhaarschnitt, mit dem er in der Highschool versucht hatte, Aufsehen zu erregen und ausgesehen hatte, als hätte er einen nassen Finger in eine Steckdose gesteckt. Seine Augen waren groß und von grün-brauner Farbe. Und im Gegensatz zu Darren war er frisch rasiert. Wie Lisa einmal zu Darren gesagt hatte, war Greg ein attraktiver Typ, und Darren wusste um die Wirkung, die sein Freund auf Frauen hatte. Als Teenager war er darauf eifersüchtig gewesen, wie leicht Greg Mädchen dazu brachte, Dinge zu tun, zu denen sie, wie sie anderen erzählten, nicht bereit waren. Darren, der nicht ganz verstand, was Greg bei der Pressekonferenz zu suchen hatte, öffnete die Tür, und die beiden Männer gingen hinaus, wobei Darrens Stiefel auf dem grauen Fußboden klackten.

»In Keith Dales Gefängnisakte steht nichts, was darauf hinweisen könnte, dass er sich drinnen der ABT angeschlossen hat.« Greg sagte, er habe beim Texas Department of Criminal Justice angefragt und gestern erst einen Bericht bekommen.

Darren sagte: »Wenn der Sheriff behauptet, es gibt keine ABT-Verbindung, wozu dann das FBI?«

»Wir wissen nicht, worum es geht. Er ist noch nicht unter Anklage gestellt worden.«

»Findest du es nicht seltsam, dass sie eine Pressekonferenz abhalten, obwohl er bisher für keins der Verbrechen angeklagt wurde?«

»So wie ich das sehe, sind die Ermittlungen abgeschlossen«, sagte Greg. »Ich meine, du hast den Kerl geschnappt, Darren. Die Nachricht über die Verhaftung wird die Leute beruhigen. Und meine Anwesenheit wird ihnen das Gefühl geben, dass der Sheriff und seine Männer keine Tricks versuchen.«

»Mit anderen Worten, wir sind nur Requisiten.«

»Wir machen nur unseren Job, Alter«, sagte Greg und klang ein wenig verärgert darüber, dass Darren die Gelegenheit, die er ihm auf dem Silbertablett servierte, nicht zu schätzen wusste. »Jemand wird für diese Sache in den Knast gehen. Wenn du nicht wärst, würde der Sheriff noch immer von Raubüberfall reden. Und wenn ich dich nicht angerufen hätte.« Letzteres musste unbedingt erwähnt werden.

»Hast du mit dem Typen aus Chicago gesprochen? Diesem Wozniak?«, fragte Darren.

Greg nickte und sagte: »Die Sache ist inzwischen größer geworden. Ein Korrespondent von der Times ist hier. CNN hat ein Kamerateam aus Houston hergeschickt. Sie werden bestimmt auch mit dir sprechen wollen«, sagte er, als wäre ihm gerade etwas eingefallen, obwohl sein aufgeregtes Gehabe und die Art, wie er vorwärts stürmte, verrieten, dass ihn die Sache in den letzten vierundzwanzig Stunden schwer beschäftigt haben musste. »Übrigens, ich habe für uns beide ein Interview bei Nightline arrangiert, du weißt schon, um zu erzählen, wie ich dich zuerst angerufen habe.« Da ist es schon wieder , dachte Darren. Es machte ihn traurig, wie versessen Greg auf Anerkennung war, dass er sich nach drei Jahren hinterm Schreibtisch so dringend nach einer Beförderung sehnte, dass ein Doppelmord vor allem ein Sprungbrett bedeutete und erst an zweiter Stelle ein Verbrechen. Aber hatte Darren nicht eine gewisse Mitschuld daran?

Keith Dale hatte seine Frau umgebracht und zugegeben, Michael Wright fast zu Tode geprügelt zu haben. Randie hatte recht: Er war nicht unschuldig. Vielleicht war Gerechtigkeit vertrackter als Darren bewusst war, als er sich die Marke an die Brust geheftet hatte; sie war letztlich eine Illusion, getragen von dem Wunsch nach einer sauberen Lösung, die keine Zweifel mehr zuließ. Keith Dale verdiente eine Gefängnisstrafe, das auf jeden Fall, doch Darren wurde das Gefühl nicht los, dass sich das, was mit Keith geschah, nicht viel von dem unterschied, was man den Schwarzen jahrhundertelang angetan hatte. Schnappt euch irgendeinen, egal wen, und fragt nicht weiter.

»Denk daran, du hattest noch nie von Lark gehört, als ich dir die ersten Informationen zu dem Fall geschickt habe«, sagte Greg. »Vielleicht ist das ein guter Aufhänger für die Geschichte.«

»Du weißt, dass ich nicht mit den Medien sprechen darf, ohne vorher mit der Einheit Rücksprache zu halten.«

»Nach dem hier darfst du tun, wonach dir der Sinn steht.«

Sie waren in dem provisorischen Presseraum auf der anderen Seite des Bezirksgerichts angekommen. Auf dem Schild an der Tür stand LOUNGE, doch der Raum war für die Pressekonferenz umgeräumt worden. Durch das Drahtgeflechtfenster konnte Darren mindestens ein Dutzend Reporter erkennen, die hinter einer Gruppe von Videokameras standen, deren Linsen und Mikrofone auf das Podium gerichtet waren, wo Wilson, van Horn und einer seiner Deputys auf Gregs und Darrens Ankunft warteten.

Darren sagte während der gesamten Veranstaltung kein Wort, von der Bekanntmachung von Keith Dales Verhaftung für die Morde an Michael Wright und Melissa Dale und der Erläuterung der Beteiligung der Texas Ranger bis zu den ausdrücklich an ihn gerichteten Fragen, deren Beantwortung er Wilson und van Horn überließ. Sollten sie ihre Geschichte ruhig verkaufen. Er stand mit vor dem Körper verschränkten Händen da, den Rücken so gerade wie ein Pappelstamm, Stiefel fest auf dem Boden.

Greg redete. Natürlich tat er das.

Er schwadronierte über die Rolle der Bundesregierung bei der Wahrung von Recht und Gesetz, die Erfahrung hatte im Umgang mit Verbrechen sensibler Natur – ohne das Wort Hassverbrechen zu benutzen. Von Missy sprach er nur, um die Geschichte zu vervollständigen; er sprach von der Notwendigkeit, keine voreiligen Schlüsse über die Motive für den Mord an einem Schwarzen in Texas zu ziehen. Während er zuhörte, hatte Darren ein seltsam unwirkliches Gefühl, so als befände er sich in einem Traum, in dem er die Welt um sich herum sowohl erkannte als auch nicht erkannte, und die Worte, die in seiner Sprache gesprochen wurden, sowohl verstand als auch nicht verstand. War diese gesamte Pressekonferenz nicht eigentlich ein Versuch, die ganze Sache kleinzureden und damit zu verharmlosen?

Es war vorbei, bevor den Reportern die richtigen Fragen einfielen. Wie Darren vor ein paar Tagen auch, hatten die meisten noch nie von Lark gehört. Im Zeitraum von zwölf Minuten wurden ihnen sowohl das Rätsel als auch dessen Lösung präsentiert. Und das auf zufriedenstellende Weise, so als ergänzte man das letzte, noch fehlende Puzzleteil, mit dessen leisem Schnappen das Bild vollständig war, eine unerschütterliche Wahrheit.

Danach klopfte Wilson Darren auf den Rücken und sagte, dass er jetzt etwas Handfestes für das Hauptquartier habe, um Darrens Suspendierung aufzuheben. Er müsse zwar warten, bis die Grand Jury ein Urteil wegen Rutherford McMillan fällte, doch er habe zum ersten Mal die Hoffnung, dass Darren seinen Dienst wieder aufnehmen könne.

»Vor allem, wenn die Hausdurchsuchung in Camilla nichts zutage fördert.«

»Die ist schon Wochen her.«

Wilson, der einen olivfarbenen Teint und grau melierte Haare hatte, beugte sich zu Darren vor, um leiser zu sprechen und trotzdem noch gehört zu werden. »Hören Sie, ich hätte ja was gesagt, wenn ich gekonnt hätte, aber das wäre auf mich zurückgefallen. Der Staatsanwalt wollte, dass sich noch mal jemand umsieht. Das war nicht meine Entscheidung, Mathews.«

Sie hatten sein Haus ein zweites Mal durchsucht.

»Herrgott.«

»Sie waren heute Morgen dort.«

»Weil sie wussten, dass ich nicht daheim war«, sagte Darren. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Wilson dem Staatsanwalt von San Jacinto County diese Information gesteckt hatte, und er versuchte auch gar nicht, sich in seinem vorwurfsvollen Ton zu mäßigen.

»Wenn da nichts ist, dann ist das so«, sagte Wilson. »Kein Grund, Angst zu haben.«

»Da ist auch nichts.«

Aber warum sein Haus durchsuchen, wenn die Grand Jury bereits sämtliche Zeugen zu Mack gehört hatte – wenn sie bereits beratschlagten?

Gab es etwa neue Vorwürfe? Vorwürfe gegen ihn, Darren? Bei dem Gedanken geriet er in Panik.

»Ich würde mir deswegen keine Sorgen machen«, sagte Wilson. »Sie sind ein anständiger junger Mann. Und vor Ihrem Onkel William hatte ich einen Höllenrespekt. Mal sehen, was die Grand Jury sagt, und mal sehen, ob ich Sie wieder in den Außendienst schicke, wo Sie hingehören, Ranger.« Darren habe, sagte Wilson, Bereitschaft gezeigt, Fakten über Gefühle zu stellen, und sein Onkel wäre stolz auf ihn. Darren verübelte ihm die Erwähnung seines Onkels und hätte am liebsten gesagt, dass William Mathews niemals sein Unbehagen über eine Ermittlung im Mordfall eines Schwarzen für sich behalten hätte, nur um den Weißen ein gutes Gefühl hinsichtlich der Zustände in Texas zu geben. Er hätte am liebsten gesagt, dass er seiner Pflicht, die Wahrheit herauszufinden, so unangenehm und kompliziert sie auch sein mochte, nicht nachkam – eine Aufgabe, die ihm von den Mathews’, die ihn großgezogen hatten, auferlegt worden war. Doch er hütete seine Zunge und zückte stattdessen sein Handy. Als der letzte Reporter samt Kamerafrau das Gebäude verlassen hatte, suchte er eine ruhige Ecke im Flur und hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter seiner Mutter, in der er ihr mitteilte, dass ein paar Hundert Dollar drin wären, wenn sie zum Haus der Mathews’ in Camilla fuhr und das Durcheinander, das die Deputys des Sheriffs wahrscheinlich hinterlassen hatten, beseitigte – und noch mehr, wenn sie es nicht herumerzählte. Er wollte vor allem nicht, dass sich Clayton Sorgen darüber machte, die Sache mit Mack könnte eine bedrohliche Wendung für ihn nehmen. In dem Haus ist nichts . Abgesehen davon würde die Nachricht, dass das Sheriffdepartment das Haus seiner Familie ein zweites Mal auf den Kopf gestellt hatte, Claytons Feindseligkeit gegenüber den Polizeikräften nur verschlimmern, und Darren wollte im Moment nichts davon wissen.

Als er seinen Anruf beendet hatte, kam van Horn zu ihm und teilte ihm lapidar mit: »Geneva Sweet kann nach Hause gehen.«

Sein erstes Angebot, sie nach Hause zu bringen, schlug sie aus und wollte weiter auf ihre Enkelin warten. Doch nachdem Darren Faith in Lark angerufen und sie gemeint hatte, ein wenig Hilfe im Café gebrauchen zu können, lenkte Geneva schließlich ein. Vor dem Bezirksgericht standen noch immer die Übertragungswagen auf der San Augustine Street und ein paar Kameraleute hielten Ausschau nach einem abschließenden Bild vom Gerichtsgebäude, nach etwas, das den gedrungenen, kastenförmigen Backsteinbau ein wenig majestätischer aussehen ließ, als er war. Weil der Name Geneva Sweet bei der kurzen Pressekonferenz keine Erwähnung gefunden hatte, bestand kein Interesse an der beinahe siebzigjährigen Frau, die von Darren, der seinen Hut abgenommen hatte und wie ihr Sohn oder Neffe aussah, langsam zum Parkplatz geleitet wurde.

Er wollte ihr in den Truck helfen, doch sie schlug seine Hand weg und mit einem Stoßseufzer gelang es ihr, in die hohe Kabine zu klettern. Als Darren auf den Fahrersitz glitt, hatte sie bereits den Gurt angelegt und ihre Hände ruhten in ihrem Schoß. Er legte den Stetson zwischen ihnen auf die Sitzbank und ließ den Motor an.

In den Chevy zu klettern, hatte sie wohl ein wenig erschöpft, als Darren zu ihr hinübersah, bemerkte er ihre glänzende Stirn und dass ein paar ihrer krausen Locken wie Mücken auf Fliegenpapier daran klebten. Sie änderte die Stellung des Lüftungsgitters vor sich und rührte sich ansonsten nicht.

Sie machten sich auf den Weg über den State Highway 87.

Darren überlegte, ob er über die malerischen Landstraßen quer durchs County fahren sollte. In dieser Gegend lagen eine gewisse Feuchtigkeit und ein Hauch von Moosgeruch in der Luft, den die texanischen Lebenseichen verbreiteten; es war eine atemberaubende Landschaft. Doch er nahm an, dass Geneva so schnell wie möglich nach Hause wollte, also fuhr er in Richtung Timpson, wo er auf den Highway 59 in Richtung Lark wechselte. Er akzeptierte ihr Schweigen während der ersten Minuten. Doch schließlich musste einer das Wort ergreifen. »Ich hatte nichts mit Ihrer Verhaftung zu tun«, sagte er zu ihr. Er wollte das unbedingt klarstellen. Aber wenn er geglaubt hatte, dass das ihre ausdruckslose Miene aufhellen würde, hatte er sich getäuscht. Er fragte sich, wie viel sie wusste, sowohl über Keiths Verhaftung als auch die Tatsache, dass Sheriff van Horn sie gestern Abend hatte gehen lassen wollen – dass es Darren gewesen war, der um mehr Zeit gebeten hatte, auch wenn es für Geneva eine kalte Nacht im Gefängnis bedeutete. »Ich wollte Ihnen nicht schaden«, sagt er und blickte vom Highway zum Beifahrersitz hinüber. Weder nickte noch sprach noch lächelte sie, schenkte ihm keinerlei Beachtung, was in Darrens Brust eine leichte Wut entflammte. Alte Dame oder nicht, sie benahm sich wie ein bockiges Kind, eigensinnig und stur.

»Sie mögen mich nicht besonders«, sagte er.

»Ich kenn Sie nicht.« Die Worte kamen ganz unvermittelt, wie ein Rülpsen, das ihr versehentlich entschlüpfte. »Hab keinen Grund, Ihnen zu vertrauen, das ist alles.«

»Ich bin hier, um zu helfen.«

»Sie sehen ja, wie das für mich ausgegangen ist«, sagte sie und strich die Vorderseite ihres Kleides glatt, eine helle Baumwollmischung, die während ihrer Nacht in der Arrestzelle fleckig geworden war.

»Man hätte Sie sowieso wegen Missy verhaftet, ob ich nun einen Fuß nach Lark gesetzt hätte oder nicht. Sie haben selbst dafür gesorgt, weil Sie nicht damit herausgerückt sind, dass Sie Missy an dem Abend, als sie gestorben ist, gesehen haben, obwohl Sie wussten, dass der Sheriff auf der Suche nach jemandem war, dem er den Mord anhängen konnte«, sagte Darren und umklammerte das Lenkrad so fest, dass er sich die Fingernägel in die Handflächen bohrte. »Hätte ich nicht die Aufmerksamkeit auf Keith gelenkt, wären Sie wahrscheinlich noch immer in dieser Gefängniszelle, während der Staatsanwalt eine Grand Jury einberufen hätte, damit Sie dort bleiben.«

»Sie haben bekommen, was Sie wollten, weshalb Sie jetzt wieder dorthin zurückkehren können, wo Sie hergekommen sind und uns hier am besten in Ruhe lassen«, sagte sie, während sie die Arme verschränkte und auf die Straße starrte. »Der Rest von uns muss schließlich hier weiterleben, wenn Sie schon längst über alle Berge sind.«

»Was soll das heißen?«, fragte er. Ihre Worte hatten ihn hellhörig gemacht. Er vernahm auf einmal Angst in ihrer Stimme und spürte, wie sie zwischen ihnen in der schmalen Kabine des Trucks vibrierte. Er sah zu ihr hinüber und versuchte, ihren Gesichtsausdruck zu entziffern.

»Es gibt keinen Beweis, dass Keith es getan hat.«

»Natürlich hat er das Mädchen getötet. Dieser Mistkerl hat meinem Enkel die Mutter genommen, die sich um ihn gekümmert hätte.« Sie saß steif und kerzengerade da, während sie vor Zorn wie ein Draht unter Strom bebte. »Und Sie sind ein Dummkopf, wenn Sie glauben, dass er den schwarzen Burschen nicht auch getötet hat. Ich kann Leute nicht ausstehen, die hierherkommen, an einen Ort, wo wir schon gelebt haben, als Sie noch aufs Töpfchen gegangen sind, einen Ort, den Sie nicht verstehen, und glauben, alles besser zu wissen. Sie und das Mädchen.«

»Ich bin im San Jacinto County geboren«, sagte er. »Und das Mädchen hat einen Namen.«

Randie .

»Woher soll ich den kennen, nachdem sie bei mir reinschneit, ohne mir den geringsten Respekt zu erweisen.«

»Sie hat ihren Mann verloren, Geneva.«

»Da ist sie nicht die Einzige.«

Joe .

Er hatte Angst, den Namen laut auszusprechen, den Bann zu brechen.

»Ich habe den, den mir Gott gegeben hat, geliebt«, sagte sie. »Ich wusste, was ich an ihm hatte.«

Geneva sagte nichts weiter, und Darren beschloss, ebenfalls den Mund zu halten. Doch er hatte das Gefühl, Randie verteidigen zu müssen und konnte die Empörung nicht verstehen, die Geneva bei der Erwähnung ihres Namens anscheinend empfand. »Sie wissen nichts über ihre Ehe mit Michael.« Er dachte an Missy und die Gerüchte und an Randies Geschichten von anderen Frauen, die ihre Ehe belastet hatten.

Geneva zuckte gleichgültig mit den Schultern.

»Ich weiß, was er mir erzählt hat«, sagte sie. »Und Missy«

»Missy?«

Sie blickte durch das Fenster auf die grün und honiggolden vorbeiziehende Landschaft und den Himmel, der von einem gleichmäßigen Blau war. »Wissen Sie, worüber sie sich mit Michael an dem Abend unterhalten hat?« Sie drehte den Kopf, und ihre Blicke begegneten sich. Er hatte das dringende Bedürfnis, zu verstehen.

»Verlorene Liebe«, sagte sie. »Mein Sohn; seine Frau. Beiden ist etwas entrissen worden, auf verschiedene Weise und aus unterschiedlichen Gründen. Missy hat in Michael etwas gesehen, das ich auch gesehen habe, sobald er in mein Café gekommen ist.«