Er erinnerte sie an ihren Sohn.
Es war nichts Bestimmtes, bis auf das Alter. Es war einfach so, dass der Anblick eines Schwarzen in einem gewissen Alter und mit einem gewissen Habitus – einem sanften Wiegen der Hüften, einer verhaltenen Anmut seiner Bewegungen – Genevas Herz stets einen Stich versetzen würde. Sogar Darren habe sie, als er zum ersten Mal bei ihr hereinkam, an ihren Sohn erinnert, sagte sie. Letzten Mittwoch, als sie rote Bohnen in der Küche eingeweicht und einen Truthahn für Dennis zum Räuchern in Salzlauge gelegt hatte.
Gegen fünf Uhr nachmittags war sie durch die Schwingtüren in den Gastraum gegangen und hatte sich die Hände am Schürzenzipfel abgewischt. Sie hörte die Glocke an der Tür, als Lightnin’ Hopkins Song den Musikautomaten aufleuchten ließ. Have you ever loved a woman, man, better than you did yourself? Einer von Joes Lieblingssongs, dachte sie, als sie lächelnd aufsah und Michael Wright erblickte. Er trug ein schwarzes T-Shirt und Jeans, und die Sonnenstrahlen, die sich im Glanz des schicken Wagens brachen, mit dem er vorgefahren war, fielen durch die Fenster und tauchten die Luft um ihn herum in einen warmen Bernsteinton. Wie sie jetzt wusste, war es der letzte Tag seines Lebens gewesen, und der Augenblick hatte sich ihr eingebrannt.
Er hatte die Gitarre in einem Koffer dabei, dessen billiges Leder nach fast fünfzig Jahren zerschrammt war. Huxley stand neben Isaacs Friseurstuhl und unterhielt sich mit Tim, der sich einen Haarschnitt verpassen ließ, bevor er seine Fahrt fortsetzte. Vielleicht spielten sie nebenbei Karten auf der Armlehne. Michael setzte sich auf Huxleys Hocker am Tresen und legte die Gitarre auf die beiden anderen.
»Spielen Sie?«, fragte Geneva, als sie ihm eine Speisekarte aus Papier hinlegte, die auch als Tischset diente. Ohne zu fragen, schenkte sie ihm ein großes Glas Wasser ein.
»Nein«, sagte Michael und blickte sie an, als hätte er einen Entschluss gefasst.
»Er hatte ungefähr Ihre Farbe«, sagte Geneva jetzt zu Darren. »Doch seine Augen waren dunkler und er trug eine runde Brille aus brüniertem Metall.«
»Nein, Ma’am«, sagte Michael. »Ich habe nie gespielt.«
»Was darf ich Ihnen bringen?«
»Den Seewolf.«
»Mit welchen Beilagen?«
Er warf erneut einen Blick auf die Karte. »Ähm … Erbsen und Tomaten-Okra-Gemüse.«
»Wollen Sie außer Wasser noch was trinken?«
»Wenn Sie haben, gern ein Bier.«
Geneva drehte sich zur Kühlvitrine um, in der Glasflaschen mit Limonade und Bier standen. Sie nahm ein Coors und öffnete den Kronkorken mit dem Flaschenöffner, der an einer Schnur an der Kühlvitrine hing. Sie reichte Michael die Flasche und rief dann Dennis in der Küche zu: »Einen Fischteller mit Erbsen und Okra.«
Michael hob die Bierflasche an die Lippen, wobei Geneva den Ehering sah.
Sie konnte ihn nicht einordnen. Auf den Nummernschildern draußen stand Illinois, doch etwas an ihm kam ihr vertraut vor, so als wäre er in diesem schlichten Café im ländlichen Osttexas zu Hause. Wenn sie daran zurückdachte, war es vielleicht auch die Gitarre, die den Eindruck erweckte, als passte sie dorthin. Sie fragte ihn noch einmal danach. »Wenn Sie nicht spielen, wozu schleppen Sie das Ding dann hier rein?«
Er stellte das Coors hin, ein kleines Stück neben den bereits feuchten Kreis von dem Wasserglas auf der Karte. Er blickte auf, betrachtete ihr Gesicht und ließ die Sekunden verstreichen, während Lightnin’ sang. Have you ever tried to give ’em a good home same time she act a fool and left? Er klopfte mit der Hand auf den Gitarrenkoffer.
»Die hat Joe Sweet gehört«, sagte er und wartete ihre Reaktion ab. »Joe ›Petey Pie‹ Sweet.« Er beobachtete, wie Geneva um den Tresen herumkam und den Koffer öffnete. Es war eine 1955er Les Paul, eine Schönheit. Sie strich mit den Fingern über das Holz, vor allem über die Stellen, an denen der Lack matt war. Michael starrte sie an und verkniff sich ein Lächeln, in seiner Stimme schwang Erleichterung darüber mit, dass er den ganzen Weg nicht umsonst gemacht hatte.
»Sind Sie seine Frau?«
»Ist das Joes Gitarre?«
»Ja, Ma’am. Ich hatte gehofft, sie ihm zurückgeben zu können«, sagte er ein wenig zögernd. »Ich meine, ich hätte es gern getan, doch er ist wohl verstorben. Also gehört sie jetzt Ihnen.«
»Woher kannten Sie Joe? Sie wollen mir doch nicht erzählen, Sie seien sein verloren geglaubter Sohn oder so was?« Sie betrachtete eingehend seine Nase und seinen Mund.
»Nein, Ma’am«, sagte er schmunzelnd. »Er und mein Onkel haben früher zusammen gespielt. Booker Wright. Er und meine Familie stammen aus Tyler.« Er nickte in Richtung Fensterfront, als wäre Tyler direkt hinter den Bäumen auf der anderen Straßenseite. »Er war der Erste, der Texas verlassen hat. Dann hat meine Mama meinen Daddy geheiratet, sie sind seinem Bruder in den Norden gefolgt und haben sich in Chicago niedergelassen und nie zurückgeschaut. Und für mich war es wohl oder übel ebenfalls Vergangenheit. Tut mir leid, dass es so lang gedauert hat, meinem Onkel seinen letzten Wunsch zu erfüllen. Er wollte, dass Sie sie bekommen.«
»Booker.« Sie hatte den Namen seit Jahren nicht ausgesprochen. Sie erinnerte sich gut an ihn, erinnerte sich an seine Silhouette auf der Türschwelle des alten Geneva’s, wo er lange genug herumgestanden hatte, um Joe eine Gelegenheit zu geben, es sich noch einmal zu überlegen und zu ihm und dem Rest der Band in den Impala zu steigen. Danach hatte zwischen den Männern jahrzehntelang Verbitterung geherrscht. Joe hatte im Laufe der Jahre ein oder zwei Postkarten geschickt. Doch die einzigen, die es in Shelby County, Texas, gab, zeigten entweder Lone Stars oder Lebenseichen, blaue Wiesenlupinen oder Prärie und Viehherden, was nicht dazu beitrug, die glühende Verachtung zu dämpfen, die Booker wegen des Verlusts des besten Gitarristen, den er je gekannt hatte, für das ländliche Texas empfand. »Joe hat ihn geliebt«, sagte sie.
»Ich weiß.«
Sie lächelte Michael an und genoss die Erinnerungen, die bei der Erwähnung von Joe Sweet erwachten. »Sind Sie sicher, dass Sie Joe nie begegnet sind?«, fragte sie.
»Ich habe nur die Geschichten gehört«, sagte er. »Obwohl ich ihn gern gekannt hätte. Booker hat von der Liebesgeschichte zwischen Ihnen und Joe damals erzählt.«
»Joe hat immer gesagt, ein Mann kann nicht ewig auf Tour sein.«
Die Küchentür schwang auf und Dennis kam mit einem Teller mit in Maismehl paniertem Fisch, Lawry’s Seasoned Salt, ergänzt durch Genevas Gewürzmischung, und dem Gemüse herein. Dennis stellte den Teller vor Michael hin und schob eine Flasche mit scharfer Sauce über den Tresen. Eine Zeit lang ließ Geneva ihn in Ruhe essen. Sie trug die Gitarre und den Koffer zu einer leeren Nische und stellte beides dort auf den Tisch. Es war dieselbe Nische, über der die Gitarre jetzt hing. Michael ließ es sich schmecken und bestellte ein Stück Weißbrot, um die scharfe Sauce, das Fett und die Tomatenbrühe auf dem Teller aufzutunken. Er trank ein zweites Bier und schien gut gelaunt zu sein, gesättigt nach einer Mahlzeit, wie er sie seit seiner Kindheit nicht gehabt hatte. Er schwang auf dem Kunstlederhocker herum und beobachtete Geneva mit der Gitarre.
»Tut mir leid, dass ich so lange damit gewartet habe«, sagte er.
Sie winkte ab, ohne den Blick von dem Instrument abzuwenden.
»Sie haben eine Frau und ein eigenes Leben.« Sie deutete auf seinen Ehering. Michael versteifte sich ein wenig. Er sah weg, drehte sich langsam auf dem Hocker zum Tresen zurück und nippte an seinem Bier. Geneva spürte die Veränderung mehr als sie zu sehen, so als wäre die Sonne hinter einer Wolke verschwunden. Sie ließ den Koffer in der Nische und kehrte an ihren Platz zurück. Sie ließ etwas Zeit verstreichen, indem sie Michaels Teller abräumte und die Theke abwischte. »Ich habe Teigtaschen.«
»Nein danke, Ma’am.«
Er blickte auf seine Armbanduhr, der Zauber war gebrochen.
»Haben Sie Kinder?«, fragte sie.
»Nein.«
»Seit wann sind Sie verheiratet?«
»Seit sechs Jahren.«
»Sechs Jahre ist eine lange Zeit ohne kleine Trappelfüße.«
»Meine Frau ist viel auf Reisen«, sagte er. Er hob die Bierflasche, um zu signalisieren, dass er noch eines wollte, überlegte es sich aber anders. Er stellte die leere Flasche vor sich hin und pulte mit dem Daumennagel am Etikett. »Beruflich.« Er hatte das Bedürfnis, es zu erklären. »Sie ist wahnsinnig erfolgreich, und ich gönne es ihr. Aber ich werde deswegen auch nicht meinen Job aufgeben und ihr von Auftrag zu Auftrag um die Welt folgen. Es wäre nicht fair, sie darum zu bitten, das für mich aufzugeben, das weiß ich. Aber sagen Sie mir eins, Ma’am, vielleicht habe ich das auch ganz falsch verstanden: Ich dachte immer, die Männer wären die Wandervögel.«
»Die Leute tun, was sie wollen – egal ob Mann oder Frau.«
Es lag etwas Vorwurfsvolles darin, Michael ging in die Defensive.
»Sie ist eine gute Frau und ich bin selbst nicht perfekt«, sagte er. »Die Wahrheit ist, ich weiß nicht, ob ich fremdgegangen bin, weil sie nicht zu Hause war, oder ob sie nicht zu Hause war, weil ich fremdgegangen bin. Ich weiß nur, dass wir es irgendwie vermasselt haben. Wir haben uns einmal geliebt. Ich tue es noch immer.«
Darren, der Geneva aufmerksam zuhörte, spürte ein Ziehen in der Brust. Das mit Michael und Randie klang ganz nach ihm und Lisa, nur in umgekehrten Rollen. Darren war derjenige, den es hinauszog, der nicht wusste, wie man ein Zuhause schuf. Die Leute tun, was sie wollen – egal ob Mann oder Frau . Wussten Randie und Darren besser, was sie wirklich wollten, als sie zuzugeben bereit waren?
Im Geneva’s ließ Michael von seiner Bierflasche ab und fragte, ob es ein Lokal gab, wo man etwas Richtiges zu trinken bekam. Er fühlte sich offenbar plötzlich unbehaglich bei ihr und suchte nach einer Fluchtmöglichkeit. Sie sagte ihm, dass es ein Stück die Straße hinauf ein Eishaus gab, er aber gut daran täte, nicht hinzugehen. Ihre Worte hatten einen warnenden Unterton, doch er bemerkte es nicht. »Sie möchten mit Wallys Laden sicher nichts zu tun haben«, sagte Huxley, als er aus Isaacs Friseurnische kam, um seine Kaffeetasse aufzufüllen. Dann kehrte Huxley zu Tim und Isaac zurück, und Michael fragte Geneva nach ihrem Leben. »Haben Sie Kinder?«
»Nur einen Jungen«, sagte sie. »Wir wollten noch eins. Aber ich hab sie alle verloren. Also haben wir den einen Sohn geliebt, den uns Gott geschenkt hat.«
»Joe ist bei einem Raubüberfall ums Leben gekommen?«
Geneva nickte. »Am ersten Abend, an dem ich ihn allein gelassen habe. Ich bin mit meiner Enkelin nach Timpson gefahren, um ein Kleid für ihren Abschlussball zu kaufen, und drei Männer kamen nach Mitternacht rein. Haben die Einnahmen einer Woche gestohlen und meinen Mann kaltblütig erschossen.« Sie faltete den Lappen zusammen, mit dem sie den Tresen abgewischt hatte, und legte ihn weg. Die Erinnerung brachte Trauer und Angst zurück, und sie wirkte auf einmal angespannt.
»Schrecklich, was passiert ist«, sagte Huxley, und Geneva und Michael wurde bewusst, dass die anderen zuhörten. Isaac verharrte mit der Schere in der Luft.
»Isaac hat das Ganze mit angesehen«, sagte Tim.
Isaac räusperte sich und ließ die Schere zuschnappen. »Ich hab gerade den Müll rausgebracht, als sie zum Vordereingang reinkamen.« Geneva hielt den Kopf gesenkt und Isaac, der ihre Gefühle entweder nicht bemerkte oder bemerken wollte, redete weiter. Die Erinnerung daran hatte ihn aufgeputscht und er wollte die Gefährlichkeit der Situation mit dem entsprechenden Pathos darstellen. »Ich hab einen Schuss gehört. Bumm! Wie ein Donnerschlag, einen Gewehrschuss, und als ich aus der Küche in den Laden kam, konnte ich nur noch sehen, wie sie in ihrem Wagen davonfuhren.« Er zeigte auf das Vorderfenster, vorbei an Michaels schwarzem BMW zur Zapfsäule und dem Highway dahinter.
Michael folgte seinem Blick.
»Es waren drei Weiße. Mr. Joe lag hier blutend am Boden«, sagte Isaac und zeigte auf die Stelle hinterm Tresen neben der Kasse, nicht weit von dem Platz, auf dem Michael saß. »Ich war es, der die Polizei gerufen hat.«
Michael blickte von der Stelle am Boden zum Fenster und dann zu Isaac: »Woher wussten Sie, dass die Mörder weiß waren?«
»Wie bitte?«, fragte Isaac, der Tim gerade gebeten hatte, den Kopf zu senken, damit er ihm den Nacken ausrasieren konnte.
»Sie haben gesagt, es war dunkel«, sagte Michael. »Und Sie haben sie wegfahren sehen. Woher wollen Sie wissen, dass es Weiße waren?«
Darren hatte die gleiche Frage gestellt. Er war über die gleiche Unstimmigkeit in der Geschichte gestolpert, die Geneva jetzt wiederholte, wobei sie sowohl Darrens als auch Michaels Frage mit der Bemerkung weggewischt hatte, dass der Sheriff da gewesen sei und sich alles genau angeschaut hätte, und was das jetzt noch für eine Rolle spielte, wo ihre beiden Männer doch unter der Erde lagen.
Sobald sie bei Genevas Café auf den Parkplatz fuhren, entdeckte Darren zwei vertraute Fahrzeuge: Randies Mietwagen und Wallys riesigen Truck, dessen verchromte Stoßstangen in der Sonne glänzten und einen weißglühenden Lichthof bildeten, der in den Augen blendete. Darren bestand darauf, Geneva aus dem Wagen zu helfen und ignorierte ihren Protest. Er nahm sie vorsichtig am Ellbogen, als er sie zur Tür des Cafés geleitete. Als sie an dem blauen Ford vorbeigingen, den Randie seit Tagen fuhr, warf Darren einen Blick hinein, ohne genau zu wissen, was er sich davon erhoffte, doch war es nicht das, was er sah: Ihre lederne Reisetasche stand auf dem Beifahrersitz, die schwarze Fototasche oben drauf. Es war so weit. Sie reiste ab. Darren ebenfalls – wahrscheinlich heute noch. Das Rätsel, was mit Michael Wright passiert war – einem Mann, den Darren zu kennen und zu verstehen glaubte, einem Mann, der eine Jugend in Osttexas mit ihm gemeinsam hatte –, war ihm entglitten. Er hatte den Mann irgendwie enttäuscht, und es blieb das nagende Gefühl, dass sie einen Fehler gemacht hatten.
Im Café stand Wally hinterm Tresen und nahm sich ein Bier aus der Kühlvitrine. Er machte es mit dem Flaschenöffner auf, der an der Tür hing, nahm einen Schluck und nickte zur Begrüßung, als Geneva und Darren hereinkamen, als wären sie gerade in sein Wohnzimmer getreten, wo er mit kalten Getränken und Smalltalk aufwartete. Er wies mit der Bierflasche auf die fleckige Pappe an der Eingangstür, die den Klang der Messingglocke dämpfte. »Ich hab jemanden, der gleich morgen früh kommt, um die Tür zu reparieren«, sagte er zu Geneva. Es war noch nicht einmal Mittag, und Wally hatte bereits zu tief ins Glas geschaut und das Glühen eines Trinkers im Gesicht.
»Diese Tür wird repariert, wenn ich es sage«, erwiderte Geneva.
Sie sagte es auf ihre nüchterne Art, ohne Kränkung oder Zurechtweisung. Sie wartete einfach darauf, dass er wieder zur Besinnung kam und endlich von ihrer Kasse wegging. Sie musste es nur einmal sagen. Wally ging zur Vorderseite, vorbei an Geneva, als sie ihren rechtmäßigen Platz am Ruder ihrer Welt, auf der Küchenseite des Tresens mit Blick auf den Highway 59, wieder einnahm. Als sie nur eine Handbreit voneinander entfernt waren, packte Wally sie am Arm, so als hätte er ein Recht darauf, während er sie mit einem flehenden Ausdruck in den Augen um etwas bat, das unausgesprochen blieb. Sie tauschten Blicke, die die Atmosphäre im Raum aufluden. Darren registrierte außerdem Genevas warnende Miene, als sie sich von Wally losriss und an ihm vorbeidrängte. Wally stand da und starrte ihr eine volle Minute lang nach, bevor er sich auf einen der roten Hocker setzte, zwei Plätze von Huxley entfernt, der auf seinem Stammplatz saß, einen Becher Kaffee und die Zeitung vor sich. Wendy saß in einer Nische am Fenster, unter Joes Les Paul. Sie spielte ein kompliziertes, selbst erdachtes Solitaire, bei dem sowohl Damesteine als auch zwei Kartensätze zum Einsatz kamen. Sie wollte ihren betagten Körper aus der Nische hieven, um Geneva richtig zu begrüßen, doch die sagte ihr, sie solle sich die Mühe sparen. Sie würde niemanden und nichts anfassen, bevor sie nicht eine Viertelstunde lang heiß geduscht hätte. Sie hatte ihre Hand an der Küchentür, als Wally erneut das Wort ergriff. »Lark schläft heute Nacht bestimmt gut, mit einem kaltblütigen Mörder hinter Gittern.«
»Wir haben geschlossen, Wally«, sagte Geneva, um jedes weitere Gespräch zu beenden.
Und als sich Wally demonstrativ die ausgestellten Speisen, die essenden Leute und die Geschäftigkeit in jeder Ecke besah, fügte sie ausdruckslos hinzu: »Das hab ich gerade so entschieden.«
Er lächelte, als schaffte es Geneva immer wieder, ihn zu amüsieren.
Er nahm noch einen Schluck Bier, als wollte er den Moment der Schwäche vorhin damit kompensieren. Er spielte am Diamanten seines Eherings und streckte die Beine aus, damit er sie unterm Tresen übereinanderschlagen konnte. Ein Paar eng sitzende Stiefel aus Alligatorenleder schauten aus seiner schwarzen Wrangler heraus. »Ich hoffe, zwischen uns ist alles klar.«
Geneva hielt auf der Türschwelle zur Küche inne, einen argwöhnischen Ausdruck im Gesicht.
Wally zuckte mit den Achseln, als wäre nichts gewesen. »Ich musste dem Sheriff sagen, was ich gesehen habe, wie Missy an dem Abend, als sie getötet wurde, aus deinem Laden kam.«
Darren trat vor. »Sie haben das van Horn erzählt?«
»Ich hätte wohl gleich zu Beginn was sagen sollen, als noch völlig unklar war, wer’s getan hat, und Parker nur Fragen gestellt hat.«
Huxley sprang rasch von seinem Hocker, als wäre Verrat ansteckend. Er ging auf Abstand zu Wally, indem er Wendy gegenüber in die Nische glitt.
Darren setzte sich auf den frei gewordenen Platz und sah Wally direkt in die Augen.
Er schüttelte leicht den Kopf, als wollte er einen Gedanken verscheuchen, den letzten Zweifel über die Morde, der noch irgendwo in einem Winkel seines Gehirns schlummerte.
»Nein«, sagte er. »Es war die Obduktion …«
»Die hat es bestätigt, ja«, sagte Wally. »Die Speisereste und all das.«
Er blickte mit trotziger Abwehr zu Geneva, die er wie einen Schild gegen das hochhielt, was sie vielleicht mit ihm tun würde dafür, dass er geredet hatte. »Hör zu, van Horn weiß, dass ich seit über fünfzig Jahren auf der anderen Seite des Highways lebe und von meinem Fenster aus alles mitbekomme, was hier läuft.«
»Ich hab gesagt, es ist geschlossen«, sagte Geneva, preschte mit einem wütenden Schnauben durch die Schwingtür und rief: »Wo ist Faith?« Die Tür schwang zurück und trug die Worte mit einem Schwall warmer Luft herein, die vom Duft nach Lorbeerblättern und Knoblauch geschwängert war. Wally schien das Geplänkel gefallen zu haben. Dass sie nicht zum Schlag ausgeholt oder ihn aus ihrem Laden verbannt hatte, zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. Er leerte den Rest seines Biers und rülpste, bevor er seine Aufmerksamkeit Darren zuwandte.
»Hat ja auch wunderbar funktioniert«, sagte er zu ihm. »Sie haben Keith als Doppelmörder überführt und können diesen kleinen Ort genau so verlassen, wie Sie ihn vorgefunden haben.«
Er richtete sich zu seinen ganzen eins neunundachtzig auf; er war einen Fingerbreit kleiner als Darren. Zum Abschied klopfte er auf den Tresen, drehte sich um und verließ das Café.
Darren sah ihm nach.
Er schwang auf seinem Hocker herum und folgte jeder seiner Bewegungen, beobachtete, wie er in den Ford stieg, mit dem Oversize-Truck zurückstieß und das kurze Stück über den Highway 59 fuhr, der Genevas Café von seiner Haustür trennte. Was hatte Wally gesagt? Dass er seit über fünfzig Jahren gegenüber vom Geneva’s wohnte und von seinem vorderen Fenster aus alles mitbekam, was hier passierte. Darren blickte zu Genevas Stammgästen, Huxley und Wendy. »Hat man rausgefunden, wer’s getan hat?«, fragte er.
»Reden Sie von Keith?«, fragte Wendy verwirrt.
»Nein. Von den Männern, die Joe Sweet getötet haben.«
Huxley und Wendy tauschten Blicke, einen Moment lang waren beide still; der Anstand gebot es. Wendy brach das Schweigen zuerst, nicht mit Worten, sondern mit einem leisen Pfeifen, einer Blue Note, die in der Luft hing, einer Aufforderung, die nach einer Antwort verlangte. »Und?«, fragte Darren und blickte zwischen den beiden hin und her.
Wendy schüttelte den Kopf. »Nö. Es wurde keiner erwischt.«
»Das wurde nie aufgeklärt«, sagte Huxley.
»Die ganze Sache wurde nie richtig aufgeklärt«, sagte Wendy. »Aber wir haben nur diesen einen Sheriff, und er hat unter die ganze Sache einen Strich gezogen, noch bevor Geneva Joe unter die Erde gebracht hatte.«
»Die Geschichte ergibt keinen Sinn«, sagte Darren.
»Nein, tut sie nicht«, bestätigte Huxley.
Darren blickte zu dem Friseurstuhl, der genauso leer war wie das Kabuff selbst, in dem Isaac sonst Haare schnitt. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er den Mann seit den Schüssen auf den Laden nicht mehr gesehen hatte. »Glauben Sie, Isaac hat gelogen?«
»Ach, Isaac ist dumm wie Brot«, sagte Huxley. »Das mit den drei Weißen hat er erst gesagt, nachdem es der Sheriff behauptet hatte.«
»Was Isaac da in der Nacht gesehen hat, muss ihn zu Tode erschreckt haben«, sagte Wendy. »Es ist, als wäre die ganze Sache gemeinsam mit Joe begraben worden.«
»Und keiner hat sich getraut, es anzusprechen … bis der junge Schwarze hier reinspaziert ist.«
»Michael?«, fragte Darren.
Er spürte ein Beben in seiner Brust, eine Vibration, die sich verstärkte, wie beim Herannahen eines Zugs, das intensive Gefühl, dass er einer Sache näher kam.
Huxley nickte.
Wendy sagte: »Geneva wollte nicht darüber reden.«
»Noch immer nicht«, hörten sie jemanden sagen, als die Küchentür aufschwang. Geneva kam herein, sie hatte immer noch die Sachen an, die sie im Gefängnis getragen hatte. »Das Mädel läuft hinterm Haus rum und sucht nach Ihnen«, sagte sie. »Ich nehm an, Sie brechen bald auf.« Sie sagte das, als hätte sie alle Zeit der Welt, dort zu stehen und zuzuschauen, wie er ging.
»Was hat van Horn Ihnen gesagt, was Joe passiert ist?«, fragte Darren.
»Was soll das bringen?«
»Etwas stimmt nicht, oder? Mit Isaacs Geschichte.«
»Wir leben seit sechs Jahren damit«, erwiderte sie. »Es war ein Raubüberfall.«
Das Gleiche, was man Randie über den Tod ihres Mannes erzählt hatte, als sie im Shelby County ankam.
»Und finden Sie es nicht seltsam«, fragte Darren, »dass es ausgerechnet in der Nacht passiert ist, als Joe allein im Café war?«
»Keine Ahnung, was das für eine Rolle spielen soll, solange Sie nicht behaupten, dass ich schuld daran bin«, sagte Geneva. »Und wenn Sie glauben, dass ich das nicht schon seit Jahren mit mir herumtrage, dann sind Sie nicht nur hundsgemein, sondern dumm obendrauf.«
»Ich will damit sagen, dass es so aussieht, als hätte jemand gewusst, wann er zuschlagen muss, jemand, der einen guten Überblick über das hat, was hier läuft, direkt von seinem Wohnzimmerfenster aus.«
Erkenntnis blitzte kurz in ihren Augen auf, doch sie spielte nicht mit. »Lassen Sie’s gut sein, hören Sie?« Sie wurde richtig wütend, doch Darren spürte noch etwas anderes, eine tief sitzende, bohrende Angst.
»Wovor haben Sie solche Angst?«
»Ich habe keine Angst«, entgegnete Geneva, vielleicht stimmte das sogar, oder zumindest war ihre Angst nicht so, wie er sie verstand. Vielleicht war das Unbehagen, das sie ausstrahlte, eher einer besonderen Vorsicht geschuldet, einer Furcht davor, gegen den Stacheldraht zu stoßen, der sich mit der Zeit um ihr Herz gelegt hatte, um keine falsche Hoffnung aufkeimen zu lassen. »Ich lebe in diesem Staat schon viel länger als Sie und ich weiß, wie das Gesetz für Leute wie mich funktioniert.«
Sie glaubte nicht mehr an die Wahrheit, genau wie Randie.
Es machte ihn sowohl traurig als auch zornig, dass er eine Marke trug, die den beiden Frauen nichts bedeutete, dass Recht und Resignation so untrennbar miteinander verbunden waren, dass Letzteres kaum zu vermeiden war.
»Zeig ihm die Karte, die dir der Mann gegeben hat«, sagte Huxley auf einmal.
Geneva winkte ab.
Huxley sah Geneva an und obwohl er wissen musste, dass er sich auf dünnem Eis bewegte, ließ er nicht locker. »Der Anwalt, Michael. Er hat Geneva eine Karte gegeben, von einem Büro, das sich um alte Fälle kümmert, Leute, die er aus Chicago kannte.«
»Haben Sie sie noch?«, fragte Darren.
Geneva zuckte mit den Achseln, doch Huxley ging kurz entschlossen um den Tresen herum und holte die Karte, die unter einer Ecke der Kasse klemmte. Er reichte sie Darren, der die geprägte Schrift betrachtete: LENNON & PELKIN INVESTIGATIVE SERVICES. Er sah Geneva an, die einen tiefen Seufzer ausstieß.