26

Es war nach Mitternacht und das Café schon geschlossen, in jener Nacht vor sechs Jahren.

Isaac war mit dem Wischen fertig und aß ein Stück Sandkuchen, das er in Dr Pepper tunkte, so wie er es mochte. Joe hatte ein Glas Whiskey auf den Kassenrand gestellt, während er die Tageseinnahmen zählte. Er war guter Dinge. Eine Nummer von Bobby Bland, bei dem er mitgespielt hatte, lief in der Jukebox, und Joe genoss sie und den Whiskey und schwelgte in Erinnerungen an sein unstetes Leben als Bluesmusiker, das er der Liebe wegen aufgegeben hatte. Er erzählte die Geschichte vielleicht zum fünfzigsten Mal, sprach von dem Augenblick, als er seine süße Geneva erblickt und die Erde stillgestanden hatte. »Nichts konnte uns mehr auseinanderbringen.«

Sie hörten beide die Türglocke.

Noch bevor er aufblickte, um zu sehen, wer es war, sagte er: »Wir haben geschlossen.«

Isaac wandte sich zur Tür und sah Wally als Erster. Er hatte seltsam glasige Augen und bewegte sich unbeholfen, Isaac brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er betrunken war.

Wally setzte sich an die Theke und legte eine Pistole auf die Resopalplatte.

Joe sah sie, blickte auf und schaute Wally an.

Keiner machte irgendeine plötzliche Bewegung. Isaac erstarrte auf seinem Platz am Tresen, wo er Wally so nah war, dass er den Alkohol riechen konnte – und noch etwas anderes, nämlich Schweiß und Zorn, die einen säuerlichen Gestank verbreiteten. Wallys Hals und Gesicht waren gerötet.

»Wann verkaufst du mir den Laden hier, Joe?«, fragte Wally. »Neva ist nicht hier, vielleicht kann ich wenigstens dich zur Vernunft bringen.«

Es war der Kosename, der Joe nicht gefiel, die Selbstverständlichkeit, mit der ihn der andere benutzte.

»Raus hier«, sagte er.

»Ich könnte ihn mir auch einfach nehmen«, sagte Wally mit einem betrunkenen Grinsen im Gesicht. Er trug ein zerknittertes Button-down-Hemd, und der Bund seiner Jeans saß unter einem kleinen Bauch, von dem Isaac nicht wusste, wann er ihn bekommen hatte. In seinem weinerlichen Trotz wirkte er ein wenig kindisch. Oh, er werde nirgendwohin gehen, sagte er. »Ich könnte mir einfach nehmen, was rechtmäßig mir gehört. Das Restaurant, das Grundstück, einfach alles.«

»Isaac, ruf den Sheriff an«, sagte Joe.

Isaac wollte vom Stuhl gleiten, doch Wally schlug mit der flachen Hand auf den Tresen, direkt neben der Waffe, und befahl Isaac sitzenzubleiben. »Bleib gefälligst, wo du bist.«

»Ich will keinen Ärger mit dir«, sagte Joe. »Also sag ich’s einfach, wie’s ist. Der Laden gehört mir, mir und Geneva. Zu einem fairen Preis deinem Daddy abgekauft und das weißt du genau. Du kämpfst anscheinend gegen einen Mann, der nicht mehr hier ist.«

»Daddy hatte kein Recht dazu. Das hier, dieses Grundstück, das ist mein Geburtsrecht. Ihr stehlt es mir. Jeder Dollar, den das hier einbringt, gehört mir. Und ich will verdammt sein, wenn der Niggerbastard von meinem Vater ihn eines Tages in die Hände kriegt.«

Er hatte es laut ausgesprochen.

Er hatte Joe ins Gesicht gesagt, dass sein Sohn nicht sein Sohn war.

Es gab Dinge, die man in Lark, Texas, einfach nicht tat.

Dazu gehörte, einen Stammbaum infrage zu stellen.

»Pass auf, was du sagst oder du musst das Lokal verlassen«, sagte Joe.

»Den Teufel werde ich, hörst du? Das hier gehört mir, das ganze Ding. Daddy hätte es mir geben sollen, Herrgott noch mal. Hörst du? Daddy hätte sie mir geben sollen.«

Bei dem »sie« fielen Joe und Isaac aus allen Wolken.

Isaac, der als Kind genau wie Geneva bei den Jeffersons gearbeitet hatte, erinnerte sich an Vormittage, an denen Wally Geneva nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen hatte, erinnerte sich daran, wie er sie umschwärmt hatte, wie er sie sehnsüchtig angestarrt hatte, wenn sie in der Nähe war … und wie sich alles änderte, als sein Vater anfing, das Café für sie zu bauen.

»Was hast du gerade gesagt?«, fragte Joe.

Wallys Gesichtsausdruck verhärtete sich und er attackierte Geneva, verwandelte all die Jahre des Schmachtens in bittere Wut. »Daddy war ein Dummkopf. Hätte sie die Beine nicht für ihn breit gemacht …«

Joe wollte Wally an die Gurgel gehen, doch Wally war schneller.

Er griff nach der Pistole und richtete sie direkt auf Joes Kopf, während er seinen Gedanken zu Ende brachte. »Hätte sie das nicht getan, hätte keiner von euch Niggern überhaupt etwas.«

Joe nahm die Hände hoch. »Isaac«, sagte er Hilfe suchend.

Isaac stand auf und ging zum Münztelefon.

Er wählte gerade, als er den Schuss hörte. Er wirbelte herum und sah, dass Wally Joe mit einem Schuss in den Kopf getötet hatte. Joe war hinterm Tresen zusammengesunken und blutete. Als Nächstes richtete Wally die Waffe auf Isaac. Er hielt ihn damit in Schach, während sie sich ihre Lüge zurechtlegten und Wally das Geld aus der Kasse nahm, um die Geschichte glaubwürdig aussehen zu lassen. Es war Isaac, der den Vorfall telefonisch meldete. Wally sorgte dafür, dass er auch das Richtige sagte und verschwand, als er eine Viertelstunde später die Sirenen auf dem Highway näher kommen hörte. Als die Deputys hereinkamen, erzählte Isaac die Geschichte von den weißen Räubern, wiederholte sie zweimal – einmal dem Sheriff und dann Geneva gegenüber, als sie und ihre Familie aus Timpson zurückkamen. Jetzt, Jahre später, sagte Isaac leise mit tränennassem Gesicht: »Sagen Sie Geneva, dass es mir leidtut.«

Darren war ganz benommen, als er vom Sheriffbüro wegfuhr, die weißen Linien des Highways verschwammen ihm vor den Augen, während er darüber nachdachte, wie er hatte übersehen können, was er direkt vor der Nase gehabt hatte: Das Gewirr von Familienbanden, die die Geschichte dieses Ortes bestimmten, und wie sie alle in Mord geendet hatten. Er versuchte sich die Worte zurechtzulegen, die er zu Geneva sagen wollte, wenn er sie sah, doch als er beim Café in Lark ankam, hatte der Oktoberwind sie bereits fortgetragen.

Die Glocke läutete, als er das Geneva’s betrat.

Randie, die in einer der Nischen saß, erhob sich augenblicklich. Geneva hinterm Tresen drehte sich zu Darren um, der von hinten von der Sonne angestrahlt wurde, die durch das Fenster fiel. Sie wusste, was käme, und als er darum bat, allein mit ihr zu sprechen, nickte sie in Randies Richtung und sagte: »Das ist auch ihre Geschichte.«

Er ging mit den beiden Frauen zum Trailer, wartete, bis sie nebeneinander auf dem Sofa Platz genommen hatten, und erzählte die Geschichte von Anfang bis Ende, kehrte zurück zu der Frühlingsnacht vor sechs Jahren, als Wally Joe Sweet getötet hatte, und schloss mit der Nacht, in der Isaac Michael Wright den tödlichen Schlag versetzt hatte. Geneva weinte. Es war mit das Herzzerreißendste, was Darren je gesehen hatte. Die Maske fiel restlos, sie sackte in sich zusammen, das Gesicht verzerrt und der Körper gekrümmt vor Schmerz über den Irrsinn, der ihren Mann das Leben gekostet hatte. Sie kippte einfach um und landete mit dem Kopf in Randies Schoß. Die erschrak zuerst, entspannte sich aber dann, während sich Geneva wie ein verletzter Vogel von ihr festhalten ließ. Sie waren in Sicherheit. Doch Darren blieb stundenlang bei den beiden Frauen und passte auf sie auf.