Als er auf dem Heimweg die Interstate 45 hinter Huntsville verließ, um eine der kleineren Landstraßen zu nehmen, die ins San Jacinto County führten, erhielt er die Nachricht, dass die Grand Jury gegen eine Anklage von Rutherford McMillan gestimmt hatte. Damit war es offiziell. Darren fragte sich, ob Wilson informiert worden war, dass die Staatsanwaltschaft eine Strafverfolgung ablehnte, und ob das und nicht die Festnahme wegen Drogen in Lark der eigentliche Grund dafür war, dass Darren seinen Job wiederhatte. Doch es spielte keine Rolle. Wichtig war, dass Mack am Leben blieb. Darren fiel ein Stein vom Herzen. Clayton war völlig aus dem Häuschen, als er aus Austin anrief und sagte, er wolle Mack und dessen Enkelin Breanna am Abend in das Haus in Camilla einladen, und ob Darren bei Brookshire Brothers Rinderbrust und ein paar Hähnchen besorgen könnte? Darren versprach, den Räucherofen zu säubern und für ausreichend Hickoryholz zu sorgen, damit das Feuer lang genug brannte. Clayton sagte, er würde nach seiner letzten Vorlesung Naomi abholen und sie würden gemeinsam aus Austin kommen.

»Ich habe Lisa eingeladen.«

»Oh«, sagte Darren und spürte ein leichtes Flattern in seinem Brustkorb. Er freute sich wirklich darauf, seine Frau zu sehen, sie wieder zu berühren. Vielleicht könnte sie sich ja doch mit einem Ranger als Ehemann arrangieren. Er hatte es seinem Onkel noch nicht mitgeteilt, doch heute Abend würden es alle erfahren.

Er würde seine Marke behalten.

Er fuhr auf den Parkplatz des Supermarkts in Coldspring und rief endlich seine Mutter zurück. Er wollte wissen, wie schlimm das Haus nach der Durchsuchung durch die County-Deputys aussah, ein Umstand, den er noch immer vor seinem Onkel verheimlichte. Er hatte nur ein paar Stunden Zeit, um das Haus für eine Dinnerparty vorzubereiten. Bell ging beim zweiten Klingeln dran und fragte als Allererstes nach den dreihundert Dollar, die Darren ihr versprochen hatte.

»Haben sie irgendetwas kaputt gemacht?«

»Soweit ich gesehen habe, haben sie weder Glas oder sonst was zerbrochen«, sagte sie.

Sie schob ein Bonbon im Mund herum, Darren konnte hören, wie es gegen ihre Zähne klickte. »Was ist das überhaupt für eine Sache mit Mack im Bezirksgericht? Es heißt, er hätte jemanden umgebracht.«

Darren stand auf dem Parkplatz und blickte auf ein Kind, das auf einem elektrischen Pferd hin- und herschaukelte, während die Mutter mit einem weiteren Vierteldollar in der Hand daneben stand. Er spürte, wie ihm der Kleinstadttratsch seiner Mutter auf die Nerven ging, die vielen Halbwahrheiten und unvollständigen Geschichten, die er im Laufe der Jahre gehört hatte. Einmal hatte sie ihn davon zu überzeugen versucht, dass ein County-Richter eine der Hütten, die sie saubermachte, einmal die Woche für ein Stelldichein mit einer Frau mietete, die nicht seine war – bis sich schließlich herausstellte, dass der Nachname des Mannes Judge, also Richter, war, und es Bell Callis sowieso nichts anging, wer diese andere Frau war.

»Das stimmt nicht«, sagte er zu ihr.

»Das kann man nie wissen.«

»Ich muss Schluss machen, Mama. Wir bekommen Besuch.«

»Oh, okay, verstehe. Du bist jetzt ’ne große Nummer.«

Darren meinte zu hören, wie sie Wir werden sehen grummelte, bevor sie auflegte.

Im Supermarkt lief er die schmalen Gänge entlang und lenkte seinen Einkaufswagen so, dass er mit ihm nicht in einem der vielen Risse im Linoleum stecken blieb. Er kannte jeden einzelnen, hatte bei Brookshire Brothers jahrelang auf dem Nachhauseweg eingekauft. Er warf Paprika und Zwiebeln in den Wagen, Mais zum Rösten und Tüten mit Salat, weil Kohl zu lange bräuchte, um ihn zuzubereiten. Und die ganze Zeit hatte er ein beklemmendes Gefühl in der Brust. Er verweilte im Gang mit den Spirituosen, entschied sich jedoch dagegen, etwas zu kaufen. Lisa kommt, fiel ihm wieder ein.

Mack kam als Erster mit seiner Enkelin im Schlepptau und einer großen Flasche Texas-Bourbon, seinem Dank an Darren. Mehr brauchte es nicht. Als Clayton und Naomi ankamen, hatte er bereits zwei Drinks intus. »Pop«, sagte er und lächelte. Clayton, der noch nie ein Glas Bourbon ausgeschlagen hatte, holte innerhalb einer Stunde auf, und der Abend fühlte sich so golden und warm an wie die Sonne, die auf die hintere Veranda fiel. Clayton öffnete sowohl die Vorder- als auch die Hintertür, sodass der liebliche Hickoryrauch durchzog, als sie sich im Wohnzimmer versammelten, Mack in Jeans, wobei seine langen Beine bis weit unter den Sofatisch reichten, wo seine Stiefelabsätze auf dem indianischen Läufer ruhten, der schon so lange dort lag, wie Darren denken konnte. Die Wände waren weiß getüncht und mit Fotos vom Mathew-Clan vollgehängt. Clayton, William und Duke, der kleine Bruder, außerdem Großeltern und Urgroßeltern, von denen Darren nicht alle Namen kannte. Naomis Hochzeit mit Onkel William war hier ebenfalls verewigt. Mit ihren damals neunzehn Jahren war sie eine umwerfende Braut gewesen, die Haare zu einem Knoten hochgesteckt, ihre karamellfarbene Haut strahlend vor Freude. Darren hatte Wert darauf gelegt, das Foto dort zu belassen. Es schien dem neuen Paar nicht das Geringste auszumachen. Clayton hatte, was er schon immer gewollt hatte, und nahm seinem Neffen das Gedenken an längst Vergangenes nicht übel. »Reden wir über die Fakultät, mein Sohn.«

»Lieber nicht, Pop.«

»Wir hatten eine Vereinbarung, Darren«, sagte Clayton.

Er antwortete nicht, weil er die Schritte seiner Frau hörte.

Ihre hohen Absätze klackten auf eine Weise auf den Verandadielen, die ihn sowohl erregte als auch einschüchterte. Als sie auf der Schwelle der Vordertür stand, erhob sich Darren und ging ihr entgegen. Clayton, Naomi – deren langes korallenfarbenes Trägerkleid den Boden streifte –, Mack und Breanna gingen auf die hintere Veranda hinaus und ließen Darren mit seiner Frau allein.

Sie kam direkt von der Arbeit, mit hochgesteckten Haaren und einer taillierten hellgrauen Kostümjacke, und er sah ihr mit stummer Bewunderung dabei zu, wie sie das Jackett aufknöpfte und eine schwere Armspange von ihrem Handgelenk nahm. Sie umarmte und küsste ihn mit vollen und sinnlichen Lippen, die ihn erregten. Beinahe hätte er sie in eines der drei Schlafzimmer im Haus gezogen, als sie sich losmachte, ihn mit ihren braunen Augen ansah und sagte: »Du bleibst, oder?«

»Ich wollte gern nach Hause kommen«, sagte er.

»Du bleibst bei den Rangern, wollte ich sagen.«

Sie wusste es sofort, als sie ihn ansah.

»Ja.«

Sie gab ein resigniertes Seufzen von sich und sagte: »Okay.«

Ihre Worte und der Kuss machten ihn kühn. »Das heißt, wo auch immer mich der Job hin verschlägt?«, fragte er.

»Okay.«

»Okay, ich kann wieder nach Hause kommen?«

Sie hielt einen Moment inne. »Das Trinken gefällt mir nicht«, sagte sie.

Das ist wegen dir , wollte er sagen. Das passiert mit einem Mann, wenn er allein und verlassen ist .

Er war wütend auf sie. Ihm war nicht klar gewesen, wie sehr, bis er direkt vor ihr stand und ihr ins Gesicht blicken konnte. Sie war so wunderschön, so selbstsicher und elegant, hatte ihrer beider Leben so vollständig unter Kontrolle, dass er einen Groll verspürte, der vielleicht schon immer dagewesen war. Erst als er später auf diesen Abend zurückblickte, wurde ihm bewusst, dass er nie Ja gesagt hatte. Dass er nie gesagt hatte, er ginge mit ihr nach Houston zurück.

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Sie saßen am Esstisch nebeneinander und Lisa hatte während des Abendessens die Hälfte der Zeit ihre Hand auf seinem Oberschenkel. Mack sprach davon, ein eigenes Geschäft aufzuziehen, dass er eine zweite Chance im Leben bekommen hätte, wie er fand. Er kümmerte sich um das Grundstück der Mathews und ein paar anderer im County, doch er wollte in das lukrativere Bauholzgeschäft einsteigen. Bevor das Dessert serviert wurde, versprach ihm Clayton, eine Empfehlung zu schreiben.

Naomi brachte einen Zitronenkuchen und leckte sich die Finger ab, nachdem sie sechs Stücke auf blauweißes Chinaporzellan verteilt hatte. Die zarten Lachfältchen um ihre Augen herum kamen zum Vorschein, als Clayton Aussehen und Geschmack des Kuchens lobte. Als sich Darren gerade den vierten Drink einschenkte, vernahm er die Stimme seiner Mutter.

»Darren.«

Seine Hand über dem Glas erstarrte.

Bell Callis stand mit trotziger Miene in der geöffneten Tür, während sie gegenüber ihrem Erzfeind, seinem Onkel Clayton, in Angriffsposition ging. Darren spürte einen Anflug von Panik. Er wusste, dass seine Mutter gern eine Gelegenheit hätte, von der polizeilichen Durchsuchung vom Haus der Mathews zu berichten, ein Affront und eine Rechtsverletzung, die die Familie Callis jahrelang ertragen musste. Die Familie deiner Mama ist kein Abschaum , pflegte Clayton zu sagen. Aber nach dem was Clayton erzählte, verbrachten die Brüder seiner Mutter so viel Zeit im County-Gefängnis, dass jeder von ihnen eine bevorzugte Zelle und sogar eine Decke hatte, die er fürs nächste Mal dort ließ. Sie waren ein Klan von Plünderern, für die harte Arbeit die letzte Zuflucht war. Bell gab Clayton die Schuld, dass Duke Mathews sie nicht geheiratet hatte. Nur über meine Leiche , hatte er mehrmals gesagt, als Duke noch lebte.

Darren hatte Angst, sie offen reden zu lassen.

Rasch erhob er sich vom Tisch und hinderte Bell daran, zu weit über die Türschwelle zu treten. Clayton wollte sie nicht im Haus haben und flüsterte seinem Neffen zu: »Lass sie nicht in die Nähe des Tafelsilbers«, von dem sie genau zwei Stücke hatten, eine Teekanne und einen einzelnen Servierlöffel, die beide schwarz angelaufen waren. Bell wollte genauso wenig dort sein, wie Clayton sie dort haben wollte. Sie hatte auch nicht vor, mit Darren im Haus zu reden und bat ihn deshalb, auf die vordere Veranda zu kommen.

Lisa streckte besorgt die Hand nach ihm aus. »Darren?«

»Ist schon in Ordnung«, sagte er.

Doch ihm war ein wenig schwindlig, als er mit Bell auf die Veranda trat und die Eingangstür hinter ihnen schloss, so als könnte jeden Moment der Boden hochklappen und ihn im Gesicht treffen.

Sterne waren inzwischen zu sehen, winzige Lichter am schwarzblauen Himmel.

Eine lange, unbefestigte Zufahrt führte zu dem ehemaligen Farmhaus.

Darren konnte nicht weiter sehen als bis zum zweiten geparkten Wagen, und das Licht auf der Veranda war nicht hell genug, um zu erkennen, woher seine Mutter gekommen und ob sie gefahren oder hergebracht worden war. Ihre schwarzen Ballerinas waren mit rotem Staub bedeckt.

»Wir müssen reden, Darren.«

»Ich habe keine dreihundert in bar, jedenfalls nicht dabei«, sagte er. »Ich fahr morgen zur Bank und komm dann gegen Mittag bei dir vorbei, okay?«

Sie unterbrach ihn mit den Worten: »Ich hab sie gefunden, Darren.«

»Wovon redest du?«

»Von der Pistole, die die Cops nicht finden sollten.«

Macks Waffe , dachte Darren.

Die, nach der die Cops gesucht hatten.

»Wieso sonst hättest du sie in der Erde vergraben sollen?«

»Hör zu, Mama, ich hab nicht …«

»Clay tut so, als wäre ich in diesem Haus nie willkommen gewesen, aber ich und Duke waren oft hier, wenn seine Brüder nicht zu Hause waren. Ich kenne es ziemlich gut«, sagte sie. In der Dunkelheit sahen ihre Augen kohlrabenschwarz aus, die Falten darum herum lagen im Schatten. Es gab ihrem Gesicht ein hexenhaftes Aussehen, und Darren bekam nur mühsam Luft und fühlte sich beklommen in der Nähe dieser Frau, die im Grunde eine Fremde war; er kannte sie nicht gut genug, um zu wissen, wie sie sich in einer solchen Situation verhielt … und ob sie wusste, in welchen Schwierigkeiten er steckte. »Nachdem ich das Chaos aufgeräumt hatte, wie du es mir aufgetragen hast, hab ich den Müll zu den Tonnen rausgebracht«, sagte sie und zeigte darauf. »Ich sah den Baum und wusste, dass er früher nicht da war.« Sie zeigte auf eine Bur-Eiche, die tatsächlich erst vor Kurzem gepflanzt worden war.

Darren hatte sie eine Woche, nachdem man den toten Ronnie Malvo gefunden hatte, bemerkt.

Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass sie Bell ebenfalls auffallen würde, sonst hätte er sie nie in die Nähe des alten Farmhauses gelassen.

Bell, das Gerede von Durchsuchungen durch das Sheriffdepartment und über den verdächtigen Mack noch im Ohr, hatte in der noch weichen Erde um den frisch gepflanzten Baum herum gegraben und die kurzläufige 38er nur Stunden, nachdem die Deputys des Sheriffs das Haus verlassen hatten, gefunden. Sie wusste nicht, wem sie gehörte, doch sie wusste, dass sie wichtig war und Macht über ihren Sohn bedeutete, nach der sie gierte. Sie konnte ihn jetzt zu allem zwingen. Sie konnte ihn zwingen, sie zu achten, vielleicht sogar, sie bei ihm wohnen zu lassen; sie konnte ihn dazu zwingen, sich um sie zu kümmern, wenn sie alt wurde.

Sie sagte nichts dergleichen, noch nicht.

Doch Darren sah das alles kommen.

Sie hielt seinem Blick im Dunkeln stand, bannte ihn damit. »Was hast du getan?«

Nichts.

Er hatte nichts getan.

Er wusste, dass Ronnie Malvo mit einer 38er getötet worden war, doch er hatte Mack nicht gefragt, wo seine Waffe war. Er hatte die neue Eiche auf seinem Grundstück bemerkt, doch er hatte Mack nicht gefragt, wann und warum er sie gepflanzt hatte. Er hatte nichts unternommen, weil Malvo ein übler Kerl war, ein Krebsgeschwür, ein hasserfüllter Mensch, der großen Schaden anrichten würde, wenn man ihm keinen Einhalt gebot. Er hatte nichts unternommen, weil es Darren in Wahrheit egal war, dass der Mann tot war. Er hatte nichts unternommen, weil Mack ein guter Kerl war, der noch nie mit dem County-Sheriff in Konflikt geraten war, mit seinen fast siebzig noch nie etwas Unrechtes getan hatte. Er, Darren, hatte alle Fakten direkt vor sich gehabt. Doch er hatte nichts unternommen. Er hatte Mack keine Fragen gestellt, hatte sich wie ein Verteidiger verhalten, obwohl er doch den Eid eines Cops abgelegt hatte. Er war sich manchmal nicht klar darüber, auf welche Seite des Gesetzes er gehörte, wusste nicht immer, wann es für einen Schwarzen sicher war, den Regeln zu folgen.

Er hatte nichts unternommen.

Machte ihn das kein bisschen besser als Mack, und Mack kein bisschen besser als die Mörder in Lark? Nein, das konnte nicht sein. Aber Darren war sich in seinem vom Bourbon vernebelten Hirn überhaupt nicht mehr sicher. Er blickte zu seiner Mutter. Ein Schwarm Mücken summte um ihren Kopf, doch sie stand vollkommen reglos da und hatte ein leichtes Grinsen im Gesicht. Er sah, dass sie mit ihren trockenen, schwieligen Händen eine paillettenbesetzte Handtasche umklammerte. Sie hat sich extra dafür hübsch gemacht, dachte er. Er sank auf den Gartenstuhl aus Metall, als ihm klar wurde, dass sie die Pistole natürlich eingesteckt hatte, dass sie sie in diesem Augenblick in ihrer Handtasche trug, und seine Karriere als Texas Ranger in ihren Händen lag.