Als Alba und Dolly heimkamen, war im Haus alles still. Sie hatten sich Zeit gelassen und waren noch ein wenig auf dem Anwesen umhergeschlendert. Dabei hatte Alba Dolly von der hochnäsigen Rosemary Dalton erzählt und die zwei hatten sich lachend die gemeinsten Dinge ausgedacht, um Rosemary eins auszuwischen. Doch als sie durch die Haustür traten, verstummten sie abrupt.
Irgendetwas stimmte nicht.
Alba kannte den Tagesablauf im Haus in- und auswendig. Am Spätnachmittag eines normalen Schultags waren die Räume in der Regel von diversen Geräuschen erfüllt: Aus der Küche, wo die Dienstmädchen das Abendessen vorbereiteten, waren Stimmen zu hören, im Esszimmer klapperte Besteck, weil die Butler den Tisch deckten. Albas Mutter war um diese Zeit gewöhnlich in ihren Privaträumen, um zu lesen, Musik zu hören oder an einem Tablet mit einer anderen Dame der Gesellschaft zu chatten.
Doch heute herrschte im Haus absolute Stille. Albas Herzschlag beschleunigte sich. Offenbar hatte ihre Mutter wieder einen ihrer schlechten Tage.
Das war lange nicht vorgekommen. In den letzten Wochen war sie freundlich und fröhlich gewesen und hatte sich von ihrer besten Seite gezeigt. Es war jedoch immer nur eine Frage der Zeit, bis die Stimmung umkippte.
Dolly drückte Alba beruhigend die Schulter. »Ich geh mal nachsehen, was los ist«, flüsterte sie und verschwand in Richtung Küche.
Alba wartete. Die Stille lastete wie ein Gewicht auf ihr. Das geht vorbei, das geht vorbei, dachte sie wieder und wieder, wie sie es schon als Kind getan hatte, um schlimme Situationen durchzustehen.
Das geht vorbei.
Das geht vorbei.
Als Dolly ein paar Minuten später zurückkam, konnte Alba ihrem Gesichtsausdruck entnehmen, dass es diesmal eine Weile dauern würde, bis alles vorbei war.
»Du musst sofort auf dein Zimmer«, sagte Dolly leise. Sie nahm Alba bei der Hand und führte sie durch die Eingangshalle. Am schnellsten wäre es gegangen, wenn sie die geschwungene Treppe genommen hätten, doch dabei wären sie am Zimmer ihrer Eltern vorbeigekommen. In die Nähe ihrer Mutter. Deshalb steuerten sie auf die Dienstbotentreppe im hinteren Teil des Hauses zu.
»Was ist diesmal passiert?«, murmelte Alba, als sie die enge Wendeltreppe hochstiegen. An den Marmorwänden um sie herum waren kleine Lampen angebracht, die wie Sterne blinkten. Alba spürte, wie Dollys Herzschlag gegen ihre Handfläche pulsierte, und roch den warmen, holzigen Duft ihrer Haut.
»Ein Gerücht über deine Mutter hat die Runde gemacht. Offenbar irgendwas besonders Gemeines. Als sie heute beim Lunch war, haben wohl einige der Frauen über sie hergezogen.«
Natürlich, dachte Alba. Es hatte immer etwas mit der feinen Gesellschaft zu tun. Als Gattin von Alastair White war ihre Mutter eine der mächtigsten Frauen im Norden – und deshalb auch eine der am meisten beneideten. Für das Privileg, mit dem Oberstaatsanwalt der Stadt verheiratet zu sein, würden viele Frauen im Norden morden. (Wer weiß, vielleicht hatte es sogar schon Versuche gegeben. So etwas traute Alba diesen Frauen durchaus zu.)
»Geh auf dein Zimmer und leg dich ins Bett«, sagte Dolly, als sie die erste Etage erreicht hatten. Sie hauchte Alba einen Kuss auf die Stirn und machte kehrt. »Sobald ich kann, bring ich dir was zu essen.«
Alba wartete, bis Dolly verschwunden war. Dann holte sie tief Luft, nahm all ihren Mut zusammen, öffnete die Tür und trat in den Gang hinaus.
Der Weg zu ihrem Zimmer kam ihr unendlich lang vor, obwohl sie nur ein paar Sekunden brauchte. Alba schlüpfte ins Zimmer und machte die Tür leise hinter sich zu. Erst als sie in ihrem großen schmiedeeisernen, weiß angestrichenen Bett lag und sich sicher fühlte, stieß sie den Atem aus, den sie angehalten hatte. Sie schloss die Augen und presste das Gesicht in die mit roter Seide bezogene Daunendecke.
Es dauerte eine Weile, bis ihr Herzschlag sich wieder normalisierte.
Als Alba einige Zeit später erwachte, war es im Zimmer fast dunkel. Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt einzuschlafen. Ihr Mund war wie ausgetrocknet. Graue Schatten krochen über die weißen Dielen, während die Kanten der Möbel leicht silbrig schimmerten.
Ihr fiel sofort auf, dass es im Haus jetzt alles andere als still war. Das Klappern von Metall und rhythmische Schritte waren zu hören, begleitet von Orchestermusik, dem An- und Abschwellen von Geigenklängen, das die Luft wie mit feinen Goldfäden durchzog. Aus der Küche unten stiegen ihr Essensdüfte in die Nase.
Alba richtete sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Im selben Moment ging die Tür ihres Zimmers auf.
Dolly kam lächelnd herein, obwohl ihr Gesicht immer noch angespannt wirkte.
»Oh gut. Du bist wach. Deine Mutter hat jetzt bessere Laune. Deshalb hat sie beschlossen, deinen Vater mit einem großen Abendessen zu überraschen, wenn er nach Hause kommt.«
Alba rieb sich die Augen. »Wie spät ist es denn?«
»Kurz nach acht.« Dolly setzte sich zu ihr aufs Bett und machte sich an Albas Haar zu schaffen, das vom Liegen ganz zerzaust war. »Und bis zum Abendessen bleiben uns nur noch fünfzehn Minuten … aber gut, dass du einen kurzen Schönheitsschlaf machen konntest.«
»Hey!« Lachend stupste Alba Dolly in die Rippen.
Dolly arbeitete schnell. Innerhalb von zehn Minuten hatte sie Albas wirre Haare zu einem eleganten Knoten im Nacken gesteckt – in den sie kleine Blumen aus dem Garten flocht – und ihr ein hübsches Kleid aus schimmernder perlfarbener Seide angezogen. Außerdem hatte sie Alba das Gesicht gewaschen, ihr ein wenig Rouge auf die Wangen getupft und pinkfarbenen Lippenstift aufgetragen.
Im Spiegel ihrer Frisierkommode sah Alba zu, wie ihre Zofe ihr eine schwere goldene Halskette umlegte.
»Wann zeigst du mir endlich, wie ich mein Haar so färben kann wie deins?«, fragte sie mit einem Blick auf Dollys purpurrote Haarpracht.
»Du weißt doch, dass deine Mutter das nicht gutheißen würde.«
»Genau deshalb will ich es ja machen.«
Dolly presste die Lippen zusammen, sagte aber nichts. Das war einer der (vielen) Gründe, warum Alba sie liebte. Dolly speiste sie nie mit leeren Worten ab oder versuchte, ihr einzureden, wie sehr sie ihrer Mutter doch am Herzen lag, wie sie umhegt und umsorgt wurde, auch wenn es sich nicht immer so anfühlte.
Weil sie natürlich nicht umhegt und umsorgt wurde. Das konnte jeder Idiot sehen. Alba wünschte bloß, dass andere nicht ständig versuchen würden, sie vom Gegenteil zu überzeugen.
Das Schlimmste daran war, dass Alba diesen anderen gern geglaubt hätte. Wenn ihre Mutter wie in den letzten Wochen in guter Stimmung war, konnte Alba fast sehen, wie die Zuneigung ihrer Mutter sich langsam entfaltete und sich wie ein goldener Schleier über alles legte, sodass ihre Welt auf einmal wunderschön war. Doch dann schlug die Stimmung ihrer Mutter von einer Sekunde zur anderen um, was Alba besonders schwer traf, weil sie sich wieder einmal hatte verleiten lassen anzunehmen, dass sie ihrer Mutter tatsächlich etwas bedeutete. Dass sie tatsächlich ihr Ein und Alles war.
Dolly legte Alba die Hand auf die Schulter. »Noch zwei Jahre, dann studierst du an einer der besten Universitäten der Welt Englische Literatur«, sagte sie lächelnd. »Weit weg von hier. Was schwebt dir denn so vor? Indien? Die Schweiz? Oder wie wär’s mit Amerika? Ich hab gehört, dass unsere Beziehungen zu denen allmählich besser werden.«
»Das ist mir egal. Hauptsache, Professor Nightingale ist nicht dort«, erwiderte Alba, was Dolly mit schallendem Lachen quittierte.
Von unten wurde zum Abendessen geläutet.