»Ich glaube nicht, dass es gebrochen ist, aber verstaucht ist es auf jeden Fall. Moment. Ich taste alles mal ab. Das könnte jetzt wehtun.«
»Das tut’s auch so schon.«
Alba und Dolly saßen auf einer Bank im Gewächshaus, umgeben von üppigen Grünpflanzen. Zwischen ihnen stand ein aufgeklappter Erste-Hilfe-Kasten. Das Licht des Mondes fiel glitzernd durch die Glaswände und malte unruhige Schatten auf den Fußboden. Die Luft war vom Geruch der Pflanzen erfüllt, einem frischen Duft, der Albas Übelkeit linderte.
Sanft strich Dolly mit den Fingern über Albas Handgelenk, um herauszufinden, wie groß der Schaden war. Jede Stelle, die sie berührte, tat höllisch weh. Alba biss die Zähne zusammen.
»Es ist nur eine Verstauchung«, erklärte Dolly und legte Albas Hand auf die Bank, um ihr Handgelenk mit einem kühlenden Gel einzureiben. »Da hast du Glück gehabt.« Als sie den Ausdruck in Albas Augen bemerkte, fügte sie rasch hinzu: »Womit ich nicht sagen will, dass –«
Alba rang sich ein Lächeln ab. »Ich weiß.«
Dolly stand auf und verschwand zwischen den Pflanzen. Ein paar Minuten später kam sie mit einem Stößel und einem Mörser sowie einem Bündel von Pflanzen und Kräutern zurück. »Die Leute im Norden unterschätzen die Kraft natürlicher Heilmittel«, erläuterte sie, »aber ich bin auf dem Land geboren. Ich weiß, wie wirkungsvoll sie sind.« Nachdem sie die Blätter zerstampft hatte, strich sie die klumpige, scharf riechende Paste auf Albas Handgelenk. »Arnika, Aloe und Hopfenklee. Das hilft gegen Schmerzen und Entzündungen.«
»Wenn es so gut hilft, wie es riecht«, sagte Alba und rümpfte die Nase, »werde ich sicher schnell wieder gesund.«
Dolly lächelte. »Wenn du sarkastische Bemerkungen machen kannst, geht es dir offenbar schon besser.«
Nachdem Dolly die Paste aufgetragen hatte, wischte sie sich die Hände ab. »Möchtest du darüber sprechen?«, fragte sie mit leiser Stimme.
Alba schaute weg und atmete tief durch. »Was gibt es da schon zu sagen? Meine Mutter hasst mich. Sie meint, ich müsste ihr und Vater dankbar sein, weil sie mich in diesem Käfig gefangen halten, um mich vor der Welt zu beschützen.«
»Bald wirst du ja aus dem Käfig rauskommen«, erwiderte Dolly, legte ihr den Arm um die Schultern und presste die Wange gegen Albas Kopf. »Auf dich wartet mehr als nur das hier, Alba. Wesentlich mehr.«
Tatsächlich?, dachte Alba. Trotzdem lächelte sie und sagte: »Das hoffe ich.«
Dolly drückte sie an sich. »Also ich weiß es.«
In der Nacht lag Alba stundenlang wach. Dollys Kräuterpaste hatte die Schmerzen gelindert und das Übelkeitsgefühl vertrieben, doch sobald es ihr besser ging, dachte sie automatisch wieder an das, was am Abend geschehen war. Wieder und wieder spielte sie in Gedanken durch, wie ihre Mutter auf sie losgegangen war. Das machte sie immer so, wenn ihre Mutter sie geschlagen hatte, weil sie hoffte, auf diese Weise herauszufinden, an welchem Punkte sie sich hätte zur Wehr setzen können oder wie sich das Ganze von vornherein hätte vermeiden lassen.
Vor allem aber wollte Alba dem Warum auf den Grund kommen.
Was hatte sie getan, um so etwas zu verdienen? Warum verwandelte ihre Mutter sich in ein solches Monster, wenn sie bei anderen Gelegenheiten doch so freundlich und liebevoll war, dass Alba fast vergaß, dass sie auch anders sein konnte?
Seufzend drehte Alba sich auf die Seite. Dolly lag schlafend neben ihr und ihre Silhouette hob sich dunkel von den weißen Dielen ab. Sie hatte darauf bestanden, in der Nacht bei Alba zu bleiben, falls sie etwas brauchte, obwohl Alba ihr mehrfach versichert hatte, dass es ihr gut gehe.
Alba traten Tränen in die Augen. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, was sie ohne Dolly tun würde. Der Gedanke, wie ihr Leben aussehen würde, wenn Dolly nicht ihre Zofe geworden wäre, jagte ihr entsetzliche Angst ein.
Plötzlich ekelte sie sich vor sich selbst. Wie kannst du nur so egoistisch sein?, dachte sie. Es war ja nicht so, als hätte Dolly selbst nie Oxanas Wut zu spüren bekommen.
Manchmal fragte sich Alba, warum Dolly nicht kündigte. Steckte da der gleiche Grund dahinter, aus dem niemand der anderen Dienstboten kündigte? Die Angst, keine neue Stelle zu finden und nicht mehr für ihre eigene Familie sorgen zu können? Aber Dolly hatte keine Familie. Sie hatte noch nicht mal einen Freund (obwohl die Hälfte der männlichen Dienstboten im Haus hoffnungslos in sie verliebt war). Alba gestand es sich nicht gern ein, weil es schreckliche Schuldgefühle in ihr hervorrief, aber sie wusste, warum Dolly blieb.
Ihretwegen.
Zu ruhelos, um im Bett zu bleiben, stand Alba auf und trat vorsichtig über ihre schlafende Zofe. Barfuß durchquerte sie das Zimmer, ihr verbundenes Handgelenk gegen die Brust pressend, und öffnete die Tür zum Gang.
Der Treppenabsatz empfing sie mit jener besonderen Stille nach Mitternacht, die Alba so liebte. Dieser Teil der Nacht hatte immer etwas Magisches für sie, als hätte sich eine andere Welt auf die ihr vertraute gelegt und als hätte sich im silbrigen Licht der Sterne die ganze Umgebung erneuert. Sie folgte dem Gang bis zur Haupttreppe und stieg nach oben.
Vom obersten Stockwerk des Hauses hatte man einen wundervollen Ausblick auf das Gelände des Hyde-Park-Anwesens. In schlaflosen Nächten wie dieser setzte Alba sich im Wohnzimmer im hinteren Teil des Hauses gern in einen Sessel am Fenster und las bei Kerzenschein ein Buch. Immer wenn sie hinausblickte, wurde ihr wieder bewusst, dass ihr Leben gar nicht so schlecht war. Sieh dir doch mal an, was du alles hast, rief sie sich dann in Erinnerung. Du hast kein Recht, unglücklich zu sein.
Oft dachte sie dabei an die anderen Jugendlichen, die im Süden lebten. Viele von ihnen hatten wahrscheinlich Eltern, die weit schlimmer waren als ihre. Obendrein lebten sie im Süden. Im Vergleich dazu war sie wirklich ein Glückskind.
Doch heute schienen all diese Überlegungen nichts zu nutzen. Alba hatte eine Kerze in einer Glaslampe angezündet und sie auf den Tisch neben den bequemen Sessel gestellt, in den sie sich mit einem aufgeschlagenen Buch im Schoß gekuschelt hatte. Normalerweise würde sie sich inzwischen besser fühlen. Heute war das jedoch anders, denn aus irgendeinem Grund kam ihr der Vorfall am Abend schlimmer vor als alles, was sie bisher erlebt hatte.
Und schlagartig wurde Alba klar, woran das lag.
Mit dir bin ich fertig.
Die Worte rauschten durch ihren Kopf, als stünde ihre Mutter direkt neben ihr und flüsterte sie ihr ins Ohr. Ihre Mutter hatte zwar schon Dinge zu ihr gesagt, die noch verletzender, noch drohender gewesen waren, doch dieser Satz war gerade in seiner Schlichtheit besonders grausam. Alba kam sich vor wie ein Stück Abfall, das man einfach wegwarf. War sie hier wirklich so unerwünscht? Bedeutete sie ihrer Mutter tatsächlich so wenig?
Übelkeit stieg in ihr auf. Sie legte das Buch beiseite und erhob sich, um ruhelos im Zimmer auf und ab zu tigern.
Mit dir bin ich fertig.
Der Satz wollte Alba nicht mehr aus dem Kopf und folgte ihr wie ein Schatten, ein Kältegefühl, das ihr über den Rücken kroch. Allmählich ging ihre Angst, ging ihre ganze Verletztheit in kochende Wut über (das war am Ende dieser Nächte immer so). Sie fuhr mit den Fingern ihrer unverletzten Hand über die Rücken der Bücher, die in den hohen Regalen standen.
Mit dir bin ich fertig.
Dann lass mich doch in Ruhe!, hätte Alba am liebsten geschrien. Ihre Wut nahm immer mehr zu und strömte wie glühende Lava durch ihre Adern. Sie beschleunigte ihre Schritte und drückte mit den Fingern immer stärker gegen die Buchrücken. Das kann mir doch nur recht sein. Ich brauche dich sicher nicht. Und ich hab diesen Käfig, in den ihr mich sperrt, so satt. Wenn ich dir wirklich so wenig bedeute, warum lasst ihr mich dann nicht FREI?!
Zornig schlug sie gegen das Bücherregal, an dem sie gerade vorbeikam …
… und sah, dass es zurückwich und wie eine Tür aufging. Alba erstarrte vor Schreck. Hatte jemand den Lärm gehört? Doch im Haus blieb alles still. Sie entspannte sich ein wenig, obwohl ihr Herz immer noch aufgeregt flatterte. Während sie mit der Hand über die Kante des Regals strich, wurde ihr klar, was sie da entdeckt hatte.
Eine Geheimtür.
Seit sechzehn Jahren wohnte Alba in diesem Haus. Sie hatte angenommen, alles darüber zu wissen. Doch jetzt war sie auf eine verborgene Tür gestoßen. Wahnsinn. Das war wie in einem Buch oder einem Traum.
Alba schob die Tür weiter auf. Dahinter war alles dunkel. Sie ging zu ihrem Sessel zurück, um die Lampe zu holen. Dann eilte sie wieder zur Geheimtür und ging hindurch.
Sie wusste sofort, in was für einem Raum sie sich befand. »Ein Memorium«, flüsterte sie.
Ein Memorium war ein privater Erinnerungsraum. Alba war noch nie irgendetwas erlaubt worden, das mit Erinnerungssurfen zu tun hatte. Ihre Eltern meinten, dass ihr dieses Privileg erst dann zustehe, wenn sie achtzehn und volljährig war – ein weiterer Beweis dafür, dass sie sie von der Außenwelt fernhielten. Sie durfte auf keinen Fall etwas sehen, das sie veranlassen könnte, das Leben im Norden, das ihre Eltern für sie geschaffen hatten, infrage zu stellen. Sie hielten Alba von den Erinnerungshäusern und -boutiquen fern, in denen die Kunden Erinnerungsmaschinen benutzen konnten. Immerhin hatte sie vor Jahren auf einem Schulausflug einmal ein Memorium zu sehen bekommen – einen der luxuriösen Räume, die die Banken für Kunden eingerichtet hatten, die Erinnerungen vor dem Kauf ausprobieren wollten.
Das Geheimzimmer, das sie entdeckt hatte, war groß und fensterlos und roch nach altem Holz. Prächtige Aktenschränke aus Mahagoni säumten die Wände. In der Mitte des Raums befand sich ein Schreibtisch, hinter dem jedoch statt des üblichen Schreibtischstuhls ein großes, formschönes Gebilde aus Metall stand …
Eine Erinnerungsmaschine.
Alba machte die Tür hinter sich zu. Vor lauter Aufregung lief ihr ein Kribbeln über den Rücken. Sie stellte die Lampe auf den Tisch und sah sich das Gerät genauer an.
Darin war ein gepolsterter Sitz eingebaut, der aus weichem elastischem Material bestand, das unter ihrer Hand nachgab, als sie draufdrückte. Die Armlehnen waren mit Metallklammern für die Handgelenke versehen. Oben befand sich eine runde Kappe, deren Höhe sich verstellen ließ. Hinten auf der Maschine prangte ein Logo – ein Paar wie zum Flug ausgebreiteter schwarzer Flügel – und darunter stand:
SONY LIFE-FLIGHT v7.8.
Als Alba die Hand ausstreckte, um das Logo zu berühren, hörte sie hinter sich ein Geräusch, bei dem ihr das Herz stockte.