Alba hatte gewartet, bis es im Haus still und dunkel wurde. Dann war sie aus dem Bett aufgestanden und hatte den smaragdgrünen Pullover angezogen, den Dolly ihr zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte, sowie eine schlichte schwarze, eng anliegende Hose und ein paar alte Turnschuhe. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass der Schlüssel zur Dienstbotentür in ihrer Hosentasche steckte – Dolly hatte Alba vor Jahren einen besorgt, damit sie unbemerkt aus dem Haus schlüpfen konnte –, hatte sie ihr Zimmer verlassen und war die Dienstbotentreppe hinuntergeschlichen.
Als sie die Tür öffnete und nach draußen trat, hatte Alba das Gefühl, eine andere Welt zu betreten.
Die Nacht war kühl. Ein frischer Wind fuhr raschelnd durch das hohe Gras und wehte ihr das Haar ins Gesicht. Sie strich es zurück und spähte zu den dunklen Silhouetten der Ulmen jenseits des Rasens hinüber. Im Mondlicht sah die ganze Umgebung so aus, als sei sie mit glitzernden Eiskristallen überzogen.
Alba fühlte sich quicklebendig und hellwach. Am liebsten hätte sie laut gelacht oder geschrien oder wäre mit ausgebreiteten Armen über das Gelände gelaufen, schneller und immer schneller, um schließlich abzuheben und in der Luft umherzutanzen.
Alles, was sie an diesem Tag erlebt hatte, war beim Verlassen des Hauses von ihr abgefallen. Vergessen war das verschlagene Lächeln, das ihre Mutter ihr beim Abendessen zugeworfen hatte. Obwohl Oxana kein Wort über den Besuch der Heiratsvermittlerin verloren hatte, sah Alba, wie dieses Geheimnis die Augen ihrer Mutter zum Leuchten brachte. Gegenwärtig empfand Alba nur eins: überschwängliche Freude darüber, dass sie im Begriff war, gegen ihre Eltern zu rebellieren.
Begierig atmete sie die frische mitternächtliche Luft und den Duft der Pflanzen und Bäume ein. Ein aufgeregtes Prickeln ging durch ihren ganzen Körper, als sie unter den Ulmen den Jungen entdeckte, den sie letzte Nacht kennengelernt hatte. Er winkte sie zu sich. Nach kurzem Zögern nickte sie (Er wird dir nichts tun – dafür hat er zu viel Angst vor deinem Vater.) und ging zu ihm hinüber.
»Hallo«, sagte Alba, ohne ihn anzusehen.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Plötzlich war sie verlegen. Genau wie in der vergangenen Nacht wurde ihr in Gegenwart des Jungen ganz anders, als wären seine Blicke Berührungen, als striche er ihr mit weichen Fingern über den Körper und das Gesicht.
»Hey.«
Seine Stimme war heiser. Er lehnte am Baum und trug dieselbe Kleidung wie letzte Nacht – blaue Hosen, Worker Boots und ein graues T-Shirt. Während er sich am Nacken kratzte, grinste er sie breit an.
»Hätte dich mit so viel Kleidung fast nicht wiedererkannt.«
Alba wurde knallrot. Sie verdrehte die Augen. »Wollen wir jetzt los oder nicht?«
Der Junge lachte. »Hier entlang, Prinzessin.« Er trat zur Seite, verbeugte sich und machte eine einladende Handbewegung. In seinen Augen funkelte Spott. »Es sei denn, Eure Hoheit wünscht, dass ich sie trage.«
»Nein«, blaffte Alba und stolzierte an ihm vorbei. »Ganz bestimmt nicht.«
Der Junge, der Seven hieß (fast hätte Alba ihre gute Erziehung vergessen und ihn gefragt, warum er so einen seltsamen Namen hatte), führte sie zur Grenze des Anwesens, wo der fünf Meter hohe schmiedeeiserne Zaun aufragte.
»Darüber?«, flüsterte Alba erstaunt und zog die Nase kraus. Da sie sich vor den Wächtern des Anwesens hüten mussten, sprach sie mit gedämpfter Stimme. »Du willst, dass ich da rüberklettere?« Sie zog den Saum ihres Pullovers nach unten und errötete, als sie sich vorstellte, dass ihr Hintern dabei vor Sevens Augen hin und her wackeln würde.
Man merkte deutlich, dass er sie nicht mochte. Da wollte sie ihm nicht auch noch Anlass zu abfälligen Bemerkungen geben.
Seven grinste. »Wenn du möchtest, kannst du dich auch unterm Zaun durchgraben.« Als Alba ihn wütend ansah, zuckte er die Achseln und lief nach vorne. »Na komm, so schwierig ist das gar nicht. Und es ist die einzige Möglichkeit, die Wächter zu umgehen.«
Nachdem er am Fuß des Zauns herumgesucht hatte, trat er mit einem Seil in der Hand zurück. Es spannte sich sofort, da es an dem Baum auf der anderen Seite des Zauns festgebunden war. Einer der Äste reichte bis weit über die andere Seite.
Seven hielt ihr das Seil hin. »Zuerst du. Dann kann ich dir notfalls helfen rüberzukommen.«
Alba nahm all ihren Mut zusammen und ergriff das Seil. Nachdem sie daran gezogen hatte, bis es straff war, stemmte sie einen Fuß gegen den Zaun, während der andere noch auf dem Boden stand. Sie holte tief Luft. Dann klammerte sie sich fest an das Seil, stieß sich vom Boden ab und drückte den zweiten Fuß gegen den Zaun.
Die Sohlen ihrer Turnschuhe glitten vom Metall ab. Bevor sie zurückrutschte, zog Alba sich am Seil hoch und machte einen weiteren Schritt nach oben. Dann noch einen. Es war extrem mühselig, da sie immer wieder am Metall abrutschte. Doch obwohl ihr das Seil in die Haut schnitt und ihr verletztes Handgelenk höllisch schmerzte, kletterte sie entschlossen weiter.
Außerdem spürte Alba, wie Seven sie von unten beobachtete. Noch ein Grund, so schnell wie möglich nach oben und über den Zaun gelangen: damit er endlich aufhörte, auf ihren Hintern zu starren.