Alba wurde von Stimmen aus dem Schlaf gerissen.
Zunächst war sie völlig desorientiert. Ihre Daunendecke und das Laken hatten sich so eng um sie gewickelt, dass sie unwillkürlich in Panik geriet, weil sie sich gefangen fühlte – und genau das hatte sie gerade geträumt. Es dauerte einen Moment, bis ihr bewusst wurde, wo sie sich befand.
Die Stimmen kamen aus dem Gang vor ihrem Zimmer und störten die nächtliche Stille. Nachdem sie sich von ihrem Bettzeug befreit hatte, durchquerte sie den Raum und öffnete die Tür.
In einem Zimmer am Ende des Korridors war Licht zu sehen. Dort lagen die Privaträume von Albas Eltern, die sie nicht betreten durfte, es sei denn, sie wurde von einem von ihnen dazu aufgefordert, was selten geschah. Das Licht kam aus dem Büro ihres Vaters und warf seinen gelben Schein in den Korridor. Auf dem Fußboden zeichneten sich die Schatten von Personen ab, die im Zimmer hin und her gingen.
Die Stimmen waren die Stimmen von Männern, barsch und kurz angebunden. Von ihrem Standort aus konnte Alba nicht verstehen, was sie sagten. Dann schnappte sie ein Wort auf, bei dem es ihr kalt über den Rücken lief.
Erinnerungsdieb.
»Seven«, flüsterte sie.
Mit hämmerndem Herzen schlich Alba auf Zehenspitzen den Gang hinunter. Sie hielt sich dicht an der Wand und tastete sich an der samtigen, mit Rankenmustern bedruckten Tapete entlang. Kurz vor der offenen Tür des Büros blieb sie stehen. Jetzt war sie nahe genug, um zumindest Fetzen des Gesprächs hören zu können.
»… Razzia …«
»… Borough Market …«
»… zehn Tote, mindestens dreißig Verletzte …«
»… nicht bestätigt …«
»… entkommen …«
Die Männer redeten alle durcheinander. Offenbar hatte die Polizei in einem Schlupfwinkel von Erinnerungsdieben eine Razzia durchgeführt. Alba erinnerte sich, dass Seven ihr von diesen Orten erzählt hatte, wo alle Diebesbanden zusammenkamen, um ihre Geschäfte abzuwickeln.
»Die Polizei ist in höchster Alarmbereitschaft und hält nach Verdächtigen Ausschau, die bei der Razzia entkommen sind«, übertönte ihr Vater das Stimmengewirr.
Sofort verstummten alle anderen. Man hörte, wie Gläser abgestellt wurden, als die Männer Alastair White ihre Aufmerksamkeit zuwandten.
»Die Polizei hat einige der Tätowierungen identifiziert, die die unterschiedlichen Banden kennzeichnen, und wird im Süden wie im Norden nach Leuten suchen, die diese Zeichen tragen. Ohne handfeste Beweise oder Geständnisse sind wir jedoch nicht in der Lage festzustellen, wie viele Erinnerungsdiebe entkommen sind.«
Empörtes Murren war zu hören.
»Geben Sie den Verhörspezialisten ein bisschen Zeit. Die werden in Kürze Geständnisse aus den Leuten herausbekommen.«
»Dieser Süd-Abschaum! Was haben die sich eigentlich gedacht? Dass sie weiterhin ungestraft unsere Erinnerungen stehlen können?«
»Die verdienen alle eine Kugel in den Kopf.«
»Meinen Herren! Bitte mäßigen Sie sich!« Die Stimme ihres Vaters brachte die anderen erneut zum Schweigen. »Immerhin sind wir ja noch im Norden.«
Die Anwesenden brachen in Lachen aus.
Alba rannte in ihr Zimmer zurück. Sie hatte genug gehört. Sie schloss die Tür hinter sich, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und atmete mehrmals tief durch. Ein paar Minuten später hörte sie die Schritte der Männer, als sie das Haus verließen. Als sie schon längst gegangen waren und die Haustür laut hinter sich zugeschlagen hatten, stand Alba immer noch da, während in ihrem Kopf die Gedanken durcheinanderwirbelten.
Eine Razzia.
Die Polizei.
Erinnerungsdiebe.
Verhöre.
Kugeln …
Alba presste die Hand gegen den Mund. Ihr war schlecht. Wie brachten diese Männer, wie brachte ihr Vater es fertig, so unbekümmert vom Tod anderer Menschen zu reden? Sie hatten sogar gelacht.
Gelacht!
Alba überließ sich ganz ihrer Wut, andernfalls wäre sie bei der Vorstellung, was gerade mit diesen armen DSC-Dieben passierte, und der Angst, Seven könnte einer von ihnen sein, in tiefe Traurigkeit versunken.