»Soll das ein beschissener Witz sein?«
»Diese eiskalten Dreckskerle!«
»Veranstalten hier die reinste Leichenschau!«
Zorn und Wut breiteten sich unter der Menge aus, die sich bei Clapham Arches versammelt hatte. Seven, der ganz hinten stand und das Geschehen auf dem Bildschirm verfolgte, den man in einem der Bögen der Clapham Bridge angebracht hatte, wurde ständig angerempelt und zur Seite geschubst, da sich immer wieder Leute durch die Menge drängten. Er konnte den Blick einfach nicht vom Bildschirm lösen und fühlte sich innerlich leer und ausgebrannt. Obwohl er keinen der Toten kannte, die in den Aufnahmen gezeigt worden waren, drängte sich ihm der Gedanke auf, dass er oder Loe oder Mika unter ihnen hätten sein können.
Ihm war speiübel.
Nachdem Alastair White seine Ausführungen beendet hatte, erschien auf dem Bildschirm eine Reporterin, die vor der Markthalle stand. Hinter ihr patrouillierten Polizisten auf und ab, deren rote Uniformjacken in der Sonne leuchteten. Der Eingang der Markthalle war mit einer schwarzen Absperrplane verhängt.
»Die Polizei bittet alle, die Informationen über den Verbleib der entkommenen Erinnerungsdiebe haben, sich umgehend zu melden«, sagte die Reporterin. »Für Informationen, die zu einer Festnahme führen, wurde eine Belohnung ausgesetzt.«
Einige der Leute, die schon dabei waren zu gehen, blieben stehen und schauten zum Bildschirm zurück. Seven merkte, dass alle Anwesenden auf einmal die Ohren spitzten.
So war das im Süden, wenn von einer Belohnung gesprochen wurde.
»Die Polizei hat Abbildungen von Tätowierungen veröffentlicht, die man für die Erkennungszeichen der unterschiedlichen Banden hält«, fuhr die Reporterin fort. »Die Polizei fordert Sie dringend dazu auf, unverzüglich Meldung zu machen, sobald Sie jemand mit einer dieser Tätowierungen sehen. Bitte prägen Sie sich die folgenden Bilder gut ein.«
Auf dem Bildschirm erschien eine Reihe von schwarzen Symbolen. Bei jedem lief es Seven kalt den Rücken runter. Er kannte sie alle.
Der Umriss eines Tennisschlägers – das war Murrays Bande.
Eine Rose – das Erkennungszeichen der Bande von Timothy Rose.
Ein Blitz – Abel Potters Leute.
Eine Säge …
Seven stand das Herz still.
Das war genau das Bild, das auf seiner Brust prangte. Obwohl die Tätowierung unter seinem grauen Hemd verborgen war, zog er den Kragen fest zusammen, weil er befürchtete, es sei doch etwas davon zu sehen. Woher wusste die Polizei über die Tätowierungen Bescheid? Hatte man sie auf den Leichen der DSC-Diebe, die erschossen worden waren, entdeckt oder bei denen, die man verhaftet hatte?
Was war mit Carpenters Zeichen? Carpenters Oberkörper war über und über mit Tätowierungen bedeckt, sodass man unmöglich feststellen konnte, welches Symbol das Erkennungszeichen seiner Bande war.
Oder?
»Nein«, sagte Seven laut. Er weigerte sich, auch nur über die Möglichkeit nachzudenken, dass jemand aus seiner Bande verhaftet oder getötet worden war. Mika und Loe. Er würde sofort zu ihnen gehen, um sich selbst davon zu überzeugen, dass mit ihnen alles in Ordnung war.
Es musste einfach alles in Ordnung sein.
Während Seven sich durch die Menge drängte, schoss ihm schlagartig ein Gedanke durch den Kopf, bei dem er förmlich ins Taumeln geriet.
Das Mädchen.
Alba.
Alba White.
Nein. Das war nicht möglich.
Oder doch?
Ihr hübsches Gesicht fiel ihm ein, ihr dichtes dunkelrotes Haar, dessen weiche Locken ihre rosigen Wangen einrahmten. Ihre hellgrünen Augen. Er erinnerte sich, wie sie nach dem Erinnerungssurfen ausgesehen hatte – traurig und glücklich zugleich. Sie hatte einen so dankbaren Eindruck gemacht, als hätte Seven ihr etwas Kostbares gegeben, das mehr wert war als all die teuren Dinge, mit denen sie zu Hause überschüttet wurde.
Er hatte angenommen, dieses Geschenk bestehe darin, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben Erinnerungen surfen konnte. Schließlich konnte er sich noch genau erinnern, welche Freude er nach dem ersten Mal empfunden hatte. Aber was, wenn er sich irrte? Was, wenn er Alba ein ganz anderes Geschenk gemacht und sie sich nur darüber gefreut hatte, dass sie es an ihren Vater weitergeben konnte?
Nämlich Informationen.
Seven hatte ihr bestimmte Dinge über sein Leben als DSCDieb erzählt, Dinge, die jemand aus dem Süden niemals jemand aus dem Norden erzählen würde. Er war ganz offen gewesen, hatte ehrlich auf ihre Fragen geantwortet, weil … weil er das Gefühl hatte, ihr vertrauen zu können.
Du verdammter Idiot!, dachte Seven und presste die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien. Er war so wütend auf sich selbst, dass er sich hätte ohrfeigen können. Dieser hochnäsigen Zicke aus dem Norden zu vertrauen, war einfach bescheuert von ihm gewesen.
Seven ballte die Hände zu Fäusten und schob sich durch die lärmende Menge.
Er hatte Alba also ein Geschenk gemacht, ja? Hatte alle Einzelheiten über das Leben von DSC-Dieben hübsch verpackt und ihr mit einer netten kleinen Verbeugung überreicht? Nun, da war es jetzt wohl an der Zeit, sich auch etwas von ihr zu holen.
Auge um Auge hieß doch die Regel, nicht wahr? Alba hatte sein Leben ruiniert. Jetzt würde Seven das ihre ruinieren.