Dollys Stimme übertönte das Plätschern des Wassers, als es aus den Hähnen schoss. »Dein Bad ist fertig! Beeil dich, sonst wird das Wasser kalt!«
Alba seufzte. Sie hatte überhaupt keine Lust auf ein Bad, doch Dolly hatte darauf bestanden, weil sie meinte, Alba sei den ganzen Tag unruhig gewesen und müsse sich entspannen (zweifellos hatte sie allerlei Kräuter ins Wasser getan, die eine beruhigende Wirkung hatten).
Nachdem sie ihre Haare zu einem Knoten geschlungen hatte, ging Alba ins Badezimmer, das voller Wasserdampf war. Es roch nach Sandelholz und Salbei. Das Bad war fast so groß wie ihr Zimmer, der Fußboden mit weißen und goldenen Fliesen ausgelegt. In der Mitte stand eine große Badewanne mit vergoldetem Rand, deren Füße die Form von Klauen hatten. Kerzen tauchten den Raum in schummriges Licht.
Die Wasserhähne quietschten, als Dolly sie zudrehte. Stille breitete sich aus. Nur das Platzen der Seifenschaumblasen in der Wanne und der Regen, der gegen das Fenster trommelte, waren zu hören.
»Na, nun komm.« Dolly zog Alba den Bademantel aus und legte ihn zusammengefaltet auf einen Stuhl. »Nach einer Stunde im Wasser wirst du dich besser fühlen.«
Alba kletterte über den Rand der Wanne und ließ sich langsam ins Wasser gleiten, das perfekt temperiert war. Ihr Körper verschwand unter dem Seifenschaum. Sofort fühlte sie sich ruhiger. Sie lehnte den Kopf gegen den Wannenrand und lächelte Dolly an.
»Ich fühl mich schon jetzt ein bisschen besser.«
Doch kaum hatte sie das gesagt, da dachte sie an Seven und wurde von Schuldgefühlen befallen. Sie dachte an die DSCDiebe, die tot auf dem Boden der Markthalle gelegen hatten. Und an diejenigen, die von der Polizei verhaftet worden waren und jetzt beim Verhör wer weiß was erleiden mussten.
Wie konnte sie sich nach allem, was passiert war, entspannen? Wo sie doch noch nicht einmal wusste, ob Seven noch am Leben war!
Offenbar merkte man ihrem Gesicht etwas an, denn Dolly trat zu ihr und hockte sich neben die Wanne. »Was ist denn los? Ich seh dir doch an, dass irgendetwas nicht stimmt. Du verheimlichst mir etwas und ich mache mir Sorgen. Wenn du es nicht mal mir verraten kannst, muss es etwas Schlimmes sein.«
Alba senkte den Blick. »Es ist alles in Ordnung«, murmelte sie.
»Alba … verschweigst du mir etwas?«
»Nein, ich …«
»Geht es um deine Mutter?«, fragte Dolly in scharfem Ton und kniff die Augen zusammen. »Hat sie dich wieder geschlagen?«
Alba biss sich auf die Lippe und nickte, obwohl sie sich selbst hasste, als sie das tat. »Ich glaub nicht, dass ich das noch länger ertrage, Dolly.«
»Alba Philippa Darcy White«, sagte Dolly in strengem Ton. Als sie ihren vollen Namen hörte, blickte Alba unverzüglich auf.
Dolly nahm Albas Gesicht in beide Hände. »Nun hör mir mal gut zu. Deine Mutter schafft es vielleicht nicht immer, dich merken zu lassen, dass du etwas Besonderes bist, aber ich weiß es. Du bist stark und tapfer und ehrlich und gut. Streng dich in der Schule an und mach deine Abschlussprüfung, um deinen Eltern zu beweisen, dass du mehr verdienst als eine arrangierte Heirat, und in zwei Jahren wirst du dann auf eine Universität gehen, die weit von London entfernt ist, so wie wir es uns immer ausgemalt haben. Ich komme natürlich mit dir und dann kannst du deine Zukunft endlich selbst gestalten, hörst du?«
Dolly verstummte. Alba traten Tränen in die Augen. Voller Dankbarkeit sah sie ihre Zofe an, ohne ein Wort herauszubringen.
»Wenn du meine Tochter wärst«, fuhr Dolly leise fort, »würde ich der ganzen Welt ständig sagen, wie stolz ich auf dich bin.«
Alba schlang die Arme um Dollys Hals. Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie klammerten sich aneinander, ohne sich darum zu kümmern, dass Dollys Kleidung immer nasser wurde und dass Badewasser über den Rand der Wanne geschwappt war. In dem Moment wurde Alba klar, dass sie doch eine Familie hatte, die sie liebte und der sie am Herzen lag, und dass Dolly diese Familie war.
»In einer Stunde komme ich wieder, um dich bettfertig zu machen«, sagte Dolly, als sie sich voneinander lösten. Lächelnd stand sie auf, strich sich über ihre Dienstbotenuniform und verließ das Bad, dessen Tür sie hinter sich zuzog.
Alba wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. War es möglich, dass die Zukunft so werden konnte, wie Dolly es prophezeite? Alba wagte nicht, daran zu glauben. Alles Gute in ihrem Leben ging am Ende in die Brüche. Warum sollte es in diesem Fall anders sein?
Gerade als sie die Augen schloss und sich in das duftende Wasser zurücksinken ließ, ging die Tür auf.
»Dolly?«, murmelte sie und setzte sich auf, weil sie erwartete, ihre Zofe zu sehen.
Doch es war nicht Dolly …
Es war Seven.