Der Regen war so heftig, die Dunkelheit so undurchdringlich – nur ab und zu wurde sie von Blitzen zerrissen, die alles in gespenstisches silbriges Licht tauchten –, dass Seven weder sah noch hörte, wie Alba sich näherte. Während er noch in Richtung Haus starrte, erschien plötzlich eine Gestalt vor ihm, packte ihn beim Kragen seines Hemds und zog ihn fest an sich.
Seven erstarrte und ließ die Arme hängen.
Nicht schon wieder!, dachte er und stöhnte innerlich. Er wünschte wirklich, Alba würde aufhören, ihn so impulsiv zu umarmen. Sie presste sich gegen ihn und wie beim letzten Mal hatte Seven keine Ahnung, was er tun sollte.
Als sie sich endlich von ihm löste, grinste Seven unsicher. »Du hast also meine Nachricht bekommen«, sagte er und fuhr sich mit der Hand durch sein regennasses Haar.
Sie standen unter den Ulmen in der Nähe des Hauses, doch selbst deren dichtes Blätterdach vermochte sie nicht vor dem Regen zu schützen. Alba war bereits klatschnass. Ihr normalerweise volles, üppiges Haar klebte ihr am Kopf. Auf ihren Lippen waren Regentropfen zu sehen. Nur ihre Kleidung war noch trocken, da sie einen bis zum Kragen zugeknöpften Regenmantel trug.
»Ja«, erwiderte sie. »Obwohl ich sie kaum entziffern konnte. Deine Handschrift ist grauenhaft.«
Seven warf ihr einen unbeeindruckten Blick zu. »Glaub’s oder nicht, aber mir hat nie jemand das Schönschreiben beigebracht. Und auf die Etepetete-Stinkvornehm-Schule für Prinzessinnen aus dem Norden bin ich auch nicht gegangen.«
»Oh, stimmt. Daran habe ich nicht gedacht.«
»Ja, denken ist so eine Glückssache.«
Alba lachte, doch gleich darauf wurde ihr Gesicht wieder ernst. »Die Razzia letzte Nacht … ich dachte …«, stammelte sie. »Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Was ist passiert?«
Seven sah wieder vor sich, wie Carpenter mit leeren Augen zu Boden ging.
Er sah das Blut, das auf die Tische und den Boden spritzte.
Hörte die Schreie, die die Nacht zerrissen.
Und die Schüsse, die Schüsse, die von allen Seiten kamen.
Seven schluckte die Übelkeit, die in ihm aufstieg, runter. »Sie haben meinen Bandenchef erwischt. Von den anderen DSC-Dieben, die ich kenne, haben es ein paar geschafft zu entkommen.«
Vor dem Besuch bei Alba war er zu Loes Unterkunft gegangen, um nach ihr und Mika zu sehen. Erst als er sie lebendig vor sich sah, wurde ihm klar, wie besorgt er gewesen war. Mika stürzte sich sofort auf ihn und hätte ihn fast umgerissen. Loe hatte ihn nur böse angeschaut und gebrummt, dass er sich ganz schön lange Zeit gelassen habe. Genau genommen war das für sie eine geradezu liebenswürdige Äußerung.
Vielleicht hatte Seven doch mehr Freunde, als er annahm.
Alba schüttelte den Kopf. »All diese Menschen, die sie getötet haben. Ich dachte …« Am Himmel flammte ein Blitz auf und spiegelte sich in ihren Augen wider. »Ich dachte, dass man dich vielleicht auch umgebracht hat.«
Er grinste. »Ach Quatsch, die kriegen mich nie. Ich bin viel zu schnell für diese Idioten von der Polizei.«
»Seven …«
»Na gut«, gab er widerwillig zu. »Es war entsetzlich. Wolltest du das hören?«
Alba presste die Lippen aufeinander. Dann griff sie zögernd nach seiner Hand.
Als sie ihn berührte, zuckte Seven innerlich zusammen. Ihre Hände waren feucht, aber warm und er spürte, wie ihr Puls gegen seine Hand klopfte, als wäre zwischen ihnen ein Schmetterling gefangen.
»Wenn du nicht willst, musst du nicht darüber reden«, sagte sie.
Natürlich will ich nicht darüber reden, dachte er. Und selbst wenn er gewollt hätte – es gab einfach keine Worte, um das alles zu schildern.
Wie hätte er das Entsetzen ausdrücken sollen, das er in diesem Moment empfunden hatte? Das er empfunden hatte, als Carpenter vor seinen Augen niedergeschossen worden war und mit gurgelnder Stimme versucht hatte, etwas zu sagen; als die in Panik geratene Menge angestürmt gekommen war. Oder – was am allerschlimmsten war – wie hätte er die Schuldgefühle beschreiben sollen, die ihn befallen hatten, als er auf seiner Flucht schließlich in einer einsamen Straße haltgemacht und begriffen hatte, dass er noch am Leben war, während so viele andere tot in der Markthalle lagen.
Das Unwetter wurde immer schlimmer. Wenn Seven an all das dachte, was er in nur einer Nacht verloren hatte, hätte er am liebsten in das Heulen des Sturms eingestimmt.
Alba beobachtete ihn mit besorgtem Blick. Ihre Hand zitterte. Er hatte fast schon vergessen, dass sie einander festhielten. Er schwankte zwischen dem Wunsch, seine Hand loszureißen, und dem, ihre Hand nie wieder loszulassen. Wenn er sie berührte, fühlte er sich auf merkwürdige Weise stärker; als gebe sie ihm Halt in dieser Welt, die um ihn herum in die Brüche zu gehen schien.
Das ist es, ging es Seven durch den Kopf. Das ist deine Chance. Akzeptier ihre Freundschaft.
Denn Freunde kannst du weiß Gott gut gebrauchen.
Doch die Ereignisse der letzten Nacht lagen ihm immer noch wie ein Stein auf der Seele. Alba war ein Mädchen aus dem Norden – ein Mädchen, dessen Vater höchstwahrscheinlich zu denjenigen gehörte, die für die Razzia verantwortlich waren. Wenn Seven sie anschaute, sah er alles, was er in der letzten Nacht verloren hatte.
Doch wenn er ehrlich war, sah er auch ein Mädchen, das er zu seinem Verdruss äußerst attraktiv fand – ein Gedanke, den er schnellstens verdrängte. Alba konnte nie seine Freundin werden, geschweige denn mehr. Und außerdem – was hatte er ihr denn anderes zu bieten als gestohlene Erinnerungen? Welchen Sinn hatte es, ihr einen Platz in seinem Leben einzuräumen? Zum Schluss würde zwangsläufig irgendein hochnäsiger Typ aus dem Norden daherkommen, der ihr die ganze Welt zu Füßen legen konnte. Welches Mädchen würde so etwas denn für ein paar gestohlene DSCs aufgeben?
Seven räusperte sich. »Pass mal auf. Du und ich – wir können keine Freunde werden.«
Alba starrte ihn eine Weile an, bis sie schließlich leise fragte: »Und warum nicht?«
Er gab ein ersticktes Lachen von sich. »Ach, komm schon! Du bist aus dem Norden, ich aus dem Süden.«
»Na und? Was spielt das denn für eine Rolle?«
»Natürlich spielt es eine Rolle. Sei doch nicht so dumm.«
»Ich bin nicht dumm.«
»Ich wollte –«
»Das mit Norden oder Süden ist mir egal, Seven.«
»Sieh mal …«
»Ich habe gesagt, es ist mir egal. Warum können wir nicht Freunde werden, wenn wir das wollen?«
»Sei doch nicht so verdammt naiv, Alba!«, schrie er, doch seine Worte wurden fast vollständig vom tosenden Sturm verschluckt. Er ließ ihre Hand los und trat zurück.
»Wir beide wissen doch, worum es hier geht, richtig?«, sagte er in barschem Ton. »Du willst Erinnerungen surfen. Ich will nicht der Polizei ausgeliefert werden. Du benutzt mich, ich benutze dich. So ist das nun mal im Leben.«
Alba sah ihn wütend an. Sie stand wie erstarrt da. Erneut blitzte es und das Licht verwandelte ihre Augen in zwei glänzende Scheiben. Aus irgendeinem Grund zog sich Sevens Inneres bei dem Anblick fast schmerzhaft zusammen.
Er hatte sie verletzt. Sie versuchte, freundlich zu sein, und er ließ sie kalt abblitzen.
»Ich hatte nie vor, meinen Eltern zu erzählen, dass du ihnen Erinnerungen gestohlen hast«, sagte Alba leise. »Nur damit du es weißt.«
Sevens Gesicht verzerrte sich. »Was spielt denn das für eine Rolle? Du kannst es ihnen ruhig erzählen. Ich hab sowieso nichts mehr zu verlieren.«
(Das war eine Lüge … und gleichzeitig die Wahrheit.)
Er hustete und wandte den Blick ab. »Dann komm mit zum Surfen, Prinzessin. Danach sehen wir uns dann nie wieder. Gott sei Dank.«
Seven packte Alba beim Arm und zog sie mit sich. Dabei zwang er sich, sie nicht anzusehen oder darüber nachzudenken, was er vielleicht gerade kaputtgemacht hatte.