Alba 36

Als sie in Sevens Wohnung ankamen, hatte das Unwetter ein wenig nachgelassen. Der Regen war nur noch ein Rauschen, das von draußen an ihr Ohr drang.

Unterwegs hatten sie kein Wort miteinander gesprochen – zum Teil deswegen, weil es andauernd gedonnert hatte und der Regen in wahren Sturzbächen niedergegangen war, zum Teil aber auch wegen der Dinge, die sie gerade zueinander gesagt hatten. Diese Worte standen wie eine Mauer zwischen ihnen und hielten sie voneinander fern.

Jetzt, in der Stille des Memoriums, spürte Alba die Kälte zwischen ihr und Seven noch mehr. Sie war gekränkt, aber auch wütend auf ihn, denn einige der Dinge, die er gesagt hatte, waren unnötig grausam gewesen. Sie konnte es kaum erwarten, von hier wegzukommen und in fremde Erinnerungen abzutauchen. Und sie spürte bereits – wenn auch mit einem gewissen Schuldgefühl –, wie die unzähligen Erinnerungen in den blauen Aktenschränken sie lockten und nach ihr riefen.

Wenn dies das letzte Mal ist, dass ich Erinnerungen surfen kann, dachte sie, werde ich das Beste daraus machen.

Alba knöpfte ihren Regenmantel auf und legte ihn auf einen der Aktenschränke. Ihr pflaumenfarbener Pullover, ihre schwarzen Hosen und ihre Boots waren durchnässt, denn selbst der angeblich wasserdichte Mantel hatte vor der Gewalt des Unwetters kapitulieren müssen. Als sie den Saum ihres Pullovers auswrang, spritzte Wasser auf den Fußboden.

Seven lehnte sich gegen die Tür und vergrub die Hände in den Hosentaschen.

»Dann leg mal los, Prinzessin«, sagte er seufzend und zeigte auf die Aktenschränke.

Das brauchte er Alba nicht zweimal zu sagen. Sie drehte sich um sich selbst, ließ den Blick über die Schränke schweifen und versuchte, sich darüber klar zu werden, nach welcher Art von Erinnerungen ihr heute Abend der Sinn stand (das Problem war, dass sie am liebsten alle gesurft hätte). Dann fiel ihr Blick auf einen kaputten Becher, der auf einem der Schränke stand und einige der kleinen Metallscheiben enthielt, auf denen man Erinnerungen aufzeichnete.

»Was ist das hier?«, fragte sie und streckte die Hand aus.

Doch bevor sie den Becher in die Hand nehmen konnte, war Seven schon zum Schrank gestürzt und hatte sich den Becher geschnappt. Seine Ohren hatten sich rosarot gefärbt.

»Das ist … das ist etwas Privates«, sagte er, ohne sie anzusehen.

Alba trat einen Schritt zurück. »Oh, das tut mir leid.« Verlegen senkte sie den Kopf und bemerkte dabei, dass eine der Metallscheiben auf dem Boden lag. Sie hob sie auf. »Hier. Die muss rausgefallen sein.«

Als sie ihm die Scheibe hinhielt, las sie die Aufschrift auf dem Etikett:

24.10.2128, A. W., Haus der Whites (Hyde-Park-Anwesen)

»Sind das … sind das die Erinnerungen meines Vaters?«, fragte sie im Flüsterton.

Ihr lief ein Kribbeln über den Rücken – weil sie gespannt war? Oder Angst hatte? Bevor sie Seven kennengelernt hatte, war es Alba nie in den Sinn gekommen, ihr Vater könne Geheimnisse haben. Natürlich wusste sie, dass sein Job schwierig war und schwierige Dinge mit sich brachte, doch nachdem sie sein geheimes Gespräch mit Pearson belauscht und seine Äußerungen in der Nacht der Razzia gehört hatte, war ihr klar geworden, dass es viele Dinge gab, die sie über ihren Vater nicht wusste.

Bei der Vorstellung, dass sie jetzt eine seiner Erinnerungen in der Hand hielt, wurde ihr ganz schlecht. Welche düsteren Dinge waren in seiner Vergangenheit verborgen?

Wollte sie das wirklich wissen?

Alba blickte auf. »Hast du die schon angeschaut?«, fragte sie Seven.

Er schüttelte den Kopf. »Ich hab die DSC in den Becher getan, damit ich später dran denke, aber dann hab ich sie vergessen, weil so viel passiert ist, nachdem …«

Er verstummte schlagartig. Einen Moment lang war sein Gesicht völlig ausdruckslos. Dann riss er die Augen auf und starrte den Gegenstand in Albas Hand an, als wäre er eine Bombe, die jederzeit explodieren konnte.

Alba runzelte die Stirn. »Was ist denn los?«

»Diese DSC«, krächzte Seven. Er trat einen Schritt zurück und fuhr sich mit zitternder Hand durch die Haare. »Vor der hat Carpenter mich gewarnt, bevor er … bevor er erschossen wurde.«