Alba 46

Im Goldman’s Grill, einem teuren Restaurant im Brasserie-Stil am Paternoster Square, war ein Tisch für sie reserviert worden. Das Restaurant lag in der obersten Etage eines Gebäudes, in dem vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch Amerikas gegen Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts eine der führenden Investmentbanken der Welt untergebracht gewesen war. Eine Wand des Raums bestand völlig aus Glas. Niedrig hängende Kronleuchter tauchten alles in helles klares Licht. Kellner mit schwarzen Westen und silbernen Schürzen balancierten vorsichtig Tabletts zwischen den Tischen hindurch.

Alba saß mit dem Rücken zum Fenster, obwohl sie es vorgezogen hätte, andersherum zu sitzen. Der Blick auf den Paternoster Square mit der Kuppel von St. Paul’s wäre weit angenehmer gewesen als der Anblick Thierrys, seiner Mutter und seines Vaters sowie ihrer Eltern.

Es hatte Alba überrascht, dass sie solch ein gut besuchtes Restaurant ausgesucht hatten. Da die Burton-Lyons die bekannteste Familie Londons waren, hatte ihre Sicherheit zweifellos höchste Priorität. Erst gegen Ende der Mahlzeit bemerkte Alba zwei Männer mit schwarzen Anzügen und Sonnenbrillen, die vor dem Eingang des Restaurants standen und den Raum nicht aus den Augen ließen. Höchstwahrscheinlich waren das ihre Leibwächter.

»Keine Bange«, sagte Thierry, als er ihren Blick zur Tür bemerkte, und beugte sich zu ihr. »Wenn ich es ihnen sage, verschwinden sie.«

»Wundervoll«, murmelte Alba.

Seit fast zwei Stunden saßen sie beim Lunch. Gerade hatten die Kellner den Nachtisch gebracht: Crème brûlée und kleine Gläser mit Dessertwein. Obwohl bisher noch niemand das Thema Heirat angeschnitten hatte, wusste Alba, dass genau das bevorstand. Die Whites und die Burton-Lyons hatten sich noch nie privat zum Essen getroffen. Für die heutige Verabredung gab es also einen Grund.

Thierrys Hand befand sich in bedenklicher Nähe ihres Oberschenkels und sie überlegte gerade, ob sie ihm eins auf die Finger geben oder das Ganze einfach ignorieren sollte, als plötzlich ein leises Summen zu hören war, das unter dem Tisch hervorzukommen schien.

Thierry zog ein kleines Tablet aus seiner Hosentasche, das Alba wider Willen faszinierte. Ihre Eltern erlaubten ihr nämlich nicht, solch ein Gerät zu haben.

Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht eines Mädchens, offenbar diejenige, die anrief.

»Eine Freundin von Ihnen?«, fragte Alba in möglichst uninteressiertem Ton.

Thierry fuhr mit dem Finger über den Bildschirm, um den Anruf wegzuklicken. »Nur ein Mädchen, das ich kennengelernt habe und das mir jetzt nicht mehr von der Pelle rückt«, erwiderte er achselzuckend. »Wirklich bedauerlich, dass manche Mädchen meinen, ein paar gemeinsame Nächte hätten was zu bedeuten. Die müssen einfach begreifen, dass man keine Zeit für Liebe hat, wenn man sich darauf vorbereitet, ein Land zu regieren.« Nachdem er das Tablet in die Tasche zurückgesteckt hatte, legte er Alba, bevor sie ihn daran hindern konnte, die Hand auf den Schenkel. »Finden Sie nicht auch?«

Alba wurde knallrot und wandte angewidert den Blick ab. Thierry hatte ihr praktisch gerade erzählt, dass er schon mit etlichen Mädchen geschlafen hatte … und er hatte es ihr so beiläufig mitgeteilt, als hätte es keinerlei Bedeutung. Und mit diesem Mann sollte sie den Rest ihres Lebens verbringen?

Und was Liebe anging, so interessierte es Alba nicht im Geringsten, wie Thierry darüber dachte. Sie hatte ganz gewiss etwas dafür übrig (natürlich mit einem anderen Partner als ihm). Sie wollte Romantik und Leidenschaft. Sie wollte die Art Liebe, bei der man Schmetterlinge im Bauch spürte und wie auf Wolken schwebte. Die Art Liebe, von der sie in Romanen gelesen hatte, wo der Held und die Heldin eher sterben würden, als voneinander zu lassen.

Sie wollte …

»Seven.«

Fast wäre Alba vom Stuhl aufgesprungen.

»Was?«, stotterte sie und sah Thierry verwirrt an. Hatte sie sich verhört?

»Ich weiß«, sagte er nickend. »Sieben Familien haben bereits bei meinen Eltern angefragt, ob ich ihre Tochter heiraten will. Und das werden noch mehr tun, da bin ich mir ganz sicher.«

Alba riss erstaunt die Augen auf.

Seine Hand packte ihren Schenkel noch fester. »Deshalb haben meine Eltern es so eilig, unsere Verbindung bekannt zu geben …«

»Plauderst du da unsere Geheimnisse aus, Thierry?«

Thierrys Vater, Christian Burton-Lyon, lächelte sie von der anderen Seite des Tisches an. Seine ganze Erscheinung wirkte ziemlich lächerlich: Das Haar klebte ihm in öligen schwarzen Locken am Kopf, die Oberlippe zierte ein gezwirbelter Schnurrbart. Sein Hals war so fett wie sein Bauch.

»Dabei bist du noch nicht mal eine Woche in London«, fuhr Burton-Lyon mit starkem französischen Akzent fort. Er drehte ein Glas in der Hand hin und her. »Wenn du so weitermachst, wird bald die ganze Stadt über unsere intimsten Angelegenheiten Bescheid wissen.«

Thierry lachte auf. »Entschuldige, Vater. Aber wie soll ein Mann denn den Mund halten, wenn er neben solch einer schönen Frau sitzt?«

»Wie wahr, mein lieber Junge«, entgegnete Burton-Lyon lächelnd. »Wie wahr.«

»Also könntet ihr Jungs euch bitte mal benehmen!«

Thierrys Mutter Julia schüttelte lächelnd den Kopf. Sie war eine schöne Frau, groß und schlank mit kurz geschnittenem braunen Haar. Im Gegensatz zu ihrem Mann und ihrem Sohn sprach sie mit einem Akzent, der verriet, dass sie aus der Oberschicht des Nordens stammte.

»Deine Mutter hat recht«, meinte Burton-Lyon, nachdem er seine Frau im Scherz geknufft hatte. »Sosehr wir auch darauf brennen, die Neuigkeit bekannt zu geben – vor dem Winterball darf das nicht geschehen.«

»Meine Lippen sind versiegelt, Vater.«

»Merveilleux. Wo waren wir gerade stehen geblieben …«

Während die Erwachsenen ihr Gespräch wieder aufnahmen, beugte Thierry sich zu Alba und redete weiter auf sie ein. Sie bekam kein Wort von dem, was er sagte, mit, da sie immer noch völlig benommen war. Beim Winterball sollte ihre Verlobung bekannt gegeben werden! Das war ja nur noch ein paar Wochen hin!

Dolly hatte versprochen, einen Weg zu finden, um Alba vor dieser Heirat zu bewahren. Aber was konnte sie in so kurzer Zeit denn ausrichten? Und wenn die Verlobung erst einmal publik gemacht worden war, würde Alba es nicht mehr schaffen, sich der Sache zu entziehen. Dann wäre ihr Name für immer mit dem von Thierry verbunden.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«, knurrte Thierry. Er nahm seine Hand von ihrem Knie und holte erneut sein Tablet aus der Tasche.

»Noch eine zudringliche Exfreundin?«, erkundigte sich Alba.

Er gab keine Antwort und hielt den PC so, dass sie den Bildschirm nicht sehen konnte. Als er plötzlich dröhnend lachte, zuckte sie zusammen.

»Wunderbare Neuigkeiten«, sagte Thierry laut, worauf das Gespräch am Tisch verstummte. »Die Polizei hat gerade noch einen der DSC-Diebe identifiziert, die bei der Razzia im Borough Market entkommen sind. Anscheinend ist er vor einer Stunde im Süden gesichtet worden. Die Tätowierung auf seiner Brust wies ihn ganz klar als Mitglied einer Diebesbande aus. Da man jetzt weiß, wie er aussieht, wird man den Dreckskerl im Handumdrehen fassen.«

Thierry legte das Tablet auf den Tisch und schob es in die Mitte, damit jeder den Jungen auf dem Bildschirm sehen konnte.

Alba blieb fast das Herz stehen.

Noch bevor sie hinschaute, wusste sie, wessen Gesicht sie erblicken würde. Trotzdem war der Schock so groß, dass sie nach Atem rang. Da war er, da waren seine grauen Augen, seine zerzausten Haare und sein wunderschönes, schiefes Grinsen. Unter dem Bild stand:

DRINGEND GESUCHT