Obwohl sie von Stimmengewirr umgeben war, fühlte Alba sich total allein.
Sie starrte Sevens Gesicht an, das auf Thierrys Tablet zu sehen war. Wie gern hätte sie nicht geglaubt, was sie dort sah, doch im Grunde ihres Herzens wusste sie, dass es die entsetzliche Wahrheit war. Tausend Fragen wirbelten ihr durch den Kopf. Was war aus Seven geworden? War er zu Hause? War er in Sicherheit? Oder hatte die Polizei ihn bereits gefunden?
Panische Angst stieg in ihr auf.
»Diese abscheulichen Leute im Süden meinen, sie könnten sich alles erlauben.«
»Und am schlimmsten ist, wie undankbar sie sind.«
»Da kann ich Ihnen nur zustimmen, Oxana«, sagte Thierrys Vater. »Wir verschaffen ihnen Jobs und Wohnungen und sie danken es uns, indem sie unsere Erinnerungen stehlen – diese Verräter. Das Privateste, was ein Mensch hat, verkaufen sie auf dem Schwarzmarkt, als wäre es nicht mehr wert als ein Pfund Tabak.«
Es war diese Äußerung, die schließlich dazu führte, dass Alba ausrastete.
»Die Leute im Norden handeln auch mit Erinnerungen«, sagte sie und funkelte die anderen zornig an. »Bloß dass wir es zum Zeitvertreib tun. Aus Gier. Aus Neugier. Die Leute im Süden tun es, um ab und zu mal zu erleben, wie ihr Leben sein könnte, wenn sie nicht so erbärmlich arm wären. Sie tun es, um zu leben.«
Es war, als hätte sie alle Anwesenden geohrfeigt. Die Gesichter ihrer Eltern waren wie versteinert. Thierry zog scharf die Luft ein. Seiner Mutter Julia klappte der Unterkiefer herunter, sodass man sehen konnte, dass ihr noch ein paar Klumpen Crème brûlée auf der Zunge klebten. Christian Burton-Lyons Blick wurde eiskalt.
»Sehen Sie sich doch unsere Stadt an«, fuhr Alba fort, deren Stimme vor Wut immer lauter wurde. »Sehen Sie sich all die Dinge an, die wir im Norden haben und die wir für uns behalten. Sehen Sie sich an, wie die Polizei die Menschen im Süden einschüchtert und wir ihnen mit der öffentlichen Hinrichtung von Verbrechern Angst einjagen, damit sie gar nicht erst auf den Gedanken kommen, sich zu wehren. Wir haben es nur uns selbst zuzuschreiben, wenn diese Leute ein kleines bisschen von dem, was wir ihnen genommen haben, zurückbekommen möchten. Keiner von uns würde auch nur einen einzigen Tag überleben, wenn wir mit dem wenigen, das sie haben, auskommen müssten.«
Alba dachte an Seven und sein kleines Memorium, dachte daran, wie sehr er diese gestohlenen Erinnerungen brauchte, um seinem Leben zu entfliehen. Sie dachte an die Angst und die Wut, die sie in seinen Augen gesehen hatte, nachdem die Razzia seine ganze Welt zerstört hatte.
»Was haben sie denn getan, um ein solches Leben zu verdienen?«, fuhr sie fort. »Abgesehen davon, dass sie auf der falschen Seite des Flusses geboren sind.«
»Kleine Alba.«
Die Stimme ihrer Mutter war ruhig und gelassen, hatte jedoch einen eisigen Unterton. Sie legte die Hände auf den Tisch. »Liebling, ich glaube, das Fieber, das du vor ein paar Tagen gehabt hast, ist zurückgekehrt. Du klingst überhaupt nicht mehr wie du selbst.«
»Mir geht es bestens, Mutter.«
Oxana achtete nicht auf sie, sondern kam zu ihr und legte ihr den Handrücken auf die Stirn. »Du glühst ja förmlich, mein Liebling.«
»Sie sehen wirklich ein bisschen blass aus«, meinte Thierrys Mutter.
Alba öffnete den Mund, um zu widersprechen, was Oxana jedoch verhinderte, indem sie ihren Handrücken so fest gegen Albas Stirn presste, dass sich die Diamantspitzen ihres Eherings in ihre Haut bohrten.
»Du musst sofort nach Hause.« Oxana wandte sich an ihren Mann. »Sie kann doch unseren Wagen nehmen, Alastair. Wir rufen uns dann später ein Taxi.«
Thierry schüttelte den Kopf. »Aber Mrs White – wir bringen Sie selbstverständlich nach Hause.«
Christian Burton-Lyon lächelte. »Ja, natürlich.« Er trank einen Schluck Wein, den Stiel des Glases fest umklammernd. »Schließlich sind wir bald miteinander verwandt.«
Bei diesen Worten bekam Alba eine Gänsehaut.
»Außerdem könnten wir dann vorher noch ein Tässchen Tee bei uns trinken«, fügte seine Frau in begeistertem Ton hinzu. »Letzten Sommer haben wir das Haus renovieren lassen. Noch nie hat Nummer zehn so schön ausgesehen.«
Oxana strahlte übers ganze Gesicht. »Wunderbar«, erwiderte sie. Offenbar erleichterte es sie ungemein, dass die Burton-Lyons einfach über den Ausbruch ihrer Tochter hinweggingen. Sie packte Alba beim Arm und zog sie hoch. »Dann ab mit dir nach Hause, Liebling.«
Alba hütete sich, erneut zu widersprechen. Auf diese Weise brauchte sie wenigstens keine Sekunde länger in Thierrys Gesellschaft zu verbringen.
Alle am Tisch standen auf und neigten den Kopf.
»Ich freue mich darauf, Sie beim Ball wiederzusehen«, murmelte Thierry und küsste Alba die Hand. »Ich hoffe, bis dahin sind Sie völlig wiederhergestellt, denn wir werden eine Menge zu feiern haben.«
Zu feiern.
Bei dem Ausdruck drehte sich ihr der Magen um. Was gab es denn an ihrer Verbindung mit diesem Widerling zu feiern? Da hätte sie ja bei einem Begräbnis mehr Spaß.
Und genau das würde der Winterball sein, auf dem ihre Verlobung mit Thierry bekannt gegeben werden sollte: das Begräbnis ihrer Zukunft und ihrer Träume.
Sie rang sich ein Lächeln ab. »Ich freue mich auch darauf«, erwiderte sie so freundlich, wie es ging.
Sobald Alba im Auto saß und Hans, der Chauffeur, losfuhr, kam ihr eine Idee. Zugegebenermaßen eine riskante. Aber anders konnte sie nicht herausfinden, ob Seven in Sicherheit war.
Sie beugte sich vor und klopfte gegen die dunkle Trennscheibe hinter den Vordersitzen. Kurz darauf wurde die Scheibe durchsichtig. Hans drehte leicht den Kopf zur Seite und sah sie im Rückspiegel an.
»Mistress Alba?«
»Hans«, sagte sie lächelnd, »wissen Sie, ich hab solch einen Appetit auf Honig-Madeleines. In South Pimlico gibt es ein Café, wo man die besten Madeleines der Stadt bekommt. In der Grosvenor Road. Könnten Sie mich da wohl hinfahren?«
»Ihre Mutter hat gesagt, ich soll Sie sofort nach Hause bringen«, erwiderte er. »Weil Sie sich nicht wohlfühlen.«
»Meine Eltern wollen mit den Burton-Lyons noch in die Downing Street fahren, um dort Tee zu trinken. Sie werden also erst in ein paar Stunden wieder nach Hause kommen«, beschwichtigte sie ihn. »Es ist doch nur ein kleiner Umweg … Und es wird niemand etwas davon erfahren.«
Hans seufzte. »Na gut, Miss«, meinte er. »Wenn’s schnell geht. An einem kleinen Umweg ist ja nichts Schlimmes.«