SEVEN 49

Als Seven wieder zu sich kam, spürte er schon, bevor er die Augen öffnete, dass er einen Verband um die Brust hatte. Benommen strich er mit den Fingern über den glatten weißen Stoff, der seine Wunde bedeckte.

Kurz bevor Kolas Faust ihn getroffen hatte, war Seven durch den Kopf geschossen, dass er ihn der Polizei ausliefern wolle. Obwohl ihn gar nichts mit Kola verband, hatte er sich in dem Moment verraten gefühlt. Jetzt begriff er, dass Kola ihm nur die Schmerzen beim Nähen der Wunde hatte ersparen wollen.

Seven hatte keine Ahnung, wie lange er bewusstlos gewesen war. Er lag in eine Decke gehüllt auf dem Sofa. Die Wohnung war voller Schatten, aber Abend konnte es noch nicht sein, dafür war es nicht dunkel genug. Die Glühbirne an der Decke summte lautstark vor sich hin und tauchte den Raum in flackerndes Licht.

Als Seven versuchte, sich auf den Ellbogen hochzustemmen, schoss ein derart heftiger Schmerz durch seinen Oberkörper, dass er fluchend aufs Sofa zurückfiel.

»Hey, du bist ja wieder wach.«

Kola kam von der Küche ins Wohnzimmer. Er stellte ein Glas Wasser auf den Tisch und daneben ein in Zeitung eingewickeltes Päckchen, das von Fett ganz durchweicht war. Dann schob er Seven den Arm unter die Schultern und half ihm, sich aufzusetzen.

»Entschuldige, dass ich dich ausgeknockt habe. Ich dachte, das wäre besser, als alles bei vollem Bewusstsein über sich ergehen zu lassen.«

Er reichte Seven das Glas, das er sofort dankbar austrank. Das Wasser hatte einen bitteren Nachgeschmack.

»Schmerzmittel?«, fragte Seven, als er Kola das leere Glas zurückgab.

Kola nickte. »Das ist leider alles, was ich habe. Hier.« Er gab ihm das Päckchen das sich ganz warm anfühlte. »Du musst etwas essen. Was anderes hab ich nicht auftreiben können.«

Seven öffnete das Päckchen und es war so fettig, dass seine Finger sofort ganz ölig wurden. Das Zeitungspapier enthielt ein zerdrücktes Würstchen. Bei dem Bratgeruch lief ihm das Wasser im Mund zusammen.

»Das Geld dafür gebe ich dir wieder«, sagte er etwas zerknirscht. »Ehrlich. Und das Verbandszeug und so bezahl ich dir auch.«

Kola lächelte ihn an. »Mach dir deswegen keine Gedanken. Du warst verletzt. Das war das wenigste, was ich für dich tun konnte.«

Das stimmt nicht, dachte Seven. Kola hätte ihn auch einfach ignorieren können, wie sein anderer Mitbewohner Sid es sicher getan hätte. Oder er hätte ihn – was noch schlimmer gewesen wäre – bei der Polizei anzeigen können. Inzwischen musste Kola die Tätowierung auf seiner Brust erkannt haben und zweifellos wusste er, dass er eine Belohnung bekommen würde, wenn er Seven an die Polizei auslieferte.

Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Kola: »Ich werde der Polizei nicht verraten, dass du hier bist. Aber du solltest aufessen und dir überlegen, was du jetzt machen willst, bevor Sid nach Hause kommt. Für den würde ich nämlich nicht garantieren.«

Seven nickte und machte sich über die Wurst her. Mit jedem Bissen erwachten seine Lebensgeister ein wenig mehr. Als er aufgegessen hatte, fühlte er sich zwar immer noch scheußlich – das Mittel hatte die Schmerzen in seiner Brust nur ein wenig gedämpft –, aber zumindest war er nicht mehr so schlaff und energielos wie zuvor.

»Meinst du, du schaffst es, dich anzuziehen?«, fragte Kola.

Seven schnitt eine Grimasse. »Denke schon.«

Kola wartete vor Sevens Zimmer, während dieser sich umzog, was sich als schwierig herausstellte. Die Schmerzen in seiner Brust strahlten in seinen ganzen Körper aus und verwandelten seine Muskeln in Blei. Jede Bewegung rief einen starken Brechreiz hervor.

Nachdem er sich bis auf die Unterhose ausgezogen hatte, stellte er fest, dass das Blut, mit dem er beschmiert gewesen war, verschwunden war. Offenbar hatte Kola ihn gewaschen, während er bewusstlos gewesen war. Wie peinlich. Sich den Schmerz verbeißend, zog Seven eine enge schwarze Jeans an – die einzige Hose, die er außer der blauen besaß, die der Hund ruiniert hatte – sowie einen dünnen kastanienbraunen Pullover, der sich perfekt um seine verbundene Brust schmiegte.

Als er fertig war, setzte er sich auf die Bettkante und rief Kola herein.

»Na, wie sehe ich aus?«, fragte Seven grinsend.

Ein Lächeln spielte um Kolas Mund. »Gut. Jedenfalls besser als vorher.«

Seven wandte den Blick ab. Er spürte, wie seine Ohren sich rosa färbten. »Hör mal, Kola«, murmelte er. »Ich bin dir wirklich für deine Hilfe dankbar. Ich … ich versteh bloß nicht, warum du das machst.« Er schaute auf und stieß ein bitteres Lachen aus. »Die meisten Leute im Süden hätten mich einfach angezeigt und die Belohnung kassiert.«

Kola schob die Hände in die Hosentaschen und schwieg eine Zeit lang.

»Vor vielen Jahren hab ich Malaysia verlassen, um dem Tod zu entkommen«, sagte er schließlich. »In meinem Land herrschte Bürgerkrieg. Die Leute hatten vergessen, was uns alles miteinander verbindet. Stattdessen brachten sie sich gegenseitig um, weil sie unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen oder unterschiedlichen Religionen angehörten … weil sie dachten, dass solche Dinge sie voneinander trennten. Ich hatte gehofft, in ein Land zu kommen, wo das alles keine Rolle spielt, doch selbst hier, in London, wo die Straßen angeblich mit Gold gepflastert sind, gibt es einerseits Leute, die über dieses goldene Pflaster laufen, und andererseits Leute, die darauf knien und es schrubben. Was man aber nicht vergessen darf, ist, dass diejenigen, die das Pflaster schrubben, auch diejenigen sind, die ihm Glanz verleihen.«

Kola verstummte. Seven hatte den Eindruck, als versuche sein Mitbewohner, ihm etwas Wichtiges mitzuteilen (obwohl Seven offen gestanden keinen Schimmer hatte, worauf Kola hinauswollte).

»Wir werden auf unsere Weise gewinnen«, fuhr Kola in leisem, entschlossenem Ton fort. »Egal, wie oft diese Leute mit schmutzigen Schuhen über die Straße trampeln, ich werde sie weiterhin schrubben. Ich werde nicht aufhören, die Stelle, die mir zugeteilt worden ist, so glänzend wie möglich zu polieren.«

Seven starrte Kola verwirrt an. Doch bevor er dazu kam, etwas zu sagen, klopfte es an der Wohnungstür.

Seven erstarrte.

Das Klopfen wiederholte sich, laut und fordernd.

Kola runzelte die Stirn und spähte zur Tür von Sevens Zimmer hinaus. »Soll ich aufmachen?«

Seven schüttelte heftig den Kopf. »Was, wenn sie es sind?«, krächzte er. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. »Was, wenn es die Polizei ist, die mich verhaften will?«, stieß er voller Panik hervor. »Die werden mich ins Gefängnis werfen und …«

Das Klopfen hörte auf.

Seven kniff die Augen fest zusammen und stellte sich darauf ein, dass die Polizei gleich die Tür eintreten und in die Wohnung stürmen würde.

So geht also alles zu Ende, dachte er voller Verzweiflung.

Dann hörte er, wie hinter der Tür jemand mit gedämpfter Stimme rief: »Seven! Wenn du da bist, lass mich rein, bevor ich in dem verdammten Gestank hier draußen umkomme!«