Alba 52

Kalter Wind schlug ihnen entgegen, als sie aufs Dach hinaustraten. Mit dumpfem Knall schlug hinter ihnen die Metalltür zu. Obwohl erst früher Nachmittag war, lag die Stadt wegen der niedrig hängenden Wolken, die den Himmel bedeckten, in trübem Zwielicht.

»Wahrscheinlich sollte ich dir nicht gerade jetzt sagen, dass ich Höhenangst habe«, stieß Alba hervor.

Nach all den Stufen, die sie gerade hochgerannt waren, war sie völlig außer Atem. Ein Glück, dass sie für den Kirchgang Schuhe mit flachen Absätzen angezogen hatte. Mit hochhackigen Schuhen hätte sie es nicht geschafft, so Hals über Kopf zu fliehen.

Seven stieß ein ersticktes Lachen aus. »Eigentlich nicht.« Beruhigend drückte er ihre Hand, als er sie zum Nordrand des Daches führte, wo die Hauswand eingerüstet war.

Vor ihnen breitete sich der Norden aus – Gebäude, Grünanlagen und breite Straßen, auf denen winzige, wie Spielzeug aussehende Autos entlangfuhren. Die Abdeckplanen, mit denen das Gerüst verkleidet war, flatterten im Wind. Die Metallstangen des Gerüsts reichten bis über den Rand des Dachs.

»Ladies first«, sagte Seven mit mattem Grinsen.

Vorsichtig näherte sich Alba dem Rand des Dachs. Unter ihr lag ein hölzerner Steg, auf den sie sich hinablassen konnte, der jedoch sehr schmal war. Wenn sie da ausrutschte …

Nein, dachte sie voller Entschlossenheit. Sie würde nicht ausrutschen.

Mit heftig klopfendem Herzen ging sie in die Hocke. Nachdem sie der schwindelerregenden Tiefe den Rücken zugekehrt hatte, ließ sie sich mit zitternden Gliedmaßen in Richtung Steg hinab. Der Wind fuhr ihr unter den Rock, sodass sich ihr Kleid um ihre Schenkel bauschte (wie anmutig das aussehen musste!).

Seven kniete sich hin und packte ihre Hände, um ihr mehr Halt zu geben. Eine Böe zerzauste ihm die Haare und wehte ihm Strähnen in die Augen.

»Sicher wünschst du dir jetzt, du hättest heute Morgen kein Kleid angezogen«, meinte er. Obwohl er dabei grinste, merkte Alba, dass er starke Schmerzen hatte.

Sie streckte die Beine noch weiter nach unten, bis ihre Zehenspitzen die Holzplanken berührten. Nachdem sie sich mit einem Arm an eine Gerüststange geklammert hatte, ließ sie sich unbeholfen nach unten sacken.

Sie plumpste auf den Holzsteg. Ohne die Stange loszulassen, schob sie sich ein Stück weiter, bis sie sich sicherer fühlte.

Seven kam ihr so schnell und mit solchem Schwung hinterher, dass die Holzplanken sich unter ihren Füßen durchbogen, als er landete. Sie stieß einen Schrei aus. Sofort verschloss er ihr mit der Hand den Mund und drückte sie gegen die kalte Hauswand.

»Sie sind da«, flüsterte er ihr ins Ohr. Sie erstarrte vor Schreck.

Von oben war das Zuschlagen der zum Dach führenden Tür zu hören. Schwere Polizeistiefel trampelten über den Beton.

»Sucht das ganze Dach ab!«, rief jemand.

Albas Magen krampfte sich zusammen.

Gleich werden sie uns entdecken!, dachte sie.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, ließ Seven sie los und zeigte zum Ende des Gerüsts, wo eine Leiter nach unten führte. So leise wie möglich bewegte sich Alba, gefolgt von Seven, auf die Leiter zu. Das Gerüst war ziemlich wacklig und knarrte und ächzte unter ihnen, was glücklicherweise jedoch vom Heulen des Windes übertönt wurde.

»Was ist mit dem Gerüst?«, fragte eine Stimme, als Alba gerade die Leiter erreicht hatte. »Vielleicht ist er da runtergeklettert.«

Alba geriet in Panik, packte die Leiter und stieg hastig hinunter. Seven befand sich direkt hinter ihr. Sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt, seine Haut bleich und mit Schweiß bedeckt. Trotzdem schaffte er es. Sofort drängte er sie unter den Holzsteg über ihnen, damit sie beide außer Sicht waren. Kurz darauf …

Plumps.

Jemand war von oben auf das Gerüst gesprungen.

Albas Herz schlug so heftig, dass sie am ganzen Körper zitterte. Sie hielt die Luft an, weil sie befürchtete, ihre Atemzüge würden sie verraten. Sie tastete umher, bis sie Sevens Hand fand. Ihre ganze Welt schien nur noch aus dem Hier und Jetzt zu bestehen, aus diesem wackligen Ort hoch oben auf dem Gerüst, wo sie aneinandergepresst und mit hämmerndem Herzen standen.

Das Holz knarrte, als jemand den Steg über ihnen entlanglief.

»Seh niemand.«

»Der müsste sich ganz schön anstrengen, wenn er hier schnell runterwollte.«

»Offenbar hat sein Mitbewohner die Wahrheit gesagt. Hier ist der DSC-Dieb jedenfalls nicht.«

»Für den Fall, dass er zurückkommt, sollten wir ein paar Männer in der Wohnung postieren.«

Die Holzplanken ächzten ein letztes Mal, als der Polizist über ihnen aufs Dach zurückkletterte. Alba stieß den Atem, den sie angehalten hatte, jedoch erst dann wieder aus, als die Schritte der Männer schon lange verklungen waren.

Eng gegen Seven geschmiegt, nahm sie wieder seinen schwachen Minzgeruch wahr. »Warum riechst du eigentlich so?«, fragte sie plötzlich. »Nach Minze, meine ich.«

Alba spürte, wie er tief Luft holte.

»Ich … ich kann mir weder Zahnpasta noch Seife leisten.« Seine Stimme war so leise, dass sie sich fast im Wind verlor. »Ich hab einen Topf Minze in der Wohnung. Die Blätter kaue ich, um meinen Mund zu säubern, und um mich zu waschen, leg ich sie in Wasser und reib mir die Haut damit ab.«

Irgendwie hatte sie das Gefühl, als sei dies das Konkreteste, was Seven ihr je mitgeteilt hatte. Als hätte er ihr ein kleines Stück seines Herzens gegeben.

»Oh«, flüsterte Alba.

Als er sich von ihr löste, fröstelte sie plötzlich, weil sein Körper ihr nicht mehr nahe war. Sie drückte die Hände gegen die Wand hinter ihr, damit ihr nicht schwindlig wurde, als vor ihr auf einmal die Tiefe gähnte.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte sie.

Seven rieb sich den Nacken. »Du musst zurück in den Norden und versuchen zu erklären, warum du so aussiehst …« Er zeigte auf ihr Kleid, das verschmutzt und zerrissen war. »… und ich muss mir ein Versteck suchen, wo ich eine Weile bleiben kann.«

»Aber wo willst du denn hin?«

Er zögerte kurz. »Ich glaube, ich kenne jemand, dem ich vertrauen kann.«

Vierzig Minuten später kam Alba zum Auto zurück, mit zerzausten Haaren, zerrissenem Kleid und völlig außer Atem.

»Danke«, sagte sie zu Hans, als wäre überhaupt nichts passiert. »Diese Honig-Madeleines waren köstlich. Jetzt fühl ich mich viel besser.«

Ihre Blicke begegneten sich, als der Chauffeur sie einen Moment lang im Rückspiegel anstarrte. Dann richtete er seine Augen wieder auf die Straße und warf den Motor an. Die Trennscheibe wurde undurchsichtig, sodass sie Hans’ Gesicht nicht mehr sehen konnte.

»Bei allem Respekt, Mistress Alba«, erklang seine Stimme über die Sprechanlage, »mit dieser ganzen Sache möchte ich nichts zu tun haben. Worum auch immer es dabei geht. Ich habe Sie direkt nach Hause gefahren, Miss«, fügte er hinzu.

Seine Worte machten Alba wütend. Für die Dienstboten bin ich nur die kleine Mistress Alba, dachte sie. Das Mädchen, das ständig dafür sorgte, dass ihre Mutter schlechte Laune bekam. Das Mädchen, das sie ignorierten, wenn sie gedemütigt auf dem Fußboden lag, weil sie zu viel Angst um den eigenen Hintern hatten.

Normalerweise fand Alba, dass sie diese Behandlung irgendwie verdiente. Aber heute, nach allem, was sie durchgemacht hatte, war das einfach nicht fair. Hans hatte keine Ahnung, was ihr passiert war. So, wie ihr Kleid zerrissen war, konnte er nicht mal wirklich ausschließen, dass man sie angegriffen oder sogar vergewaltigt hatte. Aber er war so damit beschäftigt, in nichts hineingezogen zu werden, dass er es noch nicht mal fertigbrachte, sie zu fragen, ob alles mit ihr in Ordnung war.

»Oh, das ist meine Sache, Hans«, sagte Alba mit leiser, vor Wut zitternder Stimme. »Ganz allein meine.«