Loe und Mika wohnten in Bankside, auf einem überfluteten Gelände in der Nähe der Blackfriars Bridge. Auf allen möglichen aufblasbaren Objekten war dort eine Art schwimmendes Dorf aus niedrigen Bretterbuden entstanden, zwischen denen Holzstege verliefen und die mit Tauen aneinander befestigt waren.
Als Seven in Bankside ankam, dämmerte es bereits. Die untergehende Sonne sprenkelte die Wasserfläche mit goldenen und silbernen Lichtreflexen. Unterwegs hatte Seven sich zweimal übergeben müssen – nicht dass viel in seinem Magen gewesen wäre. Und seine Brust schmerzte so, dass er den Eindruck hatte, sein gesamter Körper sei von einem Hund zerfleischt worden.
Als er über die ramponierte Seilbrücke ging, die das Ufer und Loes Zuhause miteinander verband, lächelte er in sich hinein. Wie Alba wohl auf das, was er vor sich sah, reagieren würde?
»Aber das ist ja ein Bus!«, hörte Seven sie förmlich ausrufen.
Und in der Tat stand da einer von Londons alten roten Doppeldeckern im seichten Wasser. An vielen Stellen war die Farbe abgeblättert und das Metall darunter verrostet. Vor die kaputten Fenster waren Planen gespannt, die die Tauben schon reichlich bekleckert hatten. Um den Bus waren Reifen geschichtet, die verhinderten, dass das Fahrzeug zur Seite kippte.
Seven klopfte an die improvisierte Tür an der Seite des Busses. Während er wartete, warf er einen Blick über die Schulter. Die Mütze, die er einem schlafenden Betrunkenen gestohlen hatte, hatte er sich tief in die Stirn gezogen. Obwohl er niemand entdecken konnte, der ihn beobachtete, hatte er trotzdem das Gefühl, als richteten sich unzählige Augen auf ihn. Als lauerten Leute im Verborgenen und warteten nur auf eine günstige Gelegenheit, um sich auf ihn zu stürzen.
»Seven! Seven! Seven!«, rief plötzlich eine fröhliche Stimme von oben. Als er sich zurücklehnte, sah er Mika, die ihm strahlend aus einem der Oberdeckfenster zuwinkte. Bevor sie noch etwas sagen konnte, war aus dem Bus ein wütender Schrei zu hören.
Erschrocken hielt sie sich die Hand vor den Mund und verschwand vom Fenster.
Kurz darauf ging die Tür auf. Ohne ein Wort zu sagen, packte Loe Seven beim Arm und zog ihn hinein. Nachdem sie die Tür zugeknallt hatte, rannte sie zu einem der Fenster.
»Was machst du denn hier?«, zischte sie, während sie vorsichtig eine der Planen zur Seite schob und nach draußen spähte. »Die ganze Londoner Polizei ist hinter dir her!«
»Könntest du nicht einfach mal Hallo sagen, Loe?«, erwiderte Seven seufzend und presste die Hand gegen seine schmerzende Brust.
Blitzschnell drehte sie sich zu ihm um. »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, hierherzukommen, Seven? Du wirst uns noch die Polizei auf den Hals hetzen!«
»Ich hab aufgepasst. Mir ist niemand gefolgt.«
»Hoffen wir’s.« Erst jetzt schien Loe zu bemerken, dass er sich vor Schmerzen krümmte. »Was ist los mit dir?«
»Ich bin von einem Hund angegriffen worden.«
Ihr Gesichtsausdruck wurde eine Spur weicher. »Scheiße. Wieso das? Was ist passiert?«
»Seven! Seven! Seven!«
Mika kam in einem knallroten Kleid die Treppe heruntergesprungen. Wenn Loe sich die Kleine nicht rechtzeitig geschnappt hatte, wäre sie voll gegen Seven geprallt.
»Herrgott noch mal, Mika!«, schnauzte Loe. Sie ließ die Kleine los und gab ihr einen Klaps. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht so schreien. Wenn du seinen Namen so laut rufst, wird bald ganz Bankside wissen, dass er hier ist!«
Mika spielte am Saum ihres Kleids herum. »Entschuldige, Loe.«
»Und jetzt geh nach oben und komm uns nicht wieder in die Quere.«
»Aber …«
»Mika!«
Das Mädchen streckte Seven die Zunge raus, winkte ihm kurz zu und rannte die Treppe hoch.
Loe zeigte zum hinteren Teil des Busses. »Setz dich, du Idiot – bevor du in Ohnmacht fällst oder mir den Fußboden vollkotzt.«
Seven folgte ihr und ließ sich erleichtert auf einen Sitz fallen. Im hinteren Teil des Busses hatte Loe eine Art Wohnzimmer eingerichtet, in dem sie einige der Originalsitze L-förmig aufgestellt hatte. Seven lehnte sich zurück und fuhr sich mit der Hand durch die zerzausten Haare.
»Danke, Loe«, murmelte er.
»Ich hab doch gar nichts gemacht.«
»Eben.«
Schweigend saßen sie eine Weile da. Draußen fing es an zu regnen. Laut prasselten die Tropfen gegen den Bus, während das Wasser gegen seine Seiten schwappte. Der Regen wurde nach und nach heftiger, die Dunkelheit nahm zu. Loe stand auf, um die Laternen anzuzünden, die an den Haltestangen hingen. Im Bus breitete sich bernsteinfarbenes Licht aus.
Das Ganze wäre richtig gemütlich gewesen, wenn Seven nicht das Gefühl gehabt hätte, als wäre sein Körper in Stücke gerissen und von einem betrunkenen Chirurgen mit einer rostigen Stricknadel wieder zusammengeflickt worden.
»Tja«, sagte Loe schließlich. Sie hockte auf der Kante des Sitzes und hatte die Knie bis zur Brust hochgezogen. »Carpenters Tod ist wirklich ein schwerer Schlag.«
Wieder sah Seven vor sich, wie Blut aus Carpenters Mund quoll und seine Augen brachen. Wieder sah er das Einschussloch in seinem Hals vor sich.
Seven schluckte. »Kann man wohl sagen.«
»Und unsere Jobs sind auch flöten gegangen.«
»Stimmt.«
»Außerdem sucht die Polizei nach uns.«
»Stimmt.«
»Und es sieht so aus, als hättest du kein Zuhause mehr, weil die herausgefunden haben, wo du wohnst. Richtig?«
»Loe«, stöhnte er, »du hast wirklich ein unglaubliches Talent, einen aufzuheitern.«
Sie schnitt ihm eine Grimasse und wandte den Blick ab. Nachdem sie sich durch ihr unordentliches Haar gefahren war, holte sie tief Luft.
»Was soll ich bloß tun?«, fragte sie in einem Ton, den er noch nie von ihr gehört hatte und der kläglich und hoffnungslos klang.
»Ich muss doch Mika irgendwie durchbringen«, fuhr Loe fort. »Sie ist zwar noch klein, futtert aber wie ein übergewichtiger Banker aus dem Norden, der gerade sein Gehalt bekommen hat.« Sie stieß ein ersticktes Lachen aus.
Seven wusste genau, warum sie versuchte, die Sache ins Scherzhafte zu ziehen – um sich nicht anmerken zu lassen, wie viel Angst sie hatte.
Das hatte er selbst jahrelang so gemacht.
»Du wirst schon einen Weg finden«, sagte er.
Loe vermied es nach wie vor, ihn anzusehen. Der Regen prasselte immer heftiger gegen den Bus.
»Genau davor fürchte ich mich«, erwiderte sie schließlich.