»Wer zum Teufel sind Sie?«
»Ich bin eine Freundin von Seven …«
»Seven hat keine Freundinnen.«
»Und wer sind dann Sie?«
»Seine gute Fee. Und jetzt verschwinden Sie, sonst ruf ich die Polizei.«
»Das werden Sie sicher nicht tun.«
»Ach ja?«
»Weil Sie nämlich auch wegen Erinnerungsdiebstahls gesucht werden, Loe. Da möchten Sie wohl kaum, dass die Polizei bei Ihnen aufkreuzt.«
Eine Zeit lang herrschte gespanntes Schweigen.
»Woher, verdammt noch mal, kennen Sie meinen Namen?«
»Wie ich schon sagte, Loe, ich bin eine Freundin von Seven.«
Als Stimmen an sein Ohr drangen, kam Seven zu sich. Verschlafen rieb er sich die Augen und setzte sich im Bett auf. Besser gesagt: Er versuchte es, doch der Schmerz in seiner Brust ließ ihn fluchend zurücksinken.
Er lag im Oberdeck des Busses, auf der dünnen Matratze, die Loe und Mika als Bett diente. Die zwei weiblichen Stimmen waren so laut, dass sie trotz des Regens zu hören waren. Seven spähte in der Dunkelheit umher. Im Laternenlicht konnte er die Umrisse einer kleinen Gestalt ausmachen, die sich über das Geländer der Treppe beugte.
»Mika?«, rief Seven.
Sie drehte sich um und presste den Finger gegen die Lippen. »Pssst!«
Die Stimmen von unten wurden noch lauter.
»Ich weiß nicht, wer Sie sind oder woher Sie meinen Namen kennen, aber falls Sie nicht verschwunden sind, wenn ich bis zehn gezählt habe, breche ich Ihnen das Genick.«
»Bitte beruhigen Sie sich, Loe. Ich bin hier, um Seven zu helfen.«
»Eins!«
»Seine Wunde muss versorgt werden …«
»Zwei!«
»Könnten Sie ihm wenigstens sagen, dass seine Freundin mich geschickt hat?«
»Dr… Moment mal! Was haben Sie gerade gesagt?«
»Seine Freundin Alba hat mich geschickt.«
»Seine Freundin?«
Seven klatschte sich mit der Hand gegen die Stirn und stöhnte leise auf. Das darf doch nicht wahr sein!, dachte er. Er warf die Decke von sich und wankte zur Treppe. Die Schmerzen in seinem Oberkörper waren so höllisch, dass er bei jedem Schritt zusammenzuckte.
Was zum Geier soll denn das? Wieso schickt Alba jemand zu mir?, dachte er wütend. Und weshalb behauptet sie, sie sei meine Freundin?
»Alles in Ordnung, Loe«, rief Seven und machte sich daran, die Treppe hinunterzusteigen. Im nächsten Moment schrie er auf, weil er das Gleichgewicht verlor und nach unten fiel.
Bevor sein Gesicht auf dem Fußboden aufschlug, packte ihn jemand. Genauer gesagt: Er packte jemand und riss den Betreffenden um. Dem empörten Schnauben nach zu urteilen, war es Loe.
»Seven!«, zischte sie, als sie sich unter ihm hervorwälzte.
»Darf ich Ihnen helfen?«
Eine Frau, die er noch nie zuvor gesehen hatte, trat auf ihn zu. Das Licht der Laternen fiel auf ein freundliches Gesicht mit großen runden Augen. Sie trug einen langen Regenmantel, der bis zum Hals zugeknöpft und dessen Kapuze zurückgeschlagen war. Sie hatte purpurrote, oben zu zwei Knoten geschlungene Haare.
Lächelnd streckte sie ihm die Hand entgegen, doch er zuckte zurück.
»Alba hat gesagt, Sie lassen sich nicht gern von anderen helfen«, stellte sie mit bedauerndem Ton fest.
»Alba weiß einen Dreck«, fuhr er sie an.
Die Frau lächelte. »Sie hat auch gesagt, dass Sie ganz schön unhöflich sein können.«
»Diese verdammte …«
»Und dass Sie gern fluchen.«
Seven funkelte sie wütend an. »Na, die hat’s nötig, so was zu sagen! Als sie das letzte Mal gegen meine Tür gehämmert hat, hat sie sich auch nicht gerade fein ausgedrückt.«
Die Frau kniff die Augen zusammen und stieß ein glockenhelles Lachen aus, worauf Seven irgendwie sofort das Gefühl hatte, er könne ihr vertrauen.
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, wo sie solche Ausdrücke gelernt hat.« Ihr Gesicht wurde wieder ernst. »Jetzt gehen Sie erst mal wieder ins Bett. Mal sehen, was ich für Sie tun kann. Alba hat mir von Ihrer Verletzung erzählt. Sie haben eine Menge Blut verloren und möglicherweise hat sich die Wunde entzündet. Außerdem brauchen Sie eine Tetanusspritze.«
Seven verzog das Gesicht. »Hört sich ja toll an. Aber Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wer Sie sind.«
»Ich bin Dolly«, erwiderte die Frau. »Albas Zofe.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, beugte sie sich nach unten und schob ihre Arme unter die von Seven, um ihm beim Aufstehen zu helfen.
»Oh, fühlen Sie sich ganz wie zu Hause«, grummelte Loe, als Dolly Seven zur Treppe bugsierte.
Schweigend ging Dolly ans Werk, säuberte Sevens Wunde und verpasste ihm verschiedene Spritzen. Obwohl das alles wehtat, gab Seven keinen Laut von sich und fluchte nicht ein einziges Mal. Er saß mit nacktem Oberkörper auf der Matratze im Oberdeck. Dolly hatte neben ihm Platz genommen. Von unten war trotz des lauten Regens das Gemurmel von Loes und Mikas Stimmen zu hören.
»Machen Sie so was öfter?«, fragte Seven schließlich. »Ich meine, eilen Sie allen armen Jungs aus dem Süden zu Hilfe, mit denen Alba sich angefreundet hat?«
Dolly strich gerade eine Art Gel auf seine Wunde. Sie blickte auf und zog die Augenbrauen hoch. »Was meinen Sie denn?« Als sie das Gel aufgetragen hatte, holte sie ein Stück Mull aus ihrem Erste-Hilfe-Kasten und klebte es mit Pflaster auf seine Wunde. »Das hat Ihr Freund sehr gut vernäht«, sagte sie. »Sie haben großes Glück gehabt, dass er da war. Wenn Sie noch mehr Blut verloren hätten, hätten Sie es vielleicht nicht geschafft. Nicht in Ihrem Zustand.«
»In meinem Zustand? Was soll das denn heißen?«, empörte sich Seven.
»Das ist nichts, wofür Sie sich schämen müssten, Seven.«
»Wer sagt, dass ich das tue?«
»Ich hab früher außerhalb von London gelebt«, fuhr Dolly fort. »Auf dem Land südlich der Stadt. Ich weiß, wie es ist, Hunger zu haben.«
Seven sah misstrauisch zu, wie sie ein Stück Verband abwickelte und ihm um den Oberkörper band.
»Sie haben außerhalb der Stadt gelebt?«, hakte er nach.
Dolly nickte. »Meine Familie besitzt eine kleine Farm in Sussex. Das Leben dort war hart. Im Winter ist fast alles erfroren.« Sie machte eine Pause. »Wie gesagt, ich weiß, wie es ist, Hunger zu haben. Wie es ist, jeden Tag ums Überleben zu kämpfen.«
»Und warum sind Sie nach London gekommen?«
»Aus demselben Grund, aus dem auch alle anderen in die Stadt kommen. Um nach einem besseren Leben zu suchen.«
»Und das haben Sie dann bei den Whites gefunden?«, sagte Seven und schnaubte verächtlich.
Sie warf ihm einen strengen Blick zu. »Es gibt schlimmere Arbeitsplätze.« Nachdem sie ihn verbunden hatte, packte sie all ihre Utensilien wieder in den Erste-Hilfe-Kasten. »Die Whites haben viel für mich getan.«
»So wie für Alba?«, fragte Seven in sarkastischem Ton. Er wusste nicht, warum er plötzlich so wütend war. Er blickte Dolly nur starr an, während er innerlich kochte.
Dolly machte ihren Erste-Hilfe-Kasten zu, nahm ihn an sich und stand auf. Ihr Gesicht war hart und unfreundlich geworden.
»Seven«, sagte sie, »ich weiß nicht, was Alba Ihnen über ihr Leben im Norden erzählt hat, aber ob Sie es nun glauben oder nicht: Ihre Eltern lieben sie tatsächlich. Mag sein, dass sie ihr das manchmal auf ziemlich merkwürdige Weise zeigen, und ich bin weiß Gott nicht mit allem, was sie tun, einverstanden, aber sie tun es, weil sie glauben, es sei das Beste für sie. Können Sie das auch von sich behaupten?«
Seven hatte das Gefühl, als hätte man ihm ins Gesicht geschlagen.
»Ich weiß, dass ich es von mir behaupten kann«, fuhr Dolly fort. »Und deshalb bitte ich Sie, Alba in Ruhe zu lassen.« Ihre Augen blitzten entschlossen auf. »Ich habe volles Verständnis für Albas Bedürfnis zu rebellieren und ich werde alles, was in meinen Kräften steht, tun, damit ihr diese arrangierte Ehe erspart bleibt. Damit sie ihre Träume verwirklichen kann. Und darum müssen Sie sie gehen lassen. Was auch immer Sie beide in puncto EH-Projekt vorhaben – es ist viel zu gefährlich. Da darf sie nicht reingezogen werden.«
»Sie wissen etwas darüber, nicht wahr?«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Sie wissen etwas über das EH-Projekt.«
Dolly wandte den Blick ab. »Nicht wirklich. Aber Albas Vater hat oft Besprechungen zu Hause, da habe ich im Laufe der Jahre das eine oder andere aufgeschnappt … Und deshalb weiß ich, dass niemand von uns in diese Sache reingezogen werden sollte. Alba hat mir erklärt, was es mit Ihrer Vergangenheit auf sich hat, Seven«, fuhr sie in freundlicherem Ton fort. »Wenn Sie dieser Sache weiterhin nachgehen wollen, kann ich das verstehen. Aber ich bin für Alba verantwortlich. Deshalb bitte ich Sie, Alba aus dem Spiel zu lassen, falls Ihnen etwas an ihr liegt.«
Sie verstummte. Der Regen draußen schien noch stärker zu werden und trommelte derart laut aufs Busdach, als versuche er, Dollys Worte wegzuspülen. Seven wünschte, sie könnten auch so leicht aus seinem Kopf gelöscht werden.
Ohne dass Seven es gewollt hatte, war Alba für ihn wichtig geworden. Er hatte sie akzeptiert. Jetzt waren sie Freunde. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, sie nie wiederzusehen. Noch vor Kurzem hatte er ihre Hand gehalten, als sie gemeinsam vor der Polizei davongerannt waren.
Wie konnte er sie nach alldem einfach gehen lassen?
Doch was am schlimmsten war: Seven wusste, dass Dolly recht hatte, auch wenn er es nicht gern zugab.
Er blickte weg. »In Ordnung. Ich werde sie nicht wiedersehen.«
»Danke«, flüsterte Dolly, die erleichtert klang. »Übrigens verstehe ich, warum Alba sich zu Ihnen hingezogen fühlt.« Sie beugte sich nach unten, küsste ihn auf die Wange und legte etwas neben ihn. »Das soll ich Ihnen von Alba geben«, sagte sie. Dann drehte sie sich um und ging die Treppe hinunter.
Seven warf einen Blick nach unten. Neben ihm lag ein Päckchen, das in Goldpapier eingewickelt und um das eine Schleife gebunden war. Er rührte es nicht an. Weshalb sollte er es auspacken? Schließlich würde er Alba nicht wiedersehen und keine Gelegenheit haben, sich dafür zu bedanken.
Mit einem wütenden Schrei griff er nach dem Päckchen und schleuderte es durch den Bus. Ihm wurde speiübel, weil er plötzlich erkannte, was für ein Idiot er gewesen war.
Wie hatte er sich ihre Beziehung eigentlich vorgestellt? Hatte er gedacht, dass Alba und er sich für den Rest ihres Lebens nachts heimlich treffen würden? Dass alles andere keine Rolle spielte, wenn ihre Freundschaft nur stark genug war?
Nun, sie konnten sich nicht für den Rest ihres Lebens nachts heimlich treffen und ihre Freundschaft war nicht so stark, dass alles andere keine Rolle spielte. Seven würde nie in Albas Haus oder ihrem Leben oder ihrer Familie willkommen sein, geschweige denn in ihrem Herzen. Bei Letzterem krampfte sich sein Magen zusammen. Wie hatte er nur so dumm sein können zu hoffen, dass sie zwei die Ausnahme waren?
Manche Grenzen konnten nie überschritten werden. Manche Dinge waren für immer voneinander getrennt.
Norden und Süden.
Alba und Seven.
Was er wollte und was er bekam.