»V…vater«, stammelte Alba. »Ich … ich hätte nicht gedacht …«
»Was machst du hier?«, wiederholte er, während er auf sie zutrat und sie bei der Schulter packte. Er zog sie an sich und spähte über sie hinweg in die Dunkelheit. »Es ist gefährlich, so spät allein draußen zu sein, Alba. Selbst auf dem Anwesen. Ich bringe dich ins Haus zurück.«
Da Alba ihm keinen Anlass geben wollte, sie weiter auszufragen, ließ sie sich von ihm in Richtung Haus führen. Sein Arm ruhte schwer auf ihren Schultern. Früher hatte es ihr immer ein Gefühl von Sicherheit gegeben, wenn sie seinen Arm spürte. Es war wie ein Versprechen gewesen, dass ihr Vater stets für sie da sein und sie vor den Gefahren der Welt beschützen würde.
Jetzt fühlte es sich an, als stelle er die Gefahr dar.
»Ich konnte nicht schlafen und brauchte ein bisschen frische Luft«, log Alba. »Ich dachte, wenn ich auf dem Anwesen bleibe, ist das nicht gefährlich. Aber das hätte ich nicht tun sollen. Tut mir leid.«
Ihre Schritte gingen im Pfeifen des Winds unter, der durch das Gras fegte. Um sie herum raschelte Laub in der Dunkelheit.
Ihr Vater seufzte. »Stimmt, meine Liebe, das hättest du wirklich nicht tun sollen. Aber ich verstehe, was du meinst. Ich kann seit einiger Zeit auch nicht gut schlafen.«
»Wegen deiner Arbeit?«
»Ja.«
Seine knappe Antwort verriet ihr, dass es besser war, keine weiteren Fragen zu stellen.
Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Alba hatte das Gefühl, als gingen all die Geheimnisse, die ihr Vater hatte, neben ihnen her und beobachteten sie aus der Dunkelheit. Es gab so viele Fragen, die sie ihm stellen wollte – wer die Erinnerungshüter waren, warum er in dieses Projekt verwickelt war und warum es ihm nichts auszumachen schien, dass deswegen Menschen starben.
Vor allem Letzteres wollte sie fragen, damit er die Möglichkeit hatte, ihr zu sagen, dass ihm das durchaus etwas ausmache. Damit er ihr eine Erklärung geben konnte, die ihn wieder zu ihrem Vater machte statt zu einem Fremden.
»Was hältst du von Christians Sohn Thierry?«, fragte ihr Vater ganz unvermittelt, als sie am Haus ankamen.
Als sie über den Kies der Auffahrt schritten, ging an der Haustür eine Lampe an, die die Umgebung in grelles Licht tauchte. Alba kniff die Augen zusammen. Kurz vor der Haustür blieb ihr Vater stehen. Er trug nach wie vor seine Staatsanwaltsrobe. Offenbar hatte er wieder einmal bis spät in die Nacht gearbeitet.
»Oh.« Sie biss sich auf die Lippe und wandte den Blick ab. »Vermutlich ist er ganz in Ordnung.«
»Du magst ihn nicht?«
»Nein«, erwiderte Alba. »Ich … ich verstehe einfach nicht, warum ich ihn heiraten soll.«
Ihr Vater fasste sie am Kinn und drückte ihren Kopf nach oben. Seine normalerweise kalten Augen nahmen einen weichen Ausdruck an. »Das ist der beste Weg für dich, meine Liebe. Wenn deine Mutter und ich das nicht so sehen würden, hätten wir die Sache nicht arrangiert. Du wirst an Thierrys Seite sehr glücklich werden und brauchst dir keine Gedanken mehr über deine Zukunft zu machen, weil du alles haben wirst, was du dir nur wünschst.«
Blitzartig sah Alba Sevens Gesicht vor sich – sein schiefes Grinsen, seine grauen Augen.
Was du dir nur wünschst, schoss ihr durch den Kopf.
Ihr Vater seufzte erneut. »Ich weiß, dass ich nicht immer ein guter Vater gewesen bin«, fuhr er in einem Ton fort, der so sanft und warm war, wie sie es noch nie bei ihm gehört hatte. »Es war oft sehr schwierig für mich, überhaupt herauszufinden, wie ich dir ein guter Vater sein kann. Aber ich habe es versucht und versuche es nach wie vor. Du bist meine über alles geliebte Tochter und ich will natürlich nur dein Bestes.«
Mit angehaltenem Atem starrte Alba ihren Vater an, der noch immer ihr Kinn in der Hand hielt.
Genau das hatte sie all die Jahre von ihm hören wollen.
Sie schwebte wie auf Wolken.
Mehr wollte sie doch nicht.
Doch dann dachte sie wieder an das EH-Projekt. An das spöttische Lachen ihres Vaters, nachdem bei der Razzia so viele Erinnerungsdiebe getötet worden waren. An die Kälte in seiner Stimme, als er über die Kandidaten gesprochen hatte, die bei den Experimenten zu Tode gekommen waren. Daran, dass er Alba nach den Ausbrüchen ihrer Mutter nie tröstete, seiner Frau nie befahl, damit aufzuhören, obwohl er doch sicher darüber Bescheid wusste. Und falls nicht, dann machte das die Sache nur noch schlimmer.
Sie dachte an all die Geheimnisse, die im Laufe der Jahre zwischen sie getreten waren, sich wie eine hohe Mauer zwischen ihnen aufgetürmt hatten, und da wurde ihr schmerzlich bewusst, dass seine Worte zu spät gekommen waren. Sie glaubte ihm zwar, doch das spielte jetzt keine Rolle mehr.
Alba liebte ihren Vater und er liebte sie. Doch die Dinge, die sie dachten, fühlten und an die sie glaubten, waren so grundverschieden, als wären sie Fremde.
»Ich weiß, Vater«, erwiderte sie. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange.
Er lächelte sie kurz an. »Gut. Und jetzt geh wieder ins Bett, meine Liebe. Vielleicht kannst du nun besser schlafen.«