Schweigend gingen Dolly und Alba über das Hyde-Park-Anwesen. Es war ein kalter, klarer Morgen, obwohl am Horizont allmählich Wolken heraufzogen. Ihre Schuhe knirschten über den Kies, mit dem der Pfad bestreut war. Der Wind riss die Blätter von den Bäumen und wirbelte goldbraunes Laub durch die Luft, ein Tanz winterlicher Farben.
»Was hast du denn heute in der Schule?«
Alba schielte zu Dolly hinüber, die sie mit demselben zaghaften Gesichtsausdruck betrachtete, wie sie es seit ihrem Streit um Seven tat. Mit verschlossener Miene vergrub Alba den Kopf noch tiefer in ihrer warmen Pelzkapuze, die sie zusätzlich zum Mantel ihrer Schuluniform trug, und setzte schweigend ihren Weg fort. Der Atem quoll den beiden in weißen Wölkchen aus dem Mund.
»Du kannst mich nicht ständig ignorieren, weißt du«, fuhr Dolly fort.
Wetten, dass?, dachte Alba.
»Ich weiß, dass du über das, was ich gemacht habe, nicht glücklich bist«, sagte Dolly, »aber ich hoffe, du wirst einsehen, dass es das Beste war.«
Nein, werde ich nicht.
»Jetzt kannst du dich ganz auf die Schule und die Abschlussprüfung konzentrieren, die du machen musst, wenn du auf die Universität willst.«
Wozu denn? Ich werde ja doch nicht auf die Universität gehen.
»Vielleicht überlegen deine Eltern sich das mit der Heirat noch mal, wenn sie sehen, wie gut du in der Schule bist.«
Genau. Weil meine Eltern ja so oft ihre Meinung ändern.
»Bald wirst du Seven vergessen haben …«
»Nein, werde ich nicht!«, schrie Alba so laut, dass Dolly vor Schreck verstummte. Alba hatte eigentlich nicht vorgehabt, etwas zu sagen, konnte es aber nicht länger ertragen, sich den Unsinn ihrer Zofe anzuhören.
»Er war mein Freund«, sagte Alba. »Der einzige, den ich außer dir je gehabt habe. Und du hast ihn vertrieben.«
Dollys Gesicht wurde hart. »Es ging dabei um deine Sicherheit …«
»Meine Sicherheit! Für etwas anderes scheint sich hier niemand zu interessieren. Was nutzt einem denn Sicherheit, wenn man nicht frei ist?«
Dolly öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, doch in dem Moment wurde ihr Blick abgelenkt. Ein überraschter Ausdruck huschte über ihr Gesicht.
»Seven«, flüsterte sie.
Alba verdrehte die Augen. »Was soll das denn jetzt wieder?«
»Seven«, wiederholte Dolly. »Er ist hier.«
Blitzschnell drehte Alba sich um und zog hörbar die Luft ein, als sie die schlaksige Gestalt erkannte, die auf sie zugelaufen kam. Wie bei ihrer letzten Begegnung trug er einen kastanienbraunen Pullover und ausgeblichene schwarze Jeans. Außerdem hatte er eine Mütze auf, die er sich tief in die Stirn gezogen hatte.
Als Seven näher kam und den Kopf hob, trafen sich ihre Blicke. Sofort fing Albas Herz an, heftig zu klopfen.
»Was um alles in der Welt …?«, flüsterte sie.
Dolly ging ihm entgegen, packte ihn beim Arm und zog ihn zu einer Schwarzdornhecke am Rande des Pfads.
»Was machen Sie hier?«, wollte sie wissen. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie nicht mehr hierherkommen sollen.«
Sevens Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Er schüttelte Dollys Hand ab. »Tja, es ist mir schon immer schwergefallen, Befehle zu befolgen.« Er sah an Dolly vorbei zu Alba hinüber, die wie angewurzelt dastand. Sein Blick wanderte über ihren blauen Mantel und die seidenen Strumpfhosen. Er zog eine Augenbraue hoch. »Hallo, Prinzessin. Gut siehst du aus.«
Alba wurde knallrot. Trotzdem musste sie unwillkürlich lächeln und sie spürte, wie ihr vor Freude innerlich ganz warm wurde. Sie trat auf Seven zu, doch sofort streckte Dolly abwehrend den Arm aus.
»Seven, es ist extrem gefährlich, am helllichten Tag hier aufzukreuzen, wo jeder Sie sehen kann.«
Er verzog das Gesicht. »Das weiß ich, das können Sie mir glauben. Aber es ist etwas passiert und ich brauche Albas Hilfe.«
Etwas an der Art, wie er das sagte, versetzte Alba in Aufregung.
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass sie Ihnen nicht mehr helfen kann.«
»Doch, das kann ich«, warf Alba rasch ein. Sie wusste, dass etwas Schlimmes passiert sein musste, wenn Seven es wagte, tagsüber in den Norden zu kommen. Sie sah ihn stirnrunzelnd an. »Was ist los?«
Seven kramte in seiner Hosentasche herum und holte etwas heraus. Wie sie sah, war es eine der DSCs, auf denen er Erinnerungen speicherte. Sie nahm sie an sich und las die Aufschrift auf dem Etikett.
»Das ist die einzige DSC, die die Polizei in meinem Memorium zurückgelassen hat«, erklärte Seven. »Kola hat sie mir letzte Nacht gebracht. Zuerst habe ich nicht weiter darauf geachtet, aber dann habe ich das Datum gesehen und gedacht …«
»… dass es eine Botschaft ist«, beendete Alba den Satz im Flüsterton.
»Wieso eine Botschaft?«, fragte Dolly.
Alba zeigte ihr das Etikett, um sich dann wieder Seven zuzuwenden. »Vielleicht gibt es bei der Polizei einen Spion«, stieß sie atemlos hervor. »Jemand, der für die Leute arbeitet, die versuchen, das Erinnerungshüter-Projekt aufzudecken!«
Seven starrte sie mit offenem Mund an. »Das was?«
»Oh.« Albas Blick huschte kurz zu Dolly. »Genau das bedeutet EH-Projekt. Erinnerungshüter. Und diese DSC … muss jemand heimlich in deiner Wohnung deponiert haben. Vielleicht hatte sogar Kola was damit zu tun! Das Datum und die Ortsangabe auf dem Etikett sagen uns, dass wir heute dorthin kommen sollen!«
Er nickte. »So hab ich das auch verstanden. Deshalb wollte ich dich fragen, ob du mitkommen möchtest.«
»Auf gar keinen Fall«, mischte sich Dolly ein, bevor Alba etwas erwidern konnte. »Das ist zu gefährlich. Ihr zwei steckt schon viel zu tief in dieser Sache. Was, wenn diese Botschaft eine Falle ist?«
Ein bisschen verdächtig war das alles schon, doch Alba versuchte, den Gedanken zu verdrängen. Was blieb ihnen denn anderes übrig, als der Person, die ihnen die Botschaft geschickt hatte, zu vertrauen, wenn sie mehr über das EH-Projekt herausfinden wollten?
»Dolly«, sagte sie, »bitte! Jetzt, wo Seven hier ist, müssen wir ihm helfen.« Sie biss sich auf die Lippe und senkte die Stimme. »Es geht nicht darum, dass wir neugierig sind. Hier geht es darum, die Wahrheit über Sevens Leben herauszufinden – und über meins. Ich habe all diese Geheimnisse satt. Wir müssen einfach herausfinden, was da vor sich geht.«
Dolly zögerte. Obwohl sie immer noch besorgt aussah, schien sie über Albas Worte nachzudenken. Nach einer Weile seufzte sie und sagte: »Na gut. Dann begleiten wir ihn.«
Alba schlang Dolly die Arme um den Hals. »Danke!«, rief sie.
»Dank mir nicht zu früh«, erwiderte Dolly und machte sich von Alba los. »Denn danach ist endgültig Schluss. Dann gibt es keine nächtlichen Treffen oder Trips in den Süden mehr. Und das meine ich ernst. Nach dieser Sache werdet ihr zwei euch für immer voneinander verabschieden und getrennte Wege gehen.«