Sie schlichen durch den Dienstboteneingang ins Haus und durchquerten die leeren Schlafsäle, bis sie zu den Zimmern der Zofen gelangten. Zum Glück waren alle Angestellten irgendwo im Haus beschäftigt, sodass sie niemandem begegneten.
Dollys Zimmer war klein, aber wunderschön ausgestattet. An den Fenstern hingen seidene Vorhänge. Das Bett war mit gemusterter Bettwäsche bezogen. Auf dem hellen Holzfußboden lag ein flauschiger Teppich und an der Wand hinter dem Bett waren Lampen angebracht, die wie Rosenblätter geformt waren.
»Wartet kurz hier«, sagte Dolly, nachdem sie die zwei hereingelassen und die Vorhänge zugezogen hatte, damit von draußen niemand hereinsehen konnte. »Ich werde die Schule anrufen und denen mitteilen, dass du heute nicht kommen kannst, weil du krank bist, Alba. Bevor wir aufbrechen, muss ich etwas auftreiben, das Seven anziehen kann. Und was zu essen. Sicher haben Sie Hunger«, fügte sie, an Seven gewandt, in freundlichem Ton hinzu.
Wie auf Bestellung gab sein Magen ein Knurren von sich.
»Das heißt zweifellos Ja«, meinte Dolly und ging zur Tür, wo sie noch einmal stehen blieb und zurückblickte. »Ich hoffe, ich muss euch nicht extra darauf hinweisen«, sagte sie leicht errötend, »aber ich erwarte, dass ihr beide noch vollständig angezogen seid, wenn ich zurückkomme.«
»Dolly!«
Als Dolly Albas entsetzten Gesichtsausdruck sah, lachte sie kurz auf. Dann verließ sie das Zimmer und machte die Tür zu.
Sobald sie allein waren, breitete sich im Raum gespanntes Schweigen aus. Die Luft schien förmlich zu knistern.
Seven setzte sich auf die Bettkante, rieb sich den Nacken und vermied es, Alba anzuschauen. Warum musste er bloß ständig daran denken, wie schön sie heute aussah? Das Haar fiel ihr in dunkelroten Locken bis auf die Schultern, ihr seidenes Schulkleid schmiegte sich eng an ihren Körper.
»Ich bin froh, dass du gekommen bist«, sagte Alba, die es ebenfalls vermied, ihn anzusehen.
Seven räusperte sich. »Na ja, schließlich haben wir ja all diese Sachen über das EH-Projekt zusammen herausgefunden …« Er holte tief Luft, dann stieß er hervor: »Ich … ich hab dein Geschenk bekommen.«
»Ich hoffe, ich bin dir damit nicht zu nahe getreten«, erwiderte sie rasch. »Es war nur, weil du gesagt hast, du hättest keine Zahnbürste, deshalb …«
»So etwas Nettes hat noch niemand für mich getan«, fiel Seven ihr ins Wort.
Lächelnd kam Alba näher und hockte sich ebenfalls auf die Bettkante, so dicht neben ihn, dass er ihre Körperwärme spüren und den blumigen Duft ihrer Haut riechen konnte.
»Dieses Mädchen … ich meine die, bei der du gerade wohnst.« Als ihre Blicke sich begegneten, wurde Alba rot und schaute sofort weg. »Seid ihr zwei, äh … mehr als Freunde?«
»Loe und ich?« Seven schnaubte. »Auf keinen Fall! Selbst dass wir Freunde sind, wäre ziemlich übertrieben. Wir haben einfach miteinander zu tun, weil wir beide DSC-Diebe sind, verstehst du?«
»Wie war das eigentlich?«, fragte Alba nach einer Weile. »So zu leben, meine ich.«
Er zuckte die Achseln. »Beschissen. Obwohl das Stehlen an sich gar nicht mal so übel ist. Macht sogar irgendwie Spaß. Wenn man in Häuser im Norden einbricht, lernt man eine völlig andere Welt kennen.«
»Ich weiß nicht, ob ich noch zu dieser Welt gehören möchte«, flüsterte Alba und rückte näher an ihn heran. Ihre Fingerspitzen schoben sich so dicht an seine heran, dass er sich fragte, ob sie darauf wartete, dass er sie berührte und ihre Hand nahm.
Sie senkte den Blick. »Glaubst du … glaubst du, wir könnten …?«
Mit wild klopfendem Herzen neigte Seven ihr den Kopf zu. »Was?«, krächzte er.
Sie hob den Kopf und sah ihn an, was wie ein Stromschlag auf ihn wirkte.
Ihre Gesichter kamen sich immer näher.
Verdammt noch mal, sie ist wunderschön, dachte Seven. Und wie sie ihn ansah … es fühlte sich an, als würden sie am Anfang von etwas Großem stehen – von etwas Unvorstellbarem.
Er biss sich auf die Lippe und streckte seine zitternde Hand nach ihrer Wange aus.
In dem Moment ging die Tür auf.
»Ich hab die Ersatzuniform von einem der Diener und außerdem … oh!«
Seven und Alba fuhren auseinander, als Dolly ins Zimmer kam. Sie trug ein Tablett mit Brötchen, Marmelade, Butter und einer Tasse Tee. Unter einen Arm hatte sie sich einige Kleidungsstücke geklemmt.
»Oh!«, wiederholte sie und kniff die Augen zusammen.
Alba sprang auf. »Danke!«, sagte sie, strich sich ihr Kleid glatt und eilte zur Tür. »Ich … äh … werde in meinem Zimmer auf euch warten. Holt mich ab, wenn ihr fertig seid.«
Sie war knallrot geworden. Seven merkte, dass auch seine Wangen brannten (obwohl das bei ihm zweifellos nicht so hübsch aussah, da war er sich ziemlich sicher). Er rieb sich den Nacken und vermied es, Dolly anzusehen, die ihn vorwurfsvoll anstarrte.
Als niemand etwas sagte, rief Alba: »Dann bis gleich!« Nachdem sie Seven noch einen Blick zugeworfen hatte, bei dem ihm wieder ganz anders wurde, huschte sie aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu.
Dolly reichte Seven das Tablett mit Essen. »Sie haben doch gesagt, dass Sie Hunger haben.«
»Äh … ja … hab ich.«
»Fragt sich nur, worauf«, murmelte sie, während sie sich abwandte.