Takeshis Quartier lag am Ende von einem der alten U-Bahn-Tunnel und sah aus wie das Innere eines verfallenen Palasts. Jede verfügbare Fläche wurde von glänzenden goldenen Vasen und ramponierten Gemälden eingenommen, während der Fußboden halb unter Teppichen und Seidentüchern verschwand – und das alles vor dem verdreckten Hintergrund des Tunnels mit seinen verrußten, von frei liegenden Kabeln überzogenen Wänden. Von der Decke hingen Ketten, die mit Edelsteinen bestückt waren. Alles war in flackerndes Laternenlicht getaucht und in der Ecke gab ein altes Grammofon knisternd und kratzend Musik von sich. Im hinteren Teil des Raums befand sich ein Podest, auf dem ein mit Samt überzogener Thron stand. Und dort saß, auf dem schwarzen Haar eine Krone, die offenbar aus Rattenknochen bestand …
… Myomato Takeshi höchstpersönlich.
»Willkommen«, sagte Takeshi, als der Mann, der Seven immer noch festhielt, ihn vorwärtsschubste. »Haben meine Jungs dich gut behandelt?«
Außer Takeshi waren ungefähr zehn Gangmitglieder im Raum, die an der Tunnelwand lehnten oder auf dem Boden hockten. Bei Takeshis Worten brachen sie in höhnisches Gelächter aus.
Kola trat neben Seven. »Takeshi, bitte vergiss unsere Abmachung nicht. Seven ist nicht verpflichtet, irgendetwas für dich zu tun.«
Takeshi grinste breit. Er hatte kleine glitzernde Augen. Seine schwarzen Haare reichten ihm bis zu den Schultern. Er trug ein offenes weißes, ärmelloses Hemd und enge schwarze Hosen. Als er sich aufrecht hinsetzte und den Kopf auf die Faust stützte, sah man den roten Totenschädel, der auf einen seiner Arme tätowiert war.
»Aber du wirst mir helfen«, säuselte er, »nicht wahr, Kandidat sieben?«
Sevens Miene verdüsterte sich. »Wie heißt das Zauberwort?«, entfuhr es ihm unwillkürlich.
Takeshi starrte ihn verblüfft an. Dann warf er den Kopf zurück und brach in brüllendes Gelächter aus, in das seine Bakerloo Boys lauthals einstimmten.
»Der gefällt mir!«, meinte Takeshi. »Das ist eine Kämpfernatur – das merke ich. Was gut ist, Jungs, denn schließlich steht uns ein Kampf mit dem Norden bevor.«
»Ein Kampf mit dem Norden?«, schaltete sich Alba ein.
Seven rutschte das Herz in die Hose. Verdammt noch mal! War ihr denn nicht klar, dass sie hier auf keinen Fall Aufmerksamkeit erregen durfte? Er spürte, wie die Jungs sie förmlich mit Blicken verschlangen. Ein Glück, dass sie einen Mantel anhatte.
Takeshi drehte sich ihr mit funkelnden Augen zu. »Oh, was für eine Schönheit. Du hast mir noch ein Geschenk mitgebracht«, sagte er zu Kola. »Zu freundlich von dir.«
Seven stieß einen wütenden Laut aus und trat mit geballten Fäusten auf Takeshi zu. »Denk nicht mal eine Sekunde daran, sie auch nur anzufassen …«
Zwei der Jungs packten ihn. Eine Faust knallte gegen sein Kinn, ein Tritt zwang ihn in die Knie.
»Jungs, Jungs«, beschwichtigte Takeshi sie. »Die sind ein bisschen übereifrig … obwohl ich ihnen das nicht verdenken kann.«
Er stieg von seinem Thron und ging zu Alba hinüber. Als er sich zu ihr beugte, roch Seven seinen Atem, der nach Zigaretten und Alkohol stank. Takeshi strich ihr mit zwei Fingern über die Wange.
Alba erstarrte, wandte den Blick aber nicht ab. Dafür hätte Seven sie am liebsten geküsst (er hätte sie auch aus vielen anderen Gründen gern geküsst. Wenn er es doch bloß getan hätte! War es jetzt zu spät dafür?).
»Wunderschön«, säuselte Takeshi. »So was verdient der Norden gar nicht.«
»Lassen Sie sie in Ruhe.«
Diesmal war es Dolly, die gesprochen hatte. Als Seven sich umdrehte, sah er, wie ihr einer aus der Gang auf den Mund schlug und sie zu Boden stieß.
»Halt die Fresse, du Miststück«, knurrte der Typ.
Lässig grinsend ging Takeshi zu Dolly hinüber und hockte sich neben sie. Er fasste sie beim Kinn und fuhr ihr mit dem Daumen über die Lippen. »Auch sehr hübsch«, murmelte er.
Seven versuchte, sich von den Typen, die ihn festhielten, loszureißen. »Lasst sie in Ruhe.«
Takeshi kniff amüsiert die Augen zusammen. »Und warum sollte ich?«
»Weil ich dir helfen werde«, erwiderte Seven. »Ich werde tun, was du verlangst.«
Lachend ließ Takeshi Dolly los und richtete sich auf. »Hab ich’s doch gewusst. Jungs!«, rief er. »Holt es her!«
Zwei der Bakerloo Boys gingen in die hinterste Ecke des Raums und zogen eine Samtdecke von einem großen Gegenstand, der sich als Erinnerungsmaschine entpuppte. Am Logo erkannte Seven, dass es sich um ein Apple iMemory der sechsten Generation handelte. Im gedämpften Licht des Raums schimmerte es silbrig weiß.
»Du willst, dass ich eine DSC surfe?«, fragte Seven stirnrunzelnd.
»Du kannst doch Erinnerungen verändern, oder? Und genau das will ich von dir.«
Kola trat einen Schritt vor. »Moment mal. Das hat Seven noch nie gemacht. Er weiß gar nicht, wie …«
»Er wird schon rausfinden, wie es funktioniert«, unterbrach Takeshi ihn. »Stimmt’s, Kandidat sieben?«
Seven dachte daran, dass er während des Surfens immer das Gefühl hatte, als könne er sich von den fremden Impulsen, die ihn antrieben, losreißen. Als könne er die Luft der jeweiligen Erinnerung mit Händen greifen und wie Knete modellieren. Bisher hatte er angenommen, dass es beim Surfen jedem so ging, doch jetzt begriff er, dass er sich geirrt hatte. Es lag daran, dass er ein Erinnerungshüter war.
»Ja«, erwiderte Seven.
Obwohl er es noch nie zuvor gemacht hatte, wusste er, dass er es versuchen musste. Wenn er wollte, dass Alba und Dolly nichts zustieß, blieb ihm gar nichts anderes übrig.