Alba 70

Nachdem man ihnen die Augen verbunden hatte, führte eine Gruppe von Takeshis Jungs sie durch die unterirdischen Tunnel. Einen Teil der Strecke legten sie in einem alten U-Bahn-Wagen zurück, der so schnell fuhr, dass er in den Kurven gewaltig ins Schaukeln geriet. Als die Fahrt zu Ende war, mussten sie eine steile Treppe hochsteigen und kurz darauf spürte Alba einen kalten Luftzug und Regentropfen klatschten ihr ins Gesicht. Sie wurden in ein Auto verfrachtet, und erst nachdem sie zehn Minuten unterwegs gewesen waren, nahm Kola ihnen die Augenbinden ab.

»Wo fahren wir hin?«, fragte Dolly sofort.

Alba saß in der Mitte, Dolly rechts von ihr. Als das Auto scharf um eine Ecke bog, prallten ihre Schultern aneinander.

»Zur Kensington High Street. Hier.« Kola reichte Dolly ein Tablet. »Damit können Sie ein Taxi rufen, das Sie nach Hause bringt.«

Während Dolly sich mit dem Tablet befasste, drehte Alba sich nach links und schmiegte sich an Seven. »Hey«, sagte sie leise. »Bist du okay?«

Seven starrte, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, aus dem Autofenster. Alba strich ihm über den Handrücken.

Er zuckte zusammen und zog seine Hand weg. »Mir geht’s bestens.«

»Was war denn auf dieser DSC? Wieso bist du so bedrückt?«

»Hör auf zu fragen, ja?«

Alba rückte von Seven ab. Sie hatte keine Ahnung, was Seven in dieser Erinnerung erlebt hatte, aber das Ganze schien ihn total erschüttert zu haben. Selbst als Takeshi ihm auf den Rücken geklopft, ihm seine Dienstbotenmütze wieder aufgesetzt und verkündet hatte, was für gute Arbeit Kandidat sieben geleistet habe, hatte Seven todunglücklich ausgesehen.

Er hatte ausgesehen, als habe er versagt, fand Alba. Aber sie wusste nicht, wieso.

»Gleich sind wir da«, sagte Kola, der ihnen auf einem Klappsitz gegenübersaß. »Wenn ihr Fragen habt, dann legt los.«

Alba drehte sich zu Seven, der gar nicht zuzuhören schien, sondern immer noch so teilnahmslos aus dem Fenster starrte, dass Alba ganz beklommen zumute wurde.

»Du machst das alles doch sicher nicht allein«, wandte sie sich an Kola. »Mit wem arbeitest du zusammen?«

»Mit einer Gruppe von Leuten, die das EH-Projekt unterbinden wollen«, erwiderte er. »Unsere Bewegung heißt Freie Erinnerung. Die Gruppe wurde von Harold Merriweather und anderen ins Leben gerufen, die an dem EH-Projekt beteiligt waren. Dass wir Insider in unserer Gruppe haben, war eine große Hilfe für uns. Auf diese Weise haben wir im Laufe der Jahre so viele Informationen und Beweise gesammelt, dass wir jetzt gegen die Verantwortlichen vorgehen können.«

»Und wie wollen Sie das anstellen?«, erkundigte sich Dolly.

»Indem wir die Sache an die Öffentlichkeit bringen. An diesem Wochenende findet ein Event statt, an dem alle nationalen und internationalen Führungskräfte teilnehmen werden. Unsere Bewegung wird diese Gelegenheit nutzen, um die Wahrheit über das EH-Projekt zu enthüllen. Gleichzeitig werden wir die Ergebnisse unserer Nachforschungen ins Internet stellen. Und außerdem können wir jetzt ja einen Erinnerungshüter vorweisen.«

Dolly beugte sich vor. »Moment mal. Meinen Sie mit Event etwa den Winterball?«

Kola nickte.

»Nein«, sagte Dolly voller Entschiedenheit und schüttelte den Kopf. »Nein. An dem Ball nimmt auch Alba teil. Das ist zu gefährlich. Ich werde nicht zulassen, dass sie noch weiter in diese Sache verwickelt wird.« Ihre Augen blitzten entschlossen auf. »Wie will sich die Bewegung den Ball denn zunutze machen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Polizei, der Premierminister und Albas Vater – ganz zu schweigen von ihren Leibwächtern und den Securityleuten – ruhig zuhören werden, wenn Sie Ihre Geheimnisse ausposaunen.«

Kola strich sich mit der Hand über die Hose. »Wir haben auch Securityleute. Die werden die anderen in Schach halten.«

Dolly schnaubte entrüstet. »Takeshi und seine Bakerloo Boys? Ihnen ist doch wohl klar, dass die …« Sie verstummte abrupt und warf einen besorgten Blick in Albas Richtung. »Die haben uns nur gehen lassen, weil Seven diese Erinnerung verändert hat. Ich weiß nicht, was für eine Abmachung die Bewegung mit Takeshi getroffen hat, um sich seine Hilfe zu sichern, aber Sie können davon ausgehen, dass er diese Abmachung nicht einhalten wird.«

»Dann gehen Sie doch einfach nicht auf den Ball, wenn Sie Angst haben«, entgegnete Kola.

Alba gab ein bitteres Lachen von sich. »Also ich werde auf jeden Fall hingehen, weil ich nämlich viel mehr Angst vor meiner Mutter hätte, wenn ich es nicht täte.«

Aus irgendeinem Grund drehte Seven sich bei diesen Worten ruckartig zu ihr und sah sie an – sah sie zum ersten Mal, seit er für Takeshi die Erinnerungen gesurft hatte, richtig an. Sein Blick hatte etwas Beunruhigendes.

»Seven?«, flüsterte Alba.

Wortlos griff er nach ihrer Hand und strich ihr mit dem Daumen über den Handrücken.

»Ich werde es tun«, sagte er, ohne den Blick von ihr zu wenden.

»Was denn?«, fragte Alba, die von der Art, wie er sie ansah, etwas verwirrt war.

Seven wandte sich Kola zu. »Ich werde euch helfen. Ich werde euer lebender Beweis sein, damit diese Dreckskerle ins Gefängnis kommen und aufhören, Erinnerungen zu verfälschen.«

In dem Moment hielt das Auto an. Der Fahrer – Alba nahm an, dass er ebenfalls zur Bewegung gehörte – drehte sich um und flüsterte Kola etwas ins Ohr.

Kola nickte. Seine Augen leuchteten auf eine Weise, wie Alba es noch nie gesehen hatte.

»Du willst uns also helfen?«, fragte er Seven. »Das ist dein voller Ernst?«

Seven nickte. »Ich möchte, dass nie wieder jemand imstande ist, Erinnerungen zu verändern.«

Kola lehnte sich merklich erleichtert auf seinem Sitz zurück. »Da hast du die richtige Entscheidung getroffen. Echt, Mann.« Er griff in die Tasche und holte ein kleines Tablet heraus, das er Seven gab. »Das solltest du nur in Notfällen benutzen. Ich würde dir raten, von jetzt an bei Alba und Dolly zu bleiben – in Alastair Whites Haus werden sie ganz bestimmt nicht nach dir suchen. Wenn ich vorher nichts von dir höre, treffen wir uns am Abend vor dem Ball. Dann erkläre ich dir in allen Einzelheiten, was wir vorhaben. Bis dahin sieh zu, dass du nicht in Schwierigkeiten gerätst.«

Seven zog die Augenbrauen hoch und diesmal wusste Alba genau, was er gerade dachte.

Da stehen die Chancen aber verdammt schlecht.