Alba 72

Dolly drehte Albas Haare zu Locken, die sie im Nacken mit blattförmigen goldenen Nadeln, in die jeweils ein Kristall eingearbeitet war, feststeckte. Während ihre Zofe sich mit ihrem Haar befasste, saß Alba schweigend da. Sie wusste einfach nicht, was sie zu allem, das sie heute erfahren hatte, sagen sollte. Zu dem, was geschehen war. Das Ganze war so überwältigend, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie überhaupt anfangen sollte.

Als Alba fünf gewesen war, hatte Dolly ihr auf dem Sommerjahrmarkt in Hampstead Heath einen dieser riesigen runden Bonbons gekauft, an dem Alba fast erstickt war. Und genau dieses Gefühl hatte sie auch jetzt – als blockiere irgendein großer Kloß ihre Kehle.

Nach einer Weile trat Dolly einen Schritt zurück. »So, fertig.«

Alba warf einen Blick in den Spiegel.

Es war, als betrachte sie ein Gemälde. Ihre glatte Haut, das pinkfarbene Rouge auf ihren Wangen, ihre kunstvoll gezwirbelten Haare … das alles wirkte so unecht. Es kam ihr völlig daneben vor, sich zum Abendessen mit ihren Eltern zurechtmachen zu lassen, wo sie doch noch vor ein paar Stunden lädiert und verschmutzt tief unter der Erde gewesen war. Alba hatte sich in teuren Kleidern und mit Schmuck behangen nie wohlgefühlt, aber jetzt war es noch schlimmer. Jetzt empfand sie ihr ganzes Leben im Norden als Lüge.

»Deine Eltern scheinen nicht zu wissen, dass du heute nicht zur Schule gegangen bist«, sagte Dolly, während sie Alba auf die Schulter tippte. »Wenn sie Fragen stellen, dann tu einfach so, als wärst du in der Schule gewesen.«

Alba zog eine Augenbraue hoch. »Schade, dabei habe mich schon so darauf gefreut, ihnen von Takeshis Bakerloo Boys und Dr. Merriweather zu erzählen.«

Als sie Merriweathers Namen sagte, brach ihr die Stimme. Sie sah sein geisterhaft blasses Gesicht wieder vor sich, seinen glasigen Blick.

Er war vor ihren Augen gestorben.

Alba schluchzte auf. Sofort hockte Dolly sich neben sie und drehte sie zu sich.

»Du schaffst das, Alba«, sagte sie. »Du brauchst keine Angst vor ihnen zu haben.«

Das war zwar nicht das, woran Alba gerade gedacht hatte, doch diese Anspielung auf ihre Eltern ließ sie innerlich hart werden.

Ob Mutter wohl weiß, was Vater getan hat?, überlegte sie. Ob sie weiß, dass sie jede Nacht mit einem Mörder zu Bett geht?

Sie stellte sich ihren selbstgefälligen Vater vor, dessen kalte schwarze Augen all die Toten, für die er verantwortlich war, heraufzubeschwören schienen. Wenn Seven nicht gerettet worden wäre, hätte ihr Vater dann auch ihn gezwungen, Erinnerung um Erinnerung zu verändern, bis sein Gehirn ausgeblutet wäre?

Alba biss sich auf die Lippe, um nicht in Tränen auszubrechen. Die Vorstellung, sie hätte Seven nie kennengelernt, hätte nie erfahren, dass es ihn irgendwo da draußen gab, rief einen geradezu körperlichen Schmerz in ihr hervor.

Sein Grinsen fiel ihr wieder ein, seine grauen Augen, in denen immer irgendein Scherz zu lauern schien. Sie dachte an den Minzgeruch seines Atems und seiner Haut. Und daran, wie er an jenem Vormittag in Dollys Zimmer die Hand nach ihr ausgestreckt und sich zu ihr gebeugt hatte, wie ihre Gesichter sich immer näher gekommen waren.

Jedes Mal, wenn Alba an Seven dachte, dachte sie an ein Leben, wie sie es sich nie gewünscht oder vorgestellt hatte, das ihr jetzt jedoch wie das Kostbarste auf der Welt vorkam.

Fühlte es sich so an, verliebt zu sein?

»Bist du bereit?«, fragte Dolly und holte Alba in die Gegenwart zurück.

Alba nahm ihren gesamten Mut zusammen und stand auf. Nachdem sie ihr Kleid glatt gestrichen hatte, straffte sie die Schultern und holte tief Luft.

»Ja«, sagte sie.

Und das entsprach der Wahrheit. Sie war nicht nur bereit, zum Abendessen zu gehen und ihren Eltern entgegenzutreten.

Sie war bereit, sich der ganzen Welt zu stellen.