Alba 78

»Irgendwann wirst du mit mir reden müssen, Alba.«

»Erzähl mir, was passiert ist. Erklär mir, wie dieser Dieb in unser Haus gekommen ist. Du kannst von Glück sagen, dass dein Vater dich ungeschoren davonkommen lässt, sonst würdest du jetzt nämlich auch in einer Verhörzelle der Polizei sitzen.«

»Herrgott noch mal, Alba. Willst du mich für den Rest deines Lebens ignorieren?«

Alba hielt die Augen fest geschlossen. Sie befürchtete, dass sie anfangen würde zu weinen, falls sie sie öffnete und ihre Mutter erblickte und sah, dass Dolly und Seven nicht mehr da waren.

Doch sie war fest entschlossen, nicht vor ihrer Mutter in Tränen auszubrechen.

Oxana redete schon seit geraumer Zeit auf sie ein. Alba hatte den Eindruck, dass ihre Mutter inzwischen eher erschöpft und resigniert als wütend klang. Und in ihrer Stimme schien sogar eine Spur von Angst mitzuschwingen, obwohl Alba das kaum zu glauben wagte. Wovor fürchtete sich ihre Mutter? Dass der gesamte Norden herausfand, dass ihre Tochter sich mit einem Kriminellen aus dem Süden eingelassen hatte? Dass das Heiratsarrangement mit Thierrys Familie platzte?

»Ich werde jetzt einen Anruf machen. Wenn ich zurückkomme, wirst du mit mir reden. Und versuch gar nicht erst zu fliehen – das Haus wird von der Polizei bewacht.«

Alba hörte, wie ihre Mutter mit klackenden Absätzen über die Dielen ging. Nachdem die Tür sich knarrend geöffnet hatte, waren von draußen Stimmen zu hören – ihre Mutter und die Polizisten tauschten Höflichkeitsfloskeln aus. Dann knallte Oxana die Tür hinter sich zu.

Jetzt machte Alba die Augen auf.

Ihre Mutter war wirklich eine ganze Weile bei ihr gewesen, denn draußen ging gerade die Sonne auf. Die Vorhänge waren nur halb zugezogen, sodass das blasse orangefarbene Licht eines Wintermorgens ins Zimmer fiel. Aus der Ferne erklang Vogelgezwitscher. Gelegentlich ertönte ein Husten, ab und zu sagte jemand etwas, ansonsten war im Haus alles ruhig.

Alba rieb sich über die immer noch brennende Stelle an der Seite, wo sie von der Betäubungswaffe getroffen worden war. Als sie ihren Pullover hochzog, sah sie dort einen blauen Fleck.

Mit leicht wackligen Beinen – der Effekt der Betäubung hatte noch nicht ganz nachgelassen – stand sie aus dem Bett auf und ging zum Fenster hinüber. Als sie draußen auf dem Rasen all die Männer in roten Uniformjacken sah, wurde ihr ganz flau im Magen. Die Polizei hielt also tatsächlich Wache. Sie hatte nicht die geringste Chance zu entkommen.

Das war’s dann wohl, dachte Alba. Sie saß in der Falle. Seven und Dolly waren verschwunden und sie konnte nichts dagegen tun.

Eine Sekunde lang schien alles hoffnungslos, doch dann fiel ihr plötzlich etwas ein …

Das Tablet, das Kola ihnen gegeben hatte.

Das solltest du nur in Notfällen benutzen.

Aufgeregt rannte Alba zum Bett, hob die Matratze an und holte das Tablet heraus, das sie darunter versteckt hatte. Sie berührte den Touchscreen. Auf dem schwarzen Bildschirm leuchtete ein einzelnes Wort auf: ANRUF. Darunter waren ein Kreuz und ein Häkchen zu sehen.

In der Hoffnung, das Richtige zu machen, tippte Alba auf das Häkchen.

Eine Zeit lang passierte gar nichts. Dann erklang Kolas Stimme, leise und deutlich.

»Seven?«

»Kola! Gott sei Dank! Hier ist Alba.« Sie beugte sich über das Bett und wickelte einen Teil der Decke um den Apparat, um den Ton zu dämpfen. »Das ist ein Notfall«, flüsterte sie. »Wir brauchen deine Hilfe.«

»Was ist passiert?«, fragte er.

»Die Polizei hat Seven geschnappt. Dolly auch. Ich weiß nicht, wo sie sie hingebracht haben.«

»Ich schon«, erwiderte Kola. »Komisch, dass Nihail noch nichts gesagt hat. Er arbeitet doch bei der Verhörabteilung. Offenbar hat er viel zu tun.«

Alba geriet in Panik.

»Heißt das, dass er gerade Seven und Dolly verhört?«

»Er wird ihnen nichts tun«, versicherte Kola ihr. »Jedenfalls nichts, was bleibende Schäden hervorrufen könnte. Um der eigenen Sicherheit willen muss er den Schein wahren. Aber wir werden Seven da rausholen, Alba. Wir werden ihm helfen.«

»Und Dolly«, hakte sie nach.

»Die holen wir auch raus. Aber wir werden bis zum Abend des Winterballs warten müssen. Wenn wir uns zu früh zeigen, ist unser Plan hinfällig.«

Alba stieß einen erstickten Schrei aus. Sie war so wütend, dass sie überhaupt nicht mehr an die Polizisten vor ihrer Tür dachte. Sie stellte sich vor, wie Seven und Dolly in ihren Zellen gequält wurden, weder Essen noch Wasser hatten … während sie die ganze Zeit wie eine verwöhnte Prinzessin in ihrem Zimmer saß.

»Aber das ist erst in vier Tagen! Bis dahin könnten sie tot sein.« Alba versagte die Stimme. Sie drückte die Augen fest zusammen, weil sie spürte, dass wieder Tränen in ihr aufstiegen. »Bitte, Kola«, flüsterte sie.

»Tut mir leid, Alba. Früher können wir nichts unternehmen. Die Polizei wird Seven nicht töten, weil man ihn braucht. Zu viele der Kandidaten sterben an Hirnblutungen. Sie brauchen ihn lebendig.«

Alba holte tief Luft. »Seven ist doch kein Spielzeug, das man einfach so benutzt. Er hat was Besseres verdient. Dass du ihn zu Takeshi gebracht hast, war falsch. Du bist genauso schlimm wie die. Du hast ihn gezwungen, Erinnerungen zu verändern, nur weil das für deinen Plan nötig war.«

»Wir hatten keine andere Möglichkeit«, entgegnete Kola nach einer langen Pause. »Wir können nicht zulassen, dass die Polizei weiterhin Hunderte von Unschuldigen ermordet. Diese Macht – die Macht, Erinnerungen zu manipulieren – ist so gefährlich, dass es sie einfach nicht geben darf.«

Alba brauchte eine Weile, bis sie den Sinn seiner Worte begriff. Ihr stockte der Atem.

Wenn es diese Macht nicht geben durfte, was hatte die Bewegung dann mit Seven vor?

»Kola?«, fragte sie mit zitternder Stimme. »Was wollt ihr mit Seven machen, wenn ihr euer Ziel erreicht habt? Was passiert mit den restlichen Kandidaten?«

Doch bevor er antworten konnte, hörte Alba Schritte, die sich ihrer Tür näherten. Sie schaffte es gerade noch, das Tablet unter die Decke zu stopfen, bevor ihre Mutter hereinkam.

»Bist du jetzt bereit, mit mir zu reden?«, erkundigte sich Oxana, die eine Hand in die Hüfte gestemmt hatte. Ihre langen blonden Haare schimmerten im Licht der aufgehenden Sonne. Sie trug eine Schlaghose aus Seide und einen gestreiften Pullover. Wie immer sah sie makellos aus.

Alba stand auf. »Ja, Mutter«, erwiderte sie. »Aber dir wird nicht gefallen, was ich zu sagen habe.« Die Worte sprudelten nur so aus ihr hervor. »Ich werde Thierry nicht heiraten und ich werde Dolly und Seven zurückholen. Danach werde ich für immer von hier fortgehen und es gibt nichts, was ihr dagegen tun könntet.«

In den Augen ihrer Mutter blitzte kurz ein überraschter Ausdruck auf. Dann wurde ihr Blick wieder eisig.

»Du wirst Thierry heiraten, Alba.«

»Nein, werde ich nicht.«

»Weil du diesen Seven heiraten willst?«

»Ja.« Sofort wurde Alba knallrot. »Na ja«, fügte sie hinzu. »Vielleicht. Das … das weiß ich noch nicht. Aber was ich weiß, ist, dass ich mir selbst aussuchen möchte, wen ich heirate. Und dass ich keine von diesen Ehefrauen der High Society werden möchte. Ich möchte reisen, auf die Universität gehen, Dinge lernen … ich möchte die Welt erkunden.«

Sie erinnerte sich, wie es gewesen war, als sie zum ersten Mal Erinnerungen gesurft hatte – wie sie in den Wasserfall gesprungen war, wie die Sonne ihren nackten Körper beschienen und das kühle Wasser sie umspielt hatte. Wie frei sie sich gefühlt hatte. Dann dachte sie daran, wie sie Seven geküsst hatte, dachte an sein schiefes, unbeholfenes, wunderschönes Lächeln und hielt auf einmal alles für möglich.

»Ich will frei sein.«

Oxana starrte sie an. Dann trat ein weicher Ausdruck in ihre Augen. Sie hob die Hand und streckte sie nach Alba aus, die jedoch zurückwich.

Über das Gesicht ihrer Mutter legte sich ein Schatten. »Das ist nichts, was wir uns einfach so aussuchen können«, sagte sie mit einer Stimme, die irgendwie verzagt klang. »Manchmal treffen andere diese Wahl für uns. Dein Vater und ich bieten dir ein gesichertes Leben an, mein Liebling. Findest du das nicht besser, als frei zu sein?«

»Nein«, antwortete Alba, ohne zu zögern.

Ihre Mutter wandte den Blick ab. »Eines Tages wirst du anderer Ansicht sein«, sagte sie leise und ging.

Nachdem die Tür hinter ihr zugefallen war, starrte Alba auf die Stelle, wo ihre Mutter gestanden hatte. Auf einmal empfand sie etwas für sie, das sie noch nie zuvor für sie empfunden hatte.

Mitleid.

Sie tat ihr leid, weil sie sich einfach nicht vorstellen konnte, was geschehen war, um sie in einen derart kalten Menschen zu verwandeln – in jemand, der ein gesichertes, freudloses Leben für besser hielt als ein ungesichertes, aber freies.

Für Alba war klar, wofür sie sich entscheiden würde. Sie würde keine Lüge leben, würde nicht jeden Tag gegen ihr eigenes Herz ankämpfen. Das wäre, als würde ihr eigenes Ich zum Gespenst werden. Und sie war lange genug unsichtbar gewesen.