SEVEN 81

Nach zwei Tagen in der Zelle hatte Seven vergessen, wie frische Luft sich anfühlte. Wie ein blauer Himmel aussah. Wie es roch, wenn Regen in der Luft lag.

Früher hatte Seven in den Nächten, in denen er nicht auf Diebestour war, immer auf dem Dach seines Wohnhauses gelegen und zum Himmel hinaufgeblickt, um sich alle Sternbilder einzuprägen. Er hatte sich vorgestellt, diese Sternbilder stellten die geheime Botschaft irgendeines Gottes dar, in einer Sprache, die auf der Erde niemand verstand.

Jetzt würde er die Botschaft nie entschlüsseln. Nicht einmal den nächtlichen Himmel würde er je wiedersehen.

Seven sehnte sich nach Dunkelheit. Die Zelle war immer hell erleuchtet. Manchmal kamen, wenn er gerade eingeschlafen war, aus versteckten Lautsprechern donnernde Geräusche, sodass er hochschreckte und sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Trotzdem war es noch schlimmer, wenn sie ihn schlafen ließen. Wenn er dann erwachte, war alles wieder so wie am Anfang, als er zum ersten Mal die Augen geöffnet und die grauen Wände gesehen und gewusst hatte, dass diesmal …

Dass diesmal endgültig alles vorbei war.

Nach zwei Tagen hörte er auf zu zählen, wie oft er schon verhört worden war. Meistens war es Nihail, der ihn befragte, manchmal schickten sie jedoch jemand anders. Wenn die Tür aufging und ein fremdes Gesicht auftauchte, fuhr Seven immer vor Schreck zusammen. Sie taten ihm nie wirklich weh, weil er ihre Fragen bereitwillig beantwortete, doch wenn ihn jemand anders als Nihail verhörte, war seine Angst besonders groß.

Bisher hatten sie ihn nur zu seinem Leben als DSC-Dieb befragt. Am dritten Tag jedoch …

»Haben Sie schon einmal vom EH-Projekt gehört?«, fragte der Mann, der ihn verhörte, ein Chinese mit stechendem Blick, der Lin hieß. Seine schwarzen Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden, der über den Rücken seines tadellosen Anzugs fiel. Er saß Seven auf einem Stuhl gegenüber und hatte einen Arm über die Knie gelegt.

Bei dieser Frage begann Sevens Herz, so schnell zu schlagen, dass das Tablet in Lins Tasche Pieptöne von sich gab.

Lin zog eine Augenbraue hoch und lächelte freundlich. »Ich nehme an, das heißt Ja. Wissen Sie vielleicht auch, was diese Abkürzung bedeutet?«

»Ja.«

»Nämlich?«

»Erinnerungshüter-Projekt«, erwiderte Seven mit finsterer Miene. »Wenn man bedenkt, was ihr Dreckskerle damit macht, wäre es wohl zutreffender, von Erinnerungsmanipulatoren-Projekt zu sprechen.«

»Wissen Sie, warum wir Sie als Kandidaten bezeichnen?«, wechselte Lin das Thema.

»Ja.«

»Woher?«

Seven sah ihn wütend an. »Sie haben doch die DSC, oder? Schließlich haben Sie alle DSCs aus meiner Wohnung mitgenommen. Dann wissen Sie ja, was ich gesehen habe.«

Ein unergründlicher Ausdruck huschte über Lins Gesicht. »Welche DSC?«

»Erzählen Sie mir bloß nicht, Sie hätten nicht längst alle überprüft.« Seven sah Lin forschend an. Und entdeckte etwas in seinen Augen, womit er nicht gerechnet hatte.

Angst.

Lin lehnte sich zurück. »Wessen Erinnerung meinen Sie denn, Kandidat sieben?«

»Die von Alastair White.«

Lin riss erstaunt die Augen auf. Er erhob sich und ging zur Tür. »Einen Moment.«

Sobald er verschwunden war, überschlugen sich in Sevens Kopf die Gedanken.

Er ist tatsächlich beunruhigt, dachte er. Sie wissen nichts von Whites DSC. Sie haben sie nicht in meiner Sammlung gefunden.

Wer hat sie versteckt? Kola? Nihail?

Er atmete scharf ein.

Seven wusste, dass die Bewegung ihn als lebenden Beweis für die EH-Experimente brauchte. Er wusste, dass sie ihn auf dem Winterball präsentieren wollten. Und er wusste auch, dass das jetzt, da die Polizei ihn geschnappt hatte, wohl kaum machbar war. Aber diese DSC reichte aus. Zusammen mit den Informationen, die sie gesammelt hatten, würde dieses Beweisstück zumindest aufdecken, in welche Machenschaften White, der Premierminister und die Polizei verwickelt waren.

Als Seven das begriff, zitterte er vor Aufregung.

Es dauerte lange, bis Lin zurückkam. Als er vor Seven Platz nahm, wirkte er wieder ganz ruhig, obwohl in seinen Augen ein leichtes Unbehagen flackerte.

»Wer hat diese Erinnerung sonst noch gesehen?«, fragte Lin.

»Niemand.«

»Wem haben Sie erzählt, was diese DSC enthält?«

»Niemandem.«

Die Lüge ging ihm so leicht über die Lippen, dass der Detektor nicht reagierte, denn zum ersten Mal, seit er hier war, hatte Seven wieder Hoffnung.

Die Bewegung hatte die DSC von Albas Vater und bald würde die ganze Welt wissen, was für ein Geheimnis sie barg.