SEVEN 85

Wieder einmal ging die Zellentür auf. In dem dauerhaft erleuchteten Raum hatte Seven inzwischen jedes Zeitgefühl verloren. War es bereits Abend? Hatte der Ball schon begonnen? Lin kam mit einem Tablett voll Essen herein, das so gut roch, dass Seven das Wasser im Mund zusammenlief. Bisher hatte er nur abgestandenes Wasser und trockenes Brot bekommen, das man ihm in den Mund gestopft hatte, weil seine Hände gefesselt waren.

»Das Abendessen«, verkündete Lin lächelnd. Er stellte das Tablett auf den zweiten Stuhl und trat hinter Seven. Mit einem Klicken öffneten sich die Handschellen.

Sofort verschränkte Seven die Hände, die mit geronnenem Blut bedeckt waren. Dann bewegte er sie hin und her, um die Verkrampfung in den Handgelenken und den Armen loszuwerden.

»Hier.« Lin reichte ihm den Teller mit Essen. »Ein kleines Dankeschön, weil Sie bisher mit uns kooperiert haben.«

Seven stieß ein Schnauben aus. »Sie wollen mich wohl zum Dank vergiften, was? Darauf kann ich verzichten.«

»Das Essen ist nicht vergiftet.«

»Ich will’s aber trotzdem nicht.«

In dem Moment knurrte ihm laut und vernehmlich der Magen.

Lin grinste breit. »Sind Sie da sicher?« Er setzte sich auf seinen Stuhl und legte die Hände auf die Knie. »Wir sind nicht herzlos, Kandidat sieben. Wir wissen Loyalität zu schätzen.«

»Ich bin Ihnen gegenüber nicht loyal«, fuhr Seven ihn an.

»Nun, das wird sich hoffentlich ändern. Und jetzt essen Sie bitte. Für das, worum ich Sie bitten möchte, brauchen Sie Kraft.«

Seven spielte kurz mit dem Gedanken, Lin das Essen ins Gesicht zu klatschen. Andererseits sollte das Tier nicht umsonst für diese Mahlzeit gestorben sein, also fiel er im nächsten Moment über die zarten Roastbeefscheiben, die Rosmarinkartoffeln, die mit Knoblauch angemachten Bohnen und die gebratenen Zwiebeln her. Das Fett tropfte ihm von den Fingern, denn natürlich hatte man ihm kein Besteck gegeben. Diese Leute wussten schließlich, was man alles mit einem Zahnstocher anstellen konnte. Da durfte er auf keinen Fall etwas so Gefährliches wie einen Löffel zwischen die Finger bekommen …

Als er aufgegessen hatte, fragte Lin lächelnd: »Gut, was?«

Seven leckte sich über die Lippen. Das Beste, was ich in meinem ganzen gottverdammten Leben gegessen habe, dachte er bei sich.

Er zuckte die Achseln. »Hätte mehr Salz vertragen können.«

Lin lachte. »Tja, Kandidat sieben.« Er stand auf und strich seinen eleganten grauen Anzug glatt. »Jetzt, wo Sie wieder bei Kräften sind, habe ich eine kleine Aufgabe für Sie.«

Er nahm den leeren Teller an sich und stellte ihn auf seinen Stuhl. Nachdem er etwas aus seiner Anzugtasche geholt hatte, hockte er sich neben Seven und schnitt die Plastikschnur durch, mit der seine Beine gefesselt waren. Anschließend ging er zur Tür und blickte ihn erwartungsvoll an.

Doch Seven blieb sitzen. »Verdammt«, sagte er und gähnte theatralisch. »Bin noch zu kaputt. Ich glaube, ich brauche mindestens noch zwei Portionen, bevor ich irgendwo hingehen kann.«

Lin musterte ihn mit kaltem Blick. »Kommen Sie mit, Kandidat sieben. Wenn alles erledigt ist, bekommen Sie wieder etwas zu essen.«

»Wenn was erledigt ist?«

»Kommen Sie mit, dann werden Sie’s erfahren.«

Da Seven wusste, dass er keine andere Wahl hatte, stand er auf. Unsicher bewegte er sich vorwärts, denn seine Fußgelenke waren geschwollen und voll blauer Flecken, außerdem tat es weh, nach so langer Zeit wieder die Beine zu strecken. Lin führte ihn den Korridor entlang. Er verzichtete darauf, Seven Handschellen anzulegen oder ihn am Genick zu packen, wie Nihail es getan hatte, doch als Seven einen Blick über die Schulter warf, sah er, dass ihnen ein stämmiger Polizist folgte.

Der Korridor mündete in eine Halle. Auf der einen Seite befand sich eine Reihe von Fahrstühlen, auf der anderen ein Tresen, hinter dem zwei Securityleute saßen. Lin ging zu den Fahrstühlen hinüber und drückte auf einen Knopf.

»Da Sie alles über das EH-Projekt wissen«, sagte er, »einschließlich der Tatsache, dass Sie selbst ein Erinnerungshüter sind, dachten wir, dass Sie Ihre Fähigkeit endlich mal ausprobieren sollten.«

Seven erstarrte. Er dachte an die DSC, die er für Takeshi hatte verändern müssen, dachte an den penetranten männlichen Schweißgeruch, an Oxanas zerrissene Kleidung, an das metallene Geräusch, als Takeshi sich den Gürtel aufgeschnallt hatte …

Früher hatte Seven das Surfen von Erinnerungen geliebt. Jetzt wollte er nie wieder in die Gedanken eines anderen eintauchen.

Als der Fahrstuhl kam, traten Lin, Seven und der Polizist, der ihnen gefolgt war, in die Kabine und die Tür schloss sich.

Dann ging alles so schnell, dass Seven völlig überrumpelt war.

Als der Fahrstuhl sich in Bewegung setzte, stürzte sich der Polizist auf Lin, schlang ihm einen Arm um den Hals und stach ihm etwas in den Nacken. Mit einem erstickten Schrei sackte der Chinese zusammen. Der Polizist ließ ihn los und beförderte ihn mit einem Tritt in den hinteren Teil der Kabine.

»Ich bin Axel«, teilte der Mann Seven mit ausdrucksloser Miene mit. »Willkommen in der Bewegung, Kandidat sieben.«

»Äh … hallo.«

Axel drückte auf den Knopf für ein anderes Stockwerk. Er hockte sich neben Lin und nahm ihm sein Tablet und eine kleine Karte ab, von der Seven annahm, dass sie dafür da war, die Türen im Gebäude zu öffnen. Dann knebelte er ihn.

»Wo … wo gehen wir denn hin?«, stammelte Seven verwirrt.

Axel grinste. »Na, zum Ball natürlich. Die anderen erwarten uns im Parkhaus. Wir müssen uns beeilen, bevor jemand Alarm schlägt.« Er griff in Lins Sakko, holte eine Pistole heraus und hielt sie Seven hin. »Hast du so was schon mal benutzt?«

Seven schüttelte den Kopf. Mit zitternden Händen nahm er die kalte schwere Waffe an sich.

Axel erklärte ihm, wie man mit der Pistole umging. Als er fertig war, machte der Fahrstuhl halt. Bevor die Tür ganz aufgegangen war, drückte Seven auf den Knopf, der den Schließmechanismus auslöste. Anschließend tippte er auf den Knopf für das Stockwerk, aus dem sie gekommen waren. Der Fahrstuhl setzte sich wieder nach oben in Bewegung.

Axel runzelte die Stirn. »Was zum Teufel soll das?«

»Ich kann meine Freunde nicht hier zurücklassen«, erwiderte Seven.

Axel presste die Lippen aufeinander. »Aber sicher kannst du das.«

Axel trat auf die Bedienungstafel zu, doch Seven versperrte ihm mit entschlossener Miene den Weg.

»Ich werde sie nicht im Stich lassen. Nach allem, was ich für euch getan habe, könntest du mir jetzt wenigstens helfen, sie zu befreien.«

»Das ist zu gefährlich. Bald wird man im ganzen Gebäude wissen, was passiert ist.«

»Das ist mir egal!«, schrie Seven. »Wenn ich es nicht versuche, werde ich mir ewig Vorwürfe machen.«

Jetzt waren sie noch drei Stockwerke von ihrem Ziel entfernt.

Axel starrte ihn zornig an. Seven starrte ebenso zurück.

Noch zwei Stockwerke.

Noch eins.

»Ach, verdammte Scheiße noch mal.«

Damit packte ihn Axel am Nacken und schubste ihn vor die Tür. »Der Dreckskerl hat Lin angegriffen!«, schrie er den Securityleuten hinter dem Tresen zu, als die Tür aufging. Er stieß Seven aus der Kabine. »Ich sperr ihn wieder ein. Werd ihm beibringen, dass er einen großen Fehler gemacht hat.«

Die beiden Securityleute sprangen auf. Als sie zur Kabine rannten, um sich um den bewusstlosen Lin zu kümmern, drehte Axel sich zurück, zog eine Pistole aus seinem Halfter und schoss ihnen in den Hinterkopf.

Seven riss entsetzt den Mund auf, doch Axel packte ihn beim Arm und führte ihn rasch zu dem Korridor mit den Zellen.

»Wo sind sie?«, knurrte Axel.

»W…wer?«

»Deine Freunde! In welchen Zellen sind sie?«

Seven schluckte. »Wo Dolly ist, weiß ich nicht. Aber Loe ist in der Zelle am Ende des Gangs.«

»Ist das die, die dich an die Polizei verraten hat?« Axel warf ihm einen scharfen Blick zu. »Hältst du die immer noch für deine Freundin?«

Seven nickte, ohne zu zögern.

In den letzten drei Tagen hatte er reichlich Zeit gehabt, über das, was Loe getan hatte, nachzudenken. Ja, er verstand ihr Verhalten. Er wusste, wie verzweifelt sie gewesen war. Sie hatte ihn geopfert, um Mika zu schützen. Genau dasselbe hätte Seven für Alba getan, denn das machte man doch, wenn man jemanden liebte, oder etwa nicht?

Und da war ihm klar geworden, dass er Alba in der Tat liebte. Dass er sich mit der ganzen Welt anlegen würde, um sie zu schützen – um ihr wieder in ihre grünen Augen zu sehen, um wieder ihre Küsse spüren zu können.

Sie blieben vor Loes Zelle stehen. Axel gab einen Zahlencode ein, die Tür öffnete sich und sie gingen hinein.

Der Gestank ließ Seven unwillkürlich zurückweichen. Loe war in noch schlimmerem Zustand als beim letzten Mal. An ihrem Kinn klebte verkrustetes Blut. Beide Augen waren zugeschwollen und blutunterlaufen. Als sie eintraten, hob sie mit viel Mühe den Kopf.

Unbändige Wut befiel Seven. Warum tat die Polizei Loe so etwas an? Sahen die denn nicht, dass sie nur ein verängstigtes Mädchen war, das zu überleben versuchte – in einer Welt, die alles dafür tat, sie kleinzukriegen?

Axel beugte sich nach unten, um Loes Fesseln mit einer Metallschere durchzuschneiden und ihre Handschellen aufzuschließen. Sie schien überhaupt nicht zu begreifen, was vor sich ging, und betrachtete ihre Hände, als hätte sie sie noch nie gesehen.

»Wer ist die andere?«, fragte Axel, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte.

»Dolly Rose.«

Er nickte. »Ich weiß, wo sie ist.«

Während Axel die Zelle verließ, ging Seven zu Loe und schlang ihr den Arm um die Taille. Verwirrt sah sie ihn an und stieß ein unartikuliertes Krächzen aus.

»Alles in Ordnung«, sagte er sanft. »Wir bringen dich hier raus.«

Seven stützte Loe und verließ mit ihr die Zelle. Er sah, wie Axel gerade in einer anderen Zelle verschwand und kurz darauf jemanden herausführte.

»Dolly!«, rief Seven.

Sie drehte sich zu ihm. Als sie ihn erblickte, leuchteten ihre Augen auf und um ihre Lippen spielte ein Lächeln.

In dem Moment waren aus der Halle Schreie zu hören. Das Deckenlicht nahm eine blutrote Farbe an und eine Sirene heulte los.