Während sie in die Dunkelheit jenseits der Festwiese rasten, rutschten sie immer wieder auf dem mit Raureif bedeckten Gras aus. Hinter ihnen waren Schreie und Schüsse zu hören. Alba riskierte es, kurz einen Blick über die Schulter zu werfen, sah aber nur ein Durcheinander von kämpfenden, ins Licht der Flammen getauchten Gestalten.
In dem Moment fiel ihr siedend heiß etwas ein.
»Dolly!«
Sie blieb abrupt stehen und hielt Seven fest. Keuchend beugte sie sich nach vorn und presste die Hand gegen die Brust.
»Wir müssen zurück!«, stieß sie hervor. »Wir müssen nach ihr suchen!«
»Alba …«
Sie zerrte ihn in Richtung der Festwiese. »Sie war doch bei dir und den Mitgliedern der Bewegung, oder? Vielleicht ist sie immer noch dort! Vielleicht ist sie verletzt!«
Alba zerrte noch stärker an Seven, der jedoch wie angewurzelt dastand. Am liebsten hätte sie auf ihn eingeschrien: Was soll denn das? Verstehst du denn nicht? Dolly ist meine Familie! Ich kann sie nicht im Stich lassen!
»Alba«, wiederholte Seven in einem Ton, der ihr alles verriet.
Dolly war tot.
Sie ließ seine Hand los, als hätte sie sich verbrannt.
Nein.
Seven trat auf sie zu, doch sie wich zurück.
Nein!
Alba bekam keine Luft mehr und hatte das Gefühl zu sterben. Ihr Herz zersprang in winzige Glassplitter, die sich in ihr Inneres bohrten.
Ein paar Leute rannten an ihnen vorbei, die ihr jedoch in dieser Sekunde nur wie substanzlose Gespenster vorkamen.
»Nein«, flüsterte Alba, was sich wie eine Frage anhörte.
Wie eine Bitte. Ein Flehen.
»Doch«, erwiderte Seven leise.
Sie starrte ihn mit tränenverschleiertem Blick an. »Wann? … Wie?«, krächzte sie.
»Sie wurde angeschossen, als wir geflohen sind. Sie … sie ist im Auto gestorben, als wir hier angekommen sind.«
Alba wurde schlecht. Dolly war hier gewesen, in ihrer Nähe, und sie hatte nicht mehr die Möglichkeit gehabt, sie ein letztes Mal zu sehen und mit ihr zu sprechen. Sie in den Armen zu halten und ihr zu sagen, dass sie sie liebe, dass sie sich keine bessere Freundin hätte wünschen können. Dass sie für Alba wie eine Schwester – wie ihre Familie – war, auch wenn sie nicht miteinander verwandt waren.
Seven kam näher und griff nach Albas Händen. »Möchtest du sie sehen?«, fragte er.
Alba schloss die Augen und nickte.
Wesentlich langsamer als bisher setzten sie ihren Weg fort, teils, weil sie sich sicherer fühlten, nachdem sie das Kampfgetümmel auf der Festwiese weit hinter sich gelassen hatten, teils aber auch, weil Alba nicht rennen konnte. Es fiel ihr schon schwer genug, sich aufrecht zu halten, und sie schaffte es gerade so, nicht zu Boden zu sacken und ihren Schmerz in die Nacht hinauszuschreien.
Als sie die Serpentine erreichten, lag der See ruhig da und schimmerte im Licht der Sterne. Am Ufer ließen Weiden ihre Zweige ins Wasser hängen. Ein leises Plätschern klang wie ein Wiegenlied durch die Nacht.
Alba nahm undeutlich ein Auto wahr, das in der Nähe des Sees stand.
»Ich dachte, hier würden mehr Autos sein«, sagte Seven. »Das ist doch ihr Treffpunkt. Wo sind denn die anderen?«
»Die sind losgefahren, um zu helfen«, erklärte vom Auto her eine Stimme. Kurz darauf tauchte hinter dem Fahrzeug die Gestalt eines mageren Mädchens auf.
»Loe«, sagte Seven, der sich erleichtert anhörte.
Als sie näher trat, fiel das Licht des Monds auf sie. Ihr Gesicht war so lädiert und geschwollen, dass sie ganz entstellt aussah.
»Wer ist da bei dir?«, fragte Loe.
»Alba.«
Eine längere Pause trat ein.
»Deine Freundin?«, fragte Loe schließlich in spöttischem Ton. Spontan ging Seven auf sie zu und schloss sie in die Arme.
»Schön, dass es dir besser geht«, meinte er.
Sie lächelte ihn schief an. »Na ja, nicht wirklich.« Als sie sich voneinander lösten, holte sie tief Luft. »Die anderen haben mir alles erklärt, während wir hier gewartet haben, aber dann kam ein Notruf von ihren Verbündeten auf dem Ball und sie sind losgefahren. Sie hoffen, dass sie nach dem Kampf abhauen können, und haben gesagt, dass wir das Auto hier nehmen können.«
»Ich kann aber nicht fahren«, erwiderte Seven.
»Dann musst du’s eben lernen.«
Alba hörte ihrem Gespräch wie aus weiter Ferne zu; ihre Stimmen drangen nur undeutlich an ihr Ohr. Als sie es nicht länger ertragen konnte, fragte sie: »Kann ich Dolly jetzt sehen?«
Das Mädchen schaute sie an und nickte verständnisvoll. Schweigend führte sie Alba und Seven zu einer Weide am Ufer des Sees, schob die Zweige aus dem Weg und trat zur Seite, um Alba durchzulassen.
Doch Alba blieb abrupt stehen, weil sie plötzlich von Panik befallen wurde. Dolly war tot. Wenn Alba ihre Leiche sah, würde sie wissen, dass alles bittere Wirklichkeit war, und dieses Bild würde ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen, würde die Erinnerung an ihre lachende, lächelnde Zofe verdrängen.
Alba drehte sich zu Seven zurück. Tränen strömten ihr übers Gesicht. »Ich glaube, ich kann das nicht«, sagte sie mit brechender Stimme.
Sofort zog er sie an sich und schlang zärtlich die Arme um sie.
»Doch, das kannst du. Du schaffst das, Alba.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.«
»Ich bin mir ganz sicher, dass du es kannst.«
»Sie ist tot, Seven«, flüsterte Alba. »Dolly ist tot.«
»Ich weiß. Und nichts kann sie wieder lebendig machen. Aber du würdest es dir nie verzeihen, wenn du gehst, ohne dich von ihr zu verabschieden.«
Diese Worte überzeugten sie schließlich. Sie sah Seven an und nickte. Dann holte sie tief Luft und trat durch den Vorhang der Zweige in die Dunkelheit.
Dolly lag am Fuß des Baums. Albas Herz setzte einen Moment aus, als sie Dolly erblickte, und sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Trotzdem zwang sie sich weiterzugehen. Alba kauerte sich neben Dolly und legte sanft die Hand auf die kalte Wange ihrer Zofe.
»Es tut mir leid, dass du in diese Sache hineingezogen wurdest«, flüsterte Alba. »Und es tut mir leid, dass ich dich nicht mehr hier rausholen kann.«
Ihr versagte die Stimme. Mit einem leisen Aufschrei brach sie zusammen und klammerte sich an den leblosen Körper. Wenn sie Dolly doch bloß ein letztes Mal hätte sehen können, um ihr das zu sagen, was sie ihr nie deutlich genug gesagt hatte.
Dass sie sie liebte.
Dass sie sie unendlich liebte und immer lieben würde – jeden Tag, jede Nacht, bis ans Ende ihres Lebens.