2 Uhr 30 morgens. Hyde-Park-Anwesen
Seven unterdrückte einen Fluch, als seine Finger vom Sims des Balkons abrutschten. Seine eine Hand verlor den Halt und baumelte in der Luft, sodass sein Körper gegen das Gebäude prallte, das er gerade hochkletterte (und ja, das, was er hier machte, war natürlich völlig illegal). Im letzten Moment schaffte er es, sich mit der anderen Hand festzuklammern. Die Mauer vor ihm fiel steil nach unten ab wie ein erstarrter Wasserfall aus glänzendem weißen Stein. Er befand sich im zweiten Stock. Wenn man aus dieser Höhe abstürzte und auf Rasen landete, kam man für gewöhnlich mit ein paar gebrochenen Knochen davon. Doch um dieses Haus zog sich eine Terrasse, die mit Marmorplatten ausgelegt war …
Wenn er da aufkam, war es aus mit ihm.
Nachdem er tief Luft geholt hatte, packte Seven die Kante des Balkons mit beiden Händen und zog sich nach oben. Seine Arme schmerzten, denn um auf das Hyde-Park-Anwesen zu gelangen, war er bereits über einen fünf Meter hohen Zaun geklettert, um anschließend auch noch die Fassade des Hauses zu erklimmen. Und das hatte verdammt hohe Stockwerke.
»Wofür zum Teufel brauchen reiche Leute solche großen Häuser?«, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen. Klar, wenn er mehrere Millionen Pfund besäße, würde er sich wahrscheinlich ein Haus kaufen, das zwanzigmal so groß wäre wie das hier – und zwar einfach, weil er es könnte.
Der Balkon war klein und hatte eine schmiedeeiserne Brüstung, die wie ein Rosenstrauch gearbeitet und weiß angestrichen war, um farblich zur Fassade des Hauses zu passen. Nachdem Seven auf den Balkon geklettert war, kauerte er sich in eine dunkle Ecke, um wieder zu Atem zu kommen. Er schob die Ärmel seines T-Shirts hoch und fuhr sich durch das zerzauste schwarze Haar. Dann vergewisserte er sich, dass seine Worker Boots fest zugeschnürt waren – offene Schnürsenkel hatten schon so manchen Speicherchip-Dieb ins Verderben gestürzt – und dass die Enden der Hosenbeine in den Schuhen steckten.
Hinter der Glastür, die auf den Balkon führte, war alles dunkel. Seven versuchte, durch die Gardinen zu spähen, die vor die Tür gezogen waren, konnte jedoch lediglich erkennen, dass dahinter ein hohes, geräumiges Zimmer lag.
Seven ließ mehrere Minuten verstreichen und wartete ab.
In der Dunkelheit, die ihn umgab, raschelten Blätter. Irgendwo in der Nähe schrie eine Eule und durch die Büsche huschten Kaninchen. Ansonsten war alles still. Das Anwesen lag auf dem riesigen Gelände, das früher einmal der Hyde Park gewesen war. Über das ganze Areal waren nur fünf Häuser verteilt. Zu dieser späten Stunde waren selbst das ständige Brausen des Verkehrs und der Baulärm in der Stadt verstummt und einer tiefen Stille gewichen.
Seven hatte dieses Haus so lange beobachtet, dass er den Tagesrhythmus seiner Bewohner bestens kannte. Inzwischen mussten alle im Bett sein, auch die Dienstboten. Trotzdem konnte man nie hundertprozentig sicher sein und Vorsicht war besser als Nachsicht. Seven hielt nämlich nicht unbedingt etwas davon, erwischt und zum Tode verurteilt zu werden.
Als er schließlich davon überzeugt war, dass sich niemand in der Nähe befand, holte er einen Dietrich aus seinem Werkzeuggürtel. Er steckte ihn in das Schlüsselloch der Tür und stocherte damit im Schloss herum.
Sevens Herz hämmerte wie wild. Ein beklemmendes Gefühl stieg in ihm hoch, weil er, wie immer in so einer Situation, Angst hatte, dass es diesmal nicht klappen würde. Doch dann – er atmete erleichtert auf – war ein leises Klicken zu vernehmen und das Schloss sprang auf.
»Danke, ihr Götter«, flüsterte Seven grinsend. Nicht dass er an irgendwelche Götter glauben würde. Wenn es überhaupt welche gab, dann hatten sie sich bisher herzlich wenig um ihn gekümmert. Aber Gebete kosteten ja nichts (ganz im Gegensatz zu so gut wie allen anderen Dingen in London).
Seven schob die Tür auf und schlüpfte ins Zimmer.
Das Erste, was ihm wie immer auffiel, war der Geruch des Raums. Die Luft war sauber, wenn auch etwas muffig, was von den Büchern in den Regalen ringsum kam. Vor allem aber roch es hier nicht nach Dingen wie Kotze, Pisse, Scheiße, Müll, Zigarettenrauch, Fabrikabgasen, Haschisch, Marihuana oder all den unzähligen anderen Gerüchen, nach denen die Straßen in der Nähe seiner Wohnung im Süden stanken.
Seven reckte die Arme in die Höhe, um seine verkrampften Muskeln zu lockern, und atmete tief ein. Ein durchdringend süßer Duft erfüllte das Zimmer. Als seine Augen sich an die durch das Mondlicht aufgehellte Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er, dass überall Vasen voller Blumen standen. Er rümpfte angewidert die Nase. Das war auch etwas, das er an reichen Leuten hasste: Sie gingen so verschwenderisch mit ihrem Geld um, dass sie Hunderte von Pfund für Dinge ausgaben, die nicht nur grässlich rochen, sondern auch nach ein paar Tagen verwelken würden.
Plötzlich war vom Treppenabsatz vor dem Zimmer ein Knarren zu hören. Seven hielt den Atem an und presste sich, mit der Dunkelheit verschmelzend, gegen die Wand. Ihm brach der Schweiß aus. Als von draußen keine weiteren Geräusche hereindrangen, trat er wieder in den Raum.
Na dann an die Arbeit, dachte er.
Seven war ein so erfahrener Dieb, dass er sich bei seiner Arbeit normalerweise Zeit ließ und auch mal gerne in Bücherregalen herumstöberte. Wenn irgendwo Essen stand, bediente er sich. Doch heute Abend konnte er es sich nicht leisten, die Sache derart lässig anzugehen.
Denn er befand sich auf dem Hyde-Park-Anwesen, der teuersten Wohngegend des Nordens.
Im Haus der Familie White.
Der Familie White.
Das hier war das Zuhause des Mannes, der Leute wie ihn kalt lächelnd in den Tod schickte.
So leise wie möglich verließ Seven das Zimmer und trat in den Gang hinaus, der sich links und rechts in der Dunkelheit verlor. Direkt vor ihm führte eine breite geschwungene Treppe zu der riesigen Eingangshalle im Parterre hinunter. Über der hohen Haustür befand sich ein rundes Fenster, das den größten Teil der Wand einnahm und mit verschlungenen Spiralen bemalt war. Das Mondlicht, das dort hindurchschien, warf das Muster geradewegs auf den Marmorfußboden, wo es sich wie gespenstische Ranken kräuselte.
Obwohl das hier zweifellos das luxuriöseste Haus war, das Seven je betreten hatte, war er nicht im Geringsten beeindruckt. Mit finsterer Miene wandte er sich ab und ging den Korridor entlang.
Der Raum, nach dem er suchte – das Memorium – lag im Ostflügel des Gebäudes, hinter einer Geheimtür, die sich in jenem der acht Wohnzimmer befand, das die Familie am seltensten benutzte. Diese Details hatte Seven schon bei der Observation des Hauses in Erfahrung gebracht. Völlig sicher war er sich zwar nicht, weil das Memorium keine Fenster hatte, andererseits kannte er dieses räumliche Arrangement von anderen Häusern, aus denen er Speicherchips gestohlen hatte. Außerdem hatte er beobachtet, wie jemand durch das Bücherregal auf der rechten Seite des Raums getreten und verschwunden war. Falls er keine Halluzinationen hatte (was als Nebenwirkung seines ständigen Hungers durchaus möglich war), musste sich das Memorium der Whites genau dort befinden.
Es gab immer eine Geheimtür. Erinnerungen waren schließlich eine äußerst heikle Angelegenheit und man wollte natürlich nicht, dass sie in die falschen Hände gerieten.
Und mit »falschen« meine ich diese hier!, dachte Seven und winkte dem Wohnzimmer grinsend zu, als er hineintrat.
Schon nach einem flüchtigen Blick auf die Bücherregale an der hinteren Wand entdeckte er den Rahmen einer in das Holz eingelassenen Tür. Der Spalt wurde direkt vom Mondlicht beschienen und Seven lief sofort auf Zehenspitzen hinüber. Wie immer in diesem Moment – der ihm bei seinen Diebestouren der zweitliebste war – beschleunigte sich sein Herzschlag. Er presste die Hände gegen das Holz und zögerte kurz. Wenn die Tür abgeschlossen war, hatte er den ganzen Weg umsonst gemacht. Aber die Leute im Norden schließen ihre Memoriums nur selten ab, beruhigte er sich selbst, schob die Finger in die Ritze der Geheimtür und drückte dagegen.
Langsam gab die schwere Tür nach und ging auf.
Seven entspannte sich und ein Grinsen stahl sich auf seine Lippen. Doch schon im nächsten Moment rutschte ihm das Herz in die Hose.
Im Zimmer brannte Licht; eine flackernde Lampe, die auf einem Schreibtisch stand. Als die Tür noch weiter aufging, erblickte Seven ein Mädchen. Ihr rotbraunes Haar schimmerte im Licht, während sie sich zu ihm umdrehte. Wie in Zeitlupe nahm er wahr, dass sie ihre Augen aufriss, den Mund weit öffnete und die Hände zu Fäusten ballte.
Aus irgendeinem verrückten Grund rannte Seven nicht davon. Möglicherweise hätte er es sogar noch nach draußen geschafft. Stattdessen stand er wie angewurzelt da und starrte das Mädchen nur fassungslos an. Dabei ging ihm durch den Kopf, wie ärgerlich es doch war, dass er diesmal nicht seinen absoluten Lieblingsmoment erleben würde: Nämlich mit den gestohlenen Erinnerungen aus dem Haus zu klettern, ohne dass man ihn erwischt hatte.