Ich hoffte auf eine Erklärung von Dante oder Victor, aber beide drehten nur die Gläser in ihren Händen und sahen dem Inhalt beim Herumschwappen zu.
Nach einer Minute beharrlichen Schweigens verlor ich die Geduld. »Will einer von euch beiden mir irgendetwas sagen?«
Synchron schüttelten sie die Köpfe.
Ich konnte nicht anders, als sie sprachlos anzustarren. So ein Verhalten war ich von Sergej gewohnt, manchmal auch von Carter, aber ich hatte noch nie erlebt, dass Victor oder Dante sich benahmen wie Teenager, die man beim Klauen erwischt hatte.
»Ihr wollt also nicht reden?«
Dante trank sein Glas aus. »Wenn wir es dir erklären, rastest du aus.«
Mein Blick wanderte zu Victor, der weiterhin seinen Scotch anstarrte und nickte.
»Ich könnte versprechen, nicht auszurasten.«
»Tust du aber nicht«, beharrte Dante völlig zu Recht.
Ich legte die Hände auf dem Tisch übereinander, um zu demonstrieren, dass ich ruhig bleiben würde. »Fangen wir anders an. Lass uns über Kyori sprechen. Ist er auch einer von den Traditionalisten auf der Todesliste?«
Victor zog die Stirn in Falten und schüttelte dann den Kopf. »Möglich, dass er auf der Liste steht, aber unwahrscheinlich. Er hält zu Nakamoto, koste es, was es wolle.«
»Dann ist sein Verhältnis zu Nakamoto ähnlich wie das zwischen dir und Dante?«
Damit brachte ich ihn zum Schmunzeln. »Ganz und gar nicht. Dante tut mir hin und wieder einen Gefallen, aber im Grunde ist er mein Kindermädchen. Kyori hingegen ist Nakamoto zutiefst ergeben.«
»Das heißt, er würde für ihn töten?«
Er nickte. »Ohne Zweifel, ja.«
»Wie lange kennst du ihn schon?«
»Seit seiner Geburt.«
»Habt ihr miteinander gespielt oder so was?«
Seine Wangenmuskeln zuckten. »Kaum. Kyori war zehn Jahre alt, als Nakamoto ihn aufgenommen hat. Davor lebte er bei seinem Vater. Nakamoto hatte ihm versprochen, sich um den Jungen zu kümmern, sollte ihm etwas zustoßen.«
»Und was ist ihm zugestoßen?«
Er sah mir fest in die Augen. »Chicago.«
Manchmal hatte ich Glück und meine innere Stimme half mir, die Dinge besser zu verstehen. Diesmal ließ sie nichts von sich hören, also musste ich selbst rechnen.
Kyori war ungefähr im selben Alter wie Mizuki, schätzungsweise fünfundzwanzig. Victor lebte in Chicago, seit er sich von Nakamotos Einfluss befreit hatte, indem er ein halbes Dutzend Mitglieder der Minami-Familie hatte über die Klinge springen lassen. Wenn Victor sagte, Chicago hätte Kyoris Vater umgebracht, dann meinte er damit sich selbst. Das bedeutete aber auch, dass Kyori erst zu Nakamoto stieß, als Victor Japan bereits verlassen hatte. Andererseits …
Aus der Innentasche meiner Jacke fischte ich den Prospekt des Institutes und pfefferte ihm das Blatt vor die Nase. »Es muss Jahre gedauert haben, das alles aufzubauen. Du warst bestimmt oft hier, um alles in die Wege zu leiten.«
Victor nahm den Flyer des M.I.E.N.A.I in die Hand. »Öfter als Doktor Christ. Er macht sich übrigens Sorgen, ob der neue Vorstandsvorsitzende seinen Ansprüchen gerecht wird.«
»Und wer wird das sein?« Es war nicht die Frage, die ich stellen wollte. Es war die Frage, von der Victor wollte, dass ich sie stellte.
»Der Oyabun. Aber er bekommt den Posten nur, wenn Mizuki dich zum Mann nimmt.«
Ich ließ die Information auf mich wirken. Nüchtern betrachtet schuf sie die Verbindung zwischen den Interessen des Oyabun und der geplanten Hochzeit. Allerdings hatte ich wenig Lust, die Sache nüchtern zu betrachten, weil es hierbei um meine Hochzeit ging. Ich atmete durch, schnappte Victor den Scotch weg und kippte ihn in einem Zug hinunter. »Alle Achtung. Ein hoher Preis.«
Victor nickte verhalten. »In der Tat. Ein hoher Preis.« Ohne darauf einzugehen, ob er dasselbe meinte, wie ich, fuhr er fort. »Es gibt da allerdings einen Haken.«
»Nur einen?«
»Nakamoto wird die Hochzeit nur zulassen, wenn du ihm vorher den Mörder lieferst.«
Ich ließ mich gegen die weich gepolsterte Lehne fallen. »Und wenn ich ihm den Killer nicht präsentiere, bin ich aus der Nummer raus?«
So ernst wie in diesem Moment hatte ich Victor noch nie erlebt. »Dann ist das Spiel vorbei. Das Ganze. Endgültig. Was danach passiert, kann ich dir nicht sagen.«
Eine bissige Bemerkung kroch mir auf die Zunge. Ich schluckte sie hinunter. Victor hatte Angst. Er fürchtete sich so sehr, dass sogar ich es spüren konnte. Sämtliche Härchen stellten sich mir auf.
Die Gläser schienen hier kleiner zu sein als in Chicago. Egal wie viel ich trank, nichts löschte meinen Durst. Ich wünschte, ich hätte daran gedacht, noch ein Bier zu bestellen. Mit der Zunge fuhr ich mir über die aufgesprungenen Lippen. »Na schön. Würde es Sinn machen, dich zu fragen, warum diese Hochzeit so wichtig ist?«
»Derzeit nicht.«
Ich drehte mich im Kreis. Die ganze Zeit schon. Victor fütterte mich an, dann ließ er mich am ausgestreckten Arm verhungern. Langsam verlor ich die Geduld mit ihm. »Schon klar. Warum frage ich überhaupt! Also, was war das jetzt für ein Zeug, das ihr mir reingejagt habt?«
Er atmete tief durch. »Dasselbe wie immer.«
Dante brummte. »Hat mir gefallen, als du nicht sprechen konntest. Keine Fragen. Aber gut, wenn du es so willst: Yamashiro ist Spezialist für intelligente Biomoleküle. So wie die, die dich ständig wieder aufpäppeln. Im Krankenhaus hattest du vom Doc ein Update bekommen. Nur …«
»Ja? Nur weiter, ich höre zu.« Ich ballte meine Faust so fest, dass es schmerzte.
Dantes Wangenmuskeln zuckten unruhig. »Nur sind die manchmal komisch.«
»Wie äußert sich das?«
Als wäre er mit weiteren Erklärungen überfordert, blickte er zu Victor. Der zog die Nase kraus, erbarmte sich aber doch. »Im Gehirn existieren viele Bereiche, die selten ausgelastet sind. Die KI scheint diese Bereiche als Spielplatz zu betrachten. Bei falscher Dosierung der Medikamente fängst du vielleicht plötzlich an, Sudokus zu lösen oder dir neue Kochrezepte auszudenken. Oder …«
»Oder sie krempeln dein Hirn komplett um und plötzlich sprichst du japanisch?«, mutmaßte ich.
Dante grinste spöttisch. »Bei dir gab‘s ja nicht viel umzukrempeln.«
»Auch das, ja«, unterbrach Victor, bevor ich aufstehen und Dante die Meinung sagen konnte. »In deinem Fall legt sich die KI so sehr ins Zeug, dass dein Gehirn überhitzt. Deshalb die Spritze. Sie enthielt ein Feedbackmodul, der die KI neu startet und reorganisiert. In dieser Phase kann es gelegentlich zu … interessanten Nebeneffekten kommen.«
»Was für Nebeneffekte?«
Er legte seine Hände auf die Tischplatte und hielt den Blick darauf gerichtet. »Unterschiedlich. Geistesblitze, Aggression, völlige Hemmungslosigkeit, je nach Grat der Regression und der beigefügten Biodämpfer. Manchmal spielt die KI auf einfach verrückt und macht, was sie will.«
Ich betrachtete meine Hand, drehte sie ganz langsam hin und her, auch den sauber verheilten Stumpf meines kleinen Fingers. Irgendwelches Viehzeug hatte sich darin eingenistet. Und jetzt machte es sich an meinem Gehirn zu schaffen. Ich hatte den Doc nie wirklich gemocht, aber inzwischen war ich bereit, ihn inbrünstig zu hassen.
Mit einem Ruck stand ich auf und hämmerte beide Handballen auf den Tisch. »Einmal!«, knurrte ich. »Nur ein einziges Mal würde ich gerne gefragt werden, bevor ihr irgendwelchen Scheiß mit mir anstellt!«
In dem Laden war es mucksmäuschenstill. Ein Blick zum Nachbartisch offenbarte mir, dass ich auch von dieser Seite mit offenen Mündern angestarrt wurde. »Das gilt auch für euch!«, kläffte ich hinüber. Sofort kümmerten die vier Kartenspieler sich wieder um sich selbst. Als die Gespräche wieder einsetzten, zog ich mein Jackett über.
»Hab ja gesagt, dass du ausrastest«, erinnerte mich Dante. »Was hast du vor?«
Ich funkelte ihn an und zog den Kragen glatt. »Den Killer entlarven und zusehen, wie meine Ehe den Bach runtergeht.«
Victor drehte sich nicht nach mir um. »Du weißt, wer es ist?«
»Natürlich weiß ich das! Und gnade euch Gott, wenn ich Recht habe!«