Kapitel 29

 

Als ich erwachte, verschwamm der Anblick meines zerschlagenen Gesichtes vor meinen Augen zu konzentrischen Kreisen. Ich spürte, wie sich ein Tropfen von meiner Lippe löste und auch dieser wieder Kreise entstehen ließ, als er in die Pfütze unter mir tropfte.

Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, wieso er in eine Pfütze tropfte. Der Boden unter mir war nass, das Licht neblig düster. Letzteres konnte natürlich auch an meiner eingeschränkten Sicht liegen. Die Kerle, die mich an den Armen über dem Boden hielten, ließen etwas zu locker. Ich landete mit der Nase in der schmutzigen Brühe und schrie unwillkürlich auf, weil sie darunter auf harten Beton traf.

Die Kerle kümmerte es nicht. Der, der mich fallengelassen hatte, hob mich wieder an und gemeinsam zerrten sie mich an den Armen durch eine Tür, die quietschend hinter uns ins Schloss fiel.

»Na endlich!«

In meinen Ohren rauschte das Blut, sodass ich die Stimme nicht gleich einordnen konnte.

»Reg dich ab!«

Das war Lederjacke. Links neben mir schimmerte ein silbernes Hosenbein. Ich ahnte, dass mich die beiden gleich fallen lassen würden, und drehte den Kopf, damit meine Nase diesmal verschont blieb. Es klappte einigermaßen, tat aber trotzdem weh, weil es jetzt meine aufgeplatzte Schläfe traf. Stöhnend stützte ich mich vom Boden ab, wurde aber gleich wieder zurück in den Staub getreten.

»Da hast du ihn. Aber lass dir nicht zu viel Zeit, wir wollen Nakamoto sein Paket liefern.«

»Ein oder zwei Stunden werdet ihr euch wohl gedulden können.«

Lederjacke lachte. »So lange hält der nie im Leben durch.«

Schritte klackten über den Boden auf mich zu. Stoff raschelte, als er vor mir in die Hocke ging und meinen Kopf anhob. »Oh, der wird durchhalten. Das ist ja das Schöne an ihm.«

Ich wusste, ich kannte die Stimme, aber klang sie nicht normalerweise anders?

»Wenns so ist, dann machen wir das vielleicht lieber selbst«, schlug Lederjacke vor und trat mir in die Seite.

»Du vergisst die Abmachung! Ich lotse euch zu ihm, ihr dürft nachher die Reste abräumen.«

»Adams?«

Lederjacke presste seinen Fuß zwischen meine Schulterblätter. »Schnauze, Arschloch!«

Ohne Zweifel war es Adams Stimme, die den beiden jetzt befahl: »Hängt ihn da drüben auf. Aber vorsichtig. Und zieht ihn vorher aus.«

Ich konnte das Zittern nicht unterdrücken, das mich bei seinen Worten durchlief. Er klang genauso gierig wie Commander Levine damals, als ich ihm eröffnet hatte, dass er mich drei Tage lang auseinandernehmen durfte.

Sie hoben mich wieder an und schleiften mich weiter. Es fiel mir schwer, mich zu bewegen. Im Moment konnten sie mit mir anstellen, was sie wollten. Oder besser gesagt, was Adams wollte. Ich hörte das Schnappen eines Springmessers, dann das Reißen von Stoff. Trotz der schwülen Luft wurde es plötzlich kalt, als die beiden mir sämtliche Klamotten grob vom Körper fetzten. Zurück blieb nur diese beispiellos peinliche Unterhose mit ihren geflochtenen Bändchen.

Die Kälte half mir dabei, wieder munter zu werden. Allerdings versteifte sie auch meine Gliedmaßen, sodass koordinierte Bewegungen ein Wunschtraum blieben. Indem ich mich zur Wehr setzte, machte ich es den beiden ein bisschen schwerer, mir die Ketten anzulegen, das war aber auch alles. Als sie meine Arme seitlich ausgestreckt an einem Geländer festgemacht hatten, banden sie mir einen Lederriemen um den Hals. Mehr war nicht nötig, um mich dort zu halten, wo Adams mich haben wollte.

»Brauchst du Hilfe?«, rief die Lederjacke.

»Nein, Haturo. Alles bestens, vielen Dank. Warum amüsiert ihr euch nicht mit den anderen in der Bar?«

Haturo hieß die Lederjacke also.

Adams lachte. Es war ein leises, melodisches, sympathisches Lachen. Eines, das kleine Kinder dazu bringen konnte, Bonbons von Fremden anzunehmen.

Der Silberne grinste anzüglich. »Ich hab gehört, ihr habt dem Alten neue Mädchen besorgt, stimmt das?«

Haturo zog an ihm vorbei. »Ist doch scheißegal. Ich finde immer was zum Ficken. Los, komm schon, Balin, die werden nicht jünger.«

»Für dich immer noch Herr Balin«, grollte der Silberne, folgte ihm aber dennoch.

»Eins noch«, rief Adams ihnen nach.

»Was?«

»Was ist mit Fräulein Nakamoto?«

Dem Geräusch seiner auf dem Beton schabenden Sohle nach zu urteilen, wandte Haturo sich nach Adams um. »Was soll mit der sein?«

»Was habt ihr mit ihr angestellt?«

»Nichts. Wir haben sie gar nicht gesehen.«

Adams leckte sich über die Lippen und kam einen Schritt näher. »Nicht gesehen? War sie denn nicht mit ihm im Zimmer?«

Ich hätte gerne die Gesichter der beiden Gangster gesehen, aber sie standen hinter mir. Bei dem Versuch, mich umzudrehen, hätte ich mich stranguliert.

Haturo war es schließlich, der antwortete. »Wir haben im Zimmer anrufen lassen, dass er rauskommen soll, und er ist rausgekommen.«

»Soll das heißen, ihr habt ihn vorgewarnt?«

Jetzt schaltete sich Balin ein. »Du wolltest ihn, du hast ihn. Jetzt sei zufrieden und halts Maul.«

Adams sah ihnen nach, bis ich eine Tür hinter mir zufallen hörte. Dann schien ihm wieder einzufallen, dass ich da war. »Monroe, verzeihen Sie, ich war unhöflich. Ich versichere Ihnen, sie haben jetzt meine volle Aufmerksamkeit.«

Ich spuckte das Blut aus, das sich in meinem Mund angesammelt hatte. »Whiskey wäre mir lieber.«

»Ein Haufen Yakuza sucht nach Ihnen und Sie gehen einfach mit? Nachdem sie sich sogar telefonisch angekündigt haben? Wieso sind Sie nicht geflohen?«

»Ach, die Jungs sind ganz in Ordnung. Ich wette, sobald sie mich nicht mehr umbringen wollen, kommen wir prima miteinander aus.«

»Wer war bei Ihnen, Monroe?«

Ich wollte lachen, verschluckte mich aber und brauchte einen Moment, um mich zu fangen. »Andere Frage: Die Bar hinter uns, in die Haturo und Balin verschwunden sind, das ist nicht zufällig das BLUESCREEN?«

Bei dem Raum musste es sich um ein Lager handeln. Überall standen Regale und Tische, auf denen allerlei Zeug lag. Adams orientierte sich und holte sich etwas von einem der Tische. Eine Zange. Er stellte sich neben meine linke Hand und tastete daran herum. »Beim kleinen Finger können wir nicht anfangen, der ist ja schon weg. Aber keine Sorge, mein Freund, wir haben ja noch ein paar übrig.«

 

Ich hatte Übung darin, nicht zu schreien, wenn mir die Fingernägel gezogen wurden. Commander Levine hatte mich darin trainiert. Für jeden Schrei hatte er mir einen Stromschlag versetzt. Der Effekt wirkte noch, deshalb machte Adams ein enttäuschtes Gesicht und setzte die Zange am Nagel meines Mittelfingers an. Die Schmerzen zogen sich bis hinauf zur Schulter.

»Diese Trottel dachten, Sie würden handeln wie einer von ihnen und sich Ihrem Schicksal stellen. Aber Sie sind Amerikaner, nicht wahr? Die fliehen normalerweise über die Feuertreppe, wenn Gangster hinter ihnen her sind.

Sie sind nicht abgehauen. Das heißt, jemand muss Ihnen befohlen haben, die Männer zu begleiten. Fräulein Nakamoto war es nicht. Sie hätte nicht zugelassen, dass die Kerle Sie mitnehmen. Eher hätte sie Sie selbst totgeschlagen.«

»Frau Monroe.«

»Was?«

»Frau Monroe«, keuchte ich. »Nicht Fräulein Nakamoto.«

Er setzte die Zange am Zeigefinger an und drehte sie herum, so dass auch der dritte Fingernagel sich schmatzend ablöste. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, ihm von Victor zu erzählen, aber ich wünschte mir inzwischen, Levine hätte mich nicht konditioniert. Schreien wäre wenigstens eine Erleichterung gewesen. Ich biss die Zähne aufeinander, bis sie knirschten. Durch das laute Rauschen in meinen Ohren verstand ich Adams nicht mehr.

Das änderte sich, als er mir eine schallende Ohrfeige verpasste. »Wer?«

Ich musste hart darum kämpfen, den Mund zu halten. Jeder dumme Spruch hätte eine Information enthalten können, die ich nicht preisgeben wollte. Ich biss mir auf die Zunge, um das nicht zu vergessen.

Adams machte keine halben Sachen. Kaum war er mit Nummer drei fertig, nahm er sich den Daumen vor. Meine gesamte Brustmuskulatur verkrampfte sich. Das Atmen fiel mir plötzlich schwer. Ich japste nach Luft. Normalerweise sprang unter solchen Umständen mein Hirn an und versorgte mich mit Alternativen zum sicheren Tod, aber diesmal schien es sich freigenommen zu haben.

»Lahmgelegt«, korrigierte es mich.

Der Daumennagel widersetzte sich besonders hartnäckig, deshalb machte es mir nichts aus, von mir selbst abgelenkt zu werden.

Mein innerer Polizist lümmelte hinter seinem Schreibtisch und hatte die Füße hochgelegt. In der Hand hielt er ein Messer und schnitzte an einem Stück Holz. Unvermittelt hob er den Kopf und blitzte mich aus leuchtend roten Augen an. Es war dasselbe Rot, das ich zuletzt auf den Monitoren des Doktors gesehen hatte. »Ihr habt mich lahmgelegt, schon vergessen? Vollkommen unnötig. Man muss dich ja sowieso erst halb tot schlagen, damit du mir zuhörst!«

Dumpfe Impulse von meiner linken Hand ließen mich wissen, dass der Daumennagel aufgegeben hatte. Ich fühlte sie noch nicht, aber ich konnte buchstäblich sehen, wie eine weitere Schmerzenswelle heranrollte. Der Rotäugige hinter dem Schreibtisch wischte ungeduldig mit der Hand in Richtung der Welle. Sie näherte sich noch immer, verwandelte sich aber auf dem Weg in roten Nebel und zerstob in der Luft.

»Netter Trick«, bemerkte ich. Mir war klar, dass ich kürzlich in Ohnmacht gefallen sein musste und nun wildes Zeug träumte.

»Ohnmacht, am Arsch!«, herrschte der Rotäugige mich an. »Der macht dich gerade alle!«

Ich stand vor ihm und verschränkte die Arme. »Was soll ich deiner Meinung nach tun? Teleportieren?«

Er umrundete den Schreibtisch, stellte sich breitbeinig vor mir auf und packte mich bei den Schultern. »Abhauen! Wenn einen jemand zu Tode foltern will, dann haut man ab!«

Ich machte mich los, schlenderte zum Schreibtisch und legte eine Hand auf die Lehne des Bürostuhls. Er drehte sich, quietschte sogar ein wenig. Die Physik in meinem Traum funktionierte verdächtig perfekt.

An der Wand hinter dem Schreibtisch lockte die Pinnwand mit Notizen und Aushängen. Mein Blick fiel auf die Akten der Opfer, die Mizuki auf dem Gewissen hatte. Gleich daneben pinnte eine Anzeige zu meiner Hochzeit. Das Datum lag bereits drei Wochen zurück. Ungefähr zu der Zeit hatte ich mir das Video von Tiger angesehen, auf dem sie eine Hochzeit erwähnt hatte. Scheinbar hatte ich wirklich schon länger Bescheid gewusst, als ich mir eingestehen wollte.

In der Mitte des Brettes prangte eine handschriftliche Notiz, geschrieben auf einem gelben Post-it: Adams / BLUESCREEN / Falle!

Der Rotäugige trat hinter mich. »Jetzt brauchst du das auch nicht mehr zu lesen.«

Ich fühlte mich von allen Gefühlen abgekoppelt, so als ginge mich all dies hier gar nichts an. Dennoch bohrte sich bei dem Gedanken an eine Falle etwas in meinen Rücken, nämlich der Finger des Rotäugigen. Pflichtschuldig fragte ich: »Eine Falle für wen?«

Er atmete schwer, was für eine Traumgestalt vermutlich gar nicht so leicht ist. »Manchmal vergesse ich einfach, was für hohle Geschöpfe ihr seid: Für Nakamoto natürlich.«

Ich nickte. »Klar.«

Er gab mir einen Klaps auf den Hinterkopf. »Gar nichts ist dir klar!«

Neben der Pinnwand bot ein schmales Fenster Aussicht nach draußen. Dort sah ich ein Auge, das sich vom Fenster entfernte, und es kritisch musterte. Der Monitor auf dem Schreibtisch beendete seinen Ruhemodus.

Dort war jetzt Adams in voller Größe zu sehen. Der Lautsprecher fiepte, beruhigte sich aber schnell wieder. »Ehrlich gesagt hätte ich mehr erwartet«, erklang Adams Stimme. Von der Zange in seiner Hand tropfte Blut auf das senffarbene Jackett.

Der Rotäugige ging zum Fenster und zog das Rollo herunter.

»Falle. Für Nakamoto«, erinnerte er mich.

Ich ließ mich in den Bürostuhl sinken und drehte ihn probehalber hin und her. »Kann ich mir nicht vorstellen. Bluescreen zahlt Höchstpreise. Die anderen Clans können seinem Team unmöglich mehr geboten haben.«

»Nicht dem ganzen Team«, widersprach er ungeduldig. »Aber Adams selbst schon.«

Nachdenklich betrachtete ich die rot blinkenden Punkte in seinen Augen. »Von diesen Sadoschlümpfen ist keiner auf den Kopf gefallen, die hätten sicher etwas bemerkt.«

»Sadowas? Gewöhne dir endlich diese blöden Spitznamen ab!«

Jetzt war es schon so weit gekommen, dass ich mich selbst nicht mehr verstand. »Sadistische Schlümpfe. Die Blauen. Bluescreen eben!«

»Sein Team hat nichts bemerkt, sonst wärest du nämlich nicht hier, oder zumindest nicht gefesselt und, zugegeben, im Moment ohnmächtig.«

Ich lud meine Füße auf den Schreibtisch und stellte mir vor, sie wären nicht nackt, sondern steckten in bequemen HAIX. Sofort trug ich meine geliebten Stiefel und feierte den Erfolg, indem ich mir auch ein schwarzes T-Shirt, Lederjacke und Jeans gönnte, mein ehemaliges Lieblingsensemble für die Verbrecherjagd. »Wenn die nichts mitbekommen haben, dann ist Adams entweder der beste Schauspieler der Welt, oder er hat sie alle umgebracht.«

Der Rotäugige zuckte die Schultern. »Er ist ein Soziopath, da fällt die Wahl leicht.«

»Er tötet eine ganze Einheit und – und was? Wem schiebt er es in die Schuhe?«

Wir sahen uns an. Sein Mund öffnete sich zur selben Zeit wie meiner. »Nakamoto!«

Das Rollo schnappte nach oben. Adams riesiges Auge stand wieder davor, ganz nah. »Warten wir ab, ob du mich dann besser hören kannst«, schnarrte der Lautsprecher des Monitors. Ich schaltete ihn ab. Etwas juckte mich am Ohr. Gedankenverloren kratzte ich daran, ließ es aber schnell bleiben und konzentrierte mich auf das Problem.

»Wenn er kein Problem damit hat, seine Mannschaft umzulegen, dann würde er Nakamotos gesamten Clan über die Klinge springen lassen, ohne mit der Wimper zu zucken. Nakamotos Revier ist der Süden von Osaka. Die Clans von Osakas Norden, Kobe, Kyoto und Tokyo teilen das Gebiet unter sich neu auf und sind damit diesen Schandfleck los, der sich nicht an die guten alten Traditionen halten will.«

Der Rotäugige nickte. »Aber wenn Nakamoto die alten Traditionen über Bord wirft, dann bestimmt nicht aus Spaß. Was will er stattdessen?«

Ich stutzte. Darüber hatte ich noch nicht nachgedacht.

»Komm schon!«, drängelte er. »Nakamoto ist so weit gegangen, seine einzige Tochter an einen Banausen wie dich zu verheiraten. Wofür? Mizuki hat es dir doch schon gesagt. Und Victor auch! Also, was will er?«

Es schien wichtig zu sein, also gab ich mir Mühe. Was genau hatte Mizuki gesagt? Sie wollte neue Wege beschreiten. Und was hatte Victor erzählt? Irgendwas von Geschenken des Docs im Blut der Yakuza. Der Preis für Mizukis Hand war die Leitung des M.I.E.N.A.I. – Die Kontrolle über die KIs.

Ich betrachtete das rotäugige Polizistenich mit ganz neuen Augen. »Du bist es. Nakamoto will dich!«