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H azel saß in der Kutsche des High Constables, die Hände in Ketten gelegt, und sah die dunkle Landschaft vorbeiziehen. Erst als sie die Hauptstraße erreichten, hatte sie sich wieder so weit beruhigt, dass sie einen klaren Gedanken fassen konnte. Wenige Minuten später hatte sie schließlich die Geistesgegenwart, den Kopf aus dem Fenster zu stecken und den High Constable auf sich aufmerksam zu machen, der oben auf dem Kutschbock saß und die Pferde lenkte. Der Wind peitschte ihr das Haar ins Gesicht und ihre Stimme fühlte sich in ihrer Kehle angespannt und dünn an. »Können Sie nicht wenigstens die Ketten abnehmen? Ich bin keine Mörderin.«
Er beachtete sie nicht und die Kutsche fuhr weiter ratternd die gepflasterte Straße entlang. Soweit Hazel es beurteilen konnte, waren sie in nördlicher Richtung unterwegs, doch in der Dunkelheit war sie sich nicht sicher. Hazel überlegte, wie sie entkommen könnte: Die Tür war von außen verriegelt, aber würde sie vielleicht durch das Fenster passen? Höchstwahrscheinlich nicht, und selbst wenn, wie weit würde sie mit diesen Ketten schon kommen? Der Constable war doppelt so groß wie sie.
Nach ein paar weiteren qualvoll stillen Sekunden lehnte sie sich wieder aus dem Fenster. »Verzeihen Sie bitte. Können Sie mir zumindest sagen, wen ich ermordet haben soll?«
Mondschein spiegelte sich in der Glatze des Constables. Auch diesmal drehte er sich nicht zu ihr um, doch nach einer kurzen Pause räusperte er sich. »Ich nehme an, dass Sie eine Frau namens Florence Fitzpatrick kennen«, sagte er, wobei jede Silbe vor Verachtung triefte.
Panisch und von Angst getrieben, ging Hazel in Sekundenschnelle die Namen aller Personen durch, die sie jemals in ihrem Leben getroffen hatte. Doch mit einer Frau namens Florence Fitzpatrick hatte sie nie Bekanntschaft gemacht. Es handelte sich also um einen Irrtum. Ihr Schrecken ließ ein wenig nach und sie entspannte sich etwas. Das war alles ein Missverständnis. Ein Fehler. Das Ganze würde sich aufklären. »Nein«, antwortete Hazel, deren Stimme merkwürdig schrill in ihren Ohren hallte. »Ich kenne diese Person nicht. Sie irren sich.«
Der High Constable prustete. »Mhmm«, war sein einziger Kommentar.
Es musste ein Irrtum sein. Sie durchkämmte methodisch ihr Gedächtnis. Der Name war ihr völlig fremd, aber vor allem beruhigte sie die Tatsache, dass in den vergangenen Monaten keine einzige Frau, die sie behandelt hatte, gestorben war. Letzten Januar hatte sie bei einem Mann namens Billy Barber einen Tumor entfernt. Nachdem sie seinen Bauch geöffnet hatte, wo sich ein harter Klumpen Fleisch so groß wie eine Orange herauswölbte, hatte sie zu ihrem Entsetzen festgestellt, dass seine Organe mit festen schwarzen Geschwülsten übersät waren. Sie hatte zwar den ersten Tumor entfernt und die Wunde genäht, doch eine Woche später verstarb er. Darum konnte es sich nicht handeln. Hazel hatte seine weinende Witwe getröstet und Blumen für seine Beerdigung geschickt.
Vielleicht brachte der Constable sie nur zur Befragung irgendwohin. Vielleicht würden sie in wenigen Minuten auf dem Anwesen des Lord High Constable höchstpersönlich eintreffen, wo er ihr eine Tasse Tee anbieten und sie von ihren Ketten befreien würde und sie daraufhin gemeinsam über das Missverständnis lachen würden.
Und dann sah Hazel den Ort, an den er sie brachte, oben auf dem Hügel, hoch wie eine mittelalterliche Festung, und sie wusste, dass sie nicht zu einem Herrenhaus zum Teetrinken unterwegs war: Calton Gaol. Es war ein aus Stein erbautes Gefängnis mit Ecktürmen, die über Edinburghs New Town aufragten. Es hatte erst vor ein paar Jahren seine Tore geöffnet und Hazel erinnerte sich daran, wie sie Percy bei einem ihrer wenigen Ausflüge in die Stadt darauf aufmerksam gemacht hatte. Aus der Ferne betrachtet, thronte das imposante Gebäude – das höchste in der Gegend – hoch oben auf einer grasbewachsenen Anhöhe und sah aus wie eine Burg. Percy hatte mit klebrigen Fingern darauf gezeigt und Hazel gefragt, ob der König dort wohne, wenn er Schottland besuchte. An dem Tag waren Wagen an ihnen vorbeigerattert, Ladeninhaber hatten ihre Treppen gekehrt und Händler den Preis ihrer Fische angepriesen.
Hazel hatte sich zu Percy hinunterbeugen müssen, um mit ihm zu sprechen. Damals musste er etwa vier oder fünf Jahre alt gewesen sein. »Nein, Perce«, hatte sie geantwortet. »Das ist ein Ort, an den böse Menschen geschickt werden, wenn sie anderen Menschen wehgetan haben. Aber wir müssen uns darüber keine Gedanken machen.« Über einen Besuch des Königs in Schottland mussten sie sich genauso wenig Gedanken machen – ihr Monarch hatte sich seit bald zwei Jahrhunderten nicht mehr hier blicken lassen –, aber damit behelligte Hazel ihren Bruder nicht.
Was hatten sie an dem Tag sonst noch unternommen? Es war so schwer, sich daran zu erinnern. Es musste vor Georges Tod gewesen sein, weil Percy und sie keinen gemeinsamen Tag mehr in der Stadt verbracht hatten, nachdem der Schatten der Trauer über die Familie gefallen war.
Die Räder der Kutsche prallten auf der Straße gegen eine besonders harte Unebenheit und Hazel wurde aus ihrem Sitz hochgeworfen und schlug sich dabei den Kopf am Dach an. »Autsch!«, schrie sie.
»Ruhe dahinten«, kam die Antwort des Constables, der seinen Befehl mit einem festen Schlag auf das Kutschendach unterstrich.
Hazel setzte sich zurück. Das alles war ein Missverständnis. Zweifellos all den gefährlichen Gerüchten entsprungen, die über sie kursierten. Sie war eine Frau, die eine Vermählung ausgeschlagen hatte und nunmehr allein lebte, unbeaufsichtigt durch die Gegend tollte und als Chirurgin arbeitete. Da war es nicht verwunderlich, dass Leute sie mit Argwohn betrachteten. Als ein verruchtes Frauenzimmer. Ja, sogar als eine Bedrohung. Aber Hazel kannte keine Florence Fitzpatrick und hatte gewiss auch keine ermordet. Sie schloss die Augen und wiederholte immer wieder bei sich, dass sich alles klären würde. Ihr Onkel, ihre Mutter, ihr Vater. Sie waren prominente Persönlichkeiten – adlige Persönlichkeiten. Menschen, die ihr helfen und die neue Polizeitruppe von Edinburgh vermutlich in große Verlegenheit bringen könnten.
Die Kutsche schlingerte die Straße hinauf und in der Dunkelheit verwandelte sich Calton Gaol zu einem bloßen Schatten, der vor ihnen aufragte. Alles würde sich klären, beruhigte sich Hazel. Alles würde gut werden.
Nachdem sie durch die Tore gefahren waren, erschien ein Wärter und zog Hazel aus der Kutsche. »Das ist aber ein teures Kleid«, sagte er und strich mit seinen fetten Fingern über den Stoff an Hazels Schulter.
Sie riss sich von ihm los.
»Na, so was!« Er gab ein Husten von sich, in dem man den Schleim rasseln hören konnte. »Sind wir aber ein ungestümes Fräulein.« Drinnen wurde Hazel in eine leere Steinkammer geworfen und aufgefordert, ein schlichtes weißes Baumwollkleid anzuziehen. Zum Glück hatte der Wärter ihr die Ketten abgenommen und die Tür hinter sich geschlossen, um ihr ein wenig Privatsphäre zu gewähren.
Die Kammer war feucht und roch nach Fäulnis und menschlichen Exkrementen. Hazel musste beinahe würgen, als sie das Kleidungsstück überzog, das man ihr gegeben hatte. Der raue Stoff kratzte und war mit braunen Flecken übersät, woraus Hazel schloss, dass es vor ihr schon andere getragen hatten. Als sie fertig war, kam der Wärter zurück und legte die Ketten wieder um ihre Handgelenke.
»Ich muss einen Brief schreiben«, sagte sie und fand ihre Stimme wieder, als der Wärter sie den langen Gang hinunterführte. »Sogar mehrere Briefe.«
Der Wärter hustete noch einmal. »Darum kümmere ich mich nicht. Ich steck dich nur in deine Zelle.«
»Meine Zelle ? Sie können mich doch gewiss nicht in eine Zelle stecken, ohne mir zumindest zu erklären, warum ich hier bin!« Hazel wiederholte in Gedanken, dass es sich um ein Missverständnis handelte, es musste einfach ein Missverständnis sein, doch ihr traten Tränen in die Augen.
Der hustende Wärter nahm ein Taschentuch aus einer Brusttasche und spuckte hinein. Dann untersuchte er den Auswurf, faltete das Taschentuch und steckte es wieder weg. »Ich arbeite bloß nachts. Darum kümmere ich mich nicht.«
»Aber irgendjemand muss sich doch darum kümmern.«
»Ja«, sagte der Wärter. »Aber nicht vor morgen früh.« Damit zog er einen Messingschlüssel von einem Ring an seinem Gürtel und öffnete die Tür zu dem kleinen Raum. Im Fackellicht, das vom Gang hereinschien, konnte Hazel nicht mehr als eine kleine Pritsche und einen Nachttopf ausmachen. »Hinein mit dir.«
Hazel gehorchte benommen. Je tiefer sie in das Innere des Gefängnisses vorgedrungen waren, umso durchdringender war der Gestank geworden. Ihre Zelle roch so penetrant nach Schimmel und Eisen, dass ihr fast die Augen davon tränten. »Können Sie nicht zumindest die Ketten abmachen?«, bat Hazel.
Im Gegenlicht der Fackeln war der Mann nur noch ein Schatten und sein Gesicht verschwand in der Düsternis. »Tut mir leid, darf ich nich’«, antwortete er. Er hustete noch einmal und klang fast entschuldigend.
»Was dürfen Sie denn?«, fragte Hazel und hasste die angespannte Furcht in ihrer Stimme.
Als Antwort schloss der Wärter die Tür und drehte den Schlüssel um.
Hazel setzte sich auf die Pritsche – eigentlich nur ein Stück Segeltuch, das über ein Holzgestell gespannt war – und spürte, wie Erschöpfung und Verwirrung sie übermannten. Während sie in der Dunkelheit dem Wasser, das irgendwo in der Ferne tropfte, und leisen Schreien lauschte, fing Hazel Sinnett an zu weinen.