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H azel saß tagelang im Dunkeln und verlor allmählich jegliches Zeitgefühl und jegliche Hoffnung, dass die Briefe, die sie an ihre Familie geschrieben hatte, überhaupt verschickt worden waren. Horace – das war, so hatte sie gehört, der Name des pickelgesichtigen Wärters – brachte ihr weiterhin zweimal am Tag Brot und Käse. Einmal brachte er ihr auch eine Birne. »Verraten Sie es niemandem«, flüsterte er ihr zu und schob sie über den Boden. Sie war mehlig und schmeckte nach Gras, doch Hazel aß sie trotzdem komplett mit Schale und Kernen.

Manchmal hämmerte sie gegen die Tür und verlangte, mit jemandem zu sprechen, verlangte, dass ihr irgendjemand zuhörte. Dann wieder saß sie einfach auf ihrer Pritsche, starrte ins Leere und fragte sich, wie es sich anfühlen würde, zu ihrer Hinrichtung auf das hölzerne Gerüst am Grassmarket geführt zu werden. Hinrichtungen zogen immer große Menschenmengen an. Gewiss würden sie auch zu ihrer Hinrichtung kommen und sie anschreien, verhöhnen und beschimpfen für das Verbrechen, das sie ihrer Meinung nach begangen hatte. Würde man Hazel die Gelegenheit geben, ein paar letzte Worte zu sagen? Würden ihre Beine zittern und so ihre Angst verraten?

Die Körper erhängter Verbrecher waren die einzigen Leichen, die legal seziert werden durften. Hazel wusste, dass sich nach ihrem Fall vom Galgen eine weitere grausige Szene abspielen würde: Jungen, die einander aus dem Weg drängten und versuchten, sich der Leiche zu bemächtigen, weil sie wussten, dass ihnen Medizinstudenten für diese ein nettes Sümmchen zahlen würden. War Jack früher einer von ihnen gewesen? Hatte er sich mit anderen armen Jungen um die Leichen gehängter Krimineller geschlagen, ehe er Munroe kennengelernt und beschlossen hatte, dass es einfacher war, nachts zu den Friedhöfen zu gehen und sie stattdessen auszugraben?

Die Feuchtigkeit in Hazels Zelle war unerträglich. An manchen Tagen legte sie sich wie eine Wolldecke über sie und dann war ihr wieder so heiß, dass Hazel nichts weiter tun konnte, als flach auf ihrer Pritsche zu dösen und zu beten, dass die Zeit schneller verging. Vielleicht war es Jack genauso ergangen, als er hinter Gittern auf seine Hinrichtung gewartet hatte. In letzter Zeit dachte Hazel des Öfteren an ihn und versuchte, sich daran zu erinnern, wie sich seine Haut unter ihren Fingerspitzen angefühlt hatte und wie ihm sein schwarzes Haar ins Gesicht gefallen war. Er war zu ihr und anderen immer so liebenswürdig gewesen. Wenngleich sie sich an nichts Bestimmtes erinnern konnte, das er zu ihr gesagt hatte, wusste sie doch noch, wie sie sich in seiner Nähe gefühlt hatte: als würde sie ihm wirklich etwas bedeuten und als wollte er, dass sie in Sicherheit war und man sich um sie kümmerte.

Jack hatte seine letzten Tage in einer Gefängniszelle verbracht. War auch für ihn die Zeit bedeutungslos geworden? Hatten auch seine Gefühle von einem Moment zum nächsten zwischen Schrecken und Resignation geschwankt? Hazel lauschte den sich dann und wann nähernden Schritten und war sich dabei jedes Mal gewiss, dass dies der Moment war, in dem die Wärter in ihre Zelle kommen und sie dem Tod übergeben würden. Doch jedes Mal liefen sie einfach an ihrer Zellentür vorbei den Flur entlang. Sie fragte sich, ob sie, jetzt, da der Tod nicht nur wahrscheinlich war, sondern unmittelbar bevorstand, das Tonikum trinken würde, dass Dr.  Beecham ihr angeboten hatte. Würde sie aus einem Fläschchen trinken, das eine unbekannte, aber unendliche Zukunft versprach? Sie war sich nach wie vor nicht sicher.

Es war ein weiterer drückend heißer Morgen. An dem Stückchen Käse, das Horace ihr zum Frühstück gebracht hatte, perlte Kondenswasser. Das juckende Baumwollkleid, das Hazel trug und dessen Geruch sie an Pferdeställe erinnerte, klebte ihr an Beinen und Achselhöhlen. Die Luft, die sie einatmete, fühlte sich schwer an. Sie wünschte, sie hätte ein Buch.

Und dann, nach einer halben Ewigkeit, holten sie sie.

Es klopfte an ihrer Zellentür und Schrecken durchfuhr Hazels Körper wie ein elektrischer Stoß. Noch ehe sie sich aufsetzen konnte, schwang die Tür mit einem lauten Knarzen auf. Es war der Gefängniswärter, der sie vor langer Zeit bei ihrer Ankunft in ihre Zelle gebracht hatte. Waren es Wochen? Monate? Hazels Gedächtnis war so durchlässig und formlos wie Gas geworden. Der Wärter stand reglos da wie eine Statue und füllte fast den gesamten Türrahmen aus. Sein Mund war eine gerade, dünne Linie, und noch ehe er auch nur ein Wort gesagt hatte, wusste Hazel, dass sie ihn begleiten musste.

So fühlt es sich also an, dem Tod entgegenzugehen , dachte Hazel und folgte dem schweigenden Wärter den Gang entlang. Weder Geld noch der Einfluss ihrer Familie konnten sie retten und mit jeder qualvollen Minute, die sie in ihrer Zelle gesessen hatte, war ihr stärker bewusst geworden, dass sie noch weniger Freunde besaß, als sie geglaubt hatte. Hazel würde gehängt werden. Wäre sie Dichterin und nicht Chirurgin, könnte sie sich vielleicht mit irgendeinem gefühlvollen Gedanken über die Vergänglichkeit des Lebens oder den grausamen Daseinszweck des Menschen auf Erden trösten. Doch Erschöpfung und Hunger hatten jegliche Poesie in ihrem Gehirn ausgemerzt. Sie war müde und ängstlich, und als ihr der Gedanke »letzte Worte« flüchtig durch den Kopf ging, wollten ihr keine einfallen.

Sie hatte gelesen, dass König Charles I. vor seiner Enthauptung darauf bestanden hatte, zwei Hemden zu tragen, weil es an dem Tag kalt gewesen war und er nicht gewollt hatte, dass man ihn zittern sah und es irrtümlich für Angst hielt. Katherine Howard, eine der todgeweihten Ehefrauen König Heinrichs VIII., hatte darum gebeten, dass man einen Hinrichtungsblock in ihre Zelle brachte, damit sie üben konnte, ihren Kopf daraufzulegen. Denn wenn es schließlich so weit war und die jugendliche Katherine vor den Hunderten Schaulustigen, die ihrer Enthauptung beiwohnen wollten, vorgeführt würde, wollte sie ganz instinktiv handeln und den Vorgang völlig natürlich wirken lassen. Elegant oder gar nahezu choreografiert.

Hazel würde nicht enthauptet, sondern wie eine gewöhnliche Verbrecherin auf dem Marktplatz erhängt werden.

Die Steine, die Hazel in ihrer Unterwäsche versteckt hatte, rieben unangenehm gegen ihre Haut. Obwohl es sehr heiß war und sie gegen ihren Körper gedrückt waren, fühlten sich die Steine dennoch kühl an. Hazel hatte in den vergangenen Tagen ihr Kleid und ihre Strümpfe, wie es ihr nur irgend möglich war, damit gefüllt, ohne erwischt zu werden. Während ihrer Zeit im Gefängnis war sie stark abgemagert. Selbst ohne einen Spiegel merkte Hazel es daran, wie ihre Knie gegeneinanderschlugen und ihr die braunen Haare in Büscheln ausfielen. Hazel wusste, dass Erhängen ein schneller Tod war, jedoch nur, wenn die Wucht des Falls dem Opfer das Genick brach. War die Person zu klein oder zu leicht, reichte die Wirkung der Schwerkraft nicht aus und sie wurde langsam und schmerzhaft von dem Strick erwürgt. Die Steine sollten sie beschweren, um ihr einen raschen Tod zu bescheren.

Als sie sich sicher war, dass der Wärter nach vorne blickte, hob Hazel schnell einen glatten Stein so groß wie ihre Handfläche vom Boden auf und steckte ihn zwischen Kleid und Mieder, wo er gegen die anderen klirrte, die sie bereits dort gesammelt hatte. Sobald sie am Grassmarket waren, könnte sie vielleicht noch andere Steine finden, die flach genug waren, um in ihre Schuhe zu passen.

Der Wärter beschleunigte seinen Schritt. Hazel hielt mit ihm mit und versuchte, ruhig und regelmäßig zu atmen – das war wichtig. Wenn sie schließlich unter dem Galgen stand, wollte sie nicht nervös wirken. Sollten sie doch über Hazel Sinnett sagen, was sie wollten. Sie würden nicht abstreiten können, dass sie ihrem Tod tapfer entgegengetreten war, erhobenen Hauptes, mit geradem Rücken und die Nase trotzig in den Himmel gereckt.

Von dem schummrigen Licht des Atriums führte der Wärter Hazel zum Haupteingang des Gefängnisses. Hinaus in die Außenwelt. Vielleicht sehe ich jetzt zum letzten Mal die Sonne , dachte Hazel gedankenverloren. Sie wünschte, sie hätte sich von ihrer Mutter und ihrem Vater verabschieden können. Ihren Vater hatte sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen, und wenn sie sich nunmehr sein Gesicht vorstellte, sah es wie das in dem Porträt aus, das in ihrem Labor auf Hawthornden hing. Es hatte inzwischen ihre eigene Erinnerung verdrängt, so oft hatte sie das Ölgemälde betrachtet. Sie hätte gern Percy auf die Wange geküsst und ihn ermahnt, brav und nett zu ihrer Mutter zu sein. Jack hätte sie gesagt, dass sie ihn liebte. Doch vielleicht würde sie ihn ja schon bald wiedersehen.

»Da wären wir«, sagte der Wärter, als sie vor der Tür standen. Er zog umständlich einen Ring klirrender Metallschlüssel aus seiner Jacke und wirbelte ihn herum, bis er den richtigen fand. Mit einem Knacken, das Hazel an einen brechenden Knochen erinnerte, schloss er die Ketten an ihren Handgelenken auf. Sie vermutete, dass die Ketten Eigentum des Gefängnisses waren. Ebenso ging sie davon aus, dass sie mit gefesselten Händen zum Galgen gehen würde. Sie trug immer noch das einfache Kleid, das man ihr bei ihrer Ankunft im Gefängnis gegeben hatte. Für einen kurzen Augenblick überlegte sie, ob sie das Ballkleid zurückgeben würden, das sie an dem Abend getragen hatte, als der Constable sie auf der Party verhaftet hatte – das Kleid aus goldenem Stoff, der im Kerzenlicht schimmerte. Sie malte sich aus, wie ein Körper in einer wunderschönen Abendrobe vom Galgen herabfiel, und musste über diese absurde Vorstellung fast lächeln. Wo war dieses Kleid jetzt? Vermutlich in der Truhe der Ehefrau oder der Töchter eines der Wärter. Gut , dachte Hazel. Soll sich jemand anderes daran erfreuen. Dort, wo sie hinging, würde sie es nicht mehr brauchen.

Als sich die Gefängnistür öffnete, sank Hazel fast auf die Knie. Das Licht, die Kälte und der Wind, der ihr über die Wange strich – das alles war einfach zu viel für sie. Während ihrer Zeit im Gefängnis hatte sich auf ihrem Gesicht ein roter, pickeliger Ausschlag ausgebreitet, der sich in der Sonne anspannte und juckte.

Dem Wärter schien unbehaglich zumute. Verlegen trat er von einem Fuß auf den anderen. Seine Miene war eigenartig leer und ausdruckslos. »Niemand fragt mich mehr nach meiner Meinung«, sagte er scheinbar zu sich selbst.

»Wie bitte?«, fragte Hazel.

Er sah zu Hazel hinunter, als wäre er überrascht, sie neben sich stehen zu sehen. »Also«, sagte er und scheuchte sie mit einer Handbewegung weg, als wäre sie eine streunende Katze, »mach schon. Geh.«

Hazel stolperte auf dem gepflasterten Pfad, der zur Straße führte, über ihre eigenen Füße. Nirgends war der Karren zu sehen, der sie in ihrer Vorstellung zum Grassmarket bringen würde. Außer einer hohen schwarzen Kutsche, die so aussah, als gehöre sie dem Richter oder einem Magistrat, war die Straße menschenleer.

»Gehe ich … zu Fuß?«, fragte Hazel.

»Du hältst dich wohl für witzig, was?«, erwiderte der Wärter. »Zu Fuß , dass ich nicht lache.« Er hustete ein paarmal.

Hazel sah sich um. Wohin konnte sie gehen? Gewiss war noch kein Verurteilter mit einer schwarz lackierten, goldverzierten Kutsche zu seiner Hinrichtung gefahren worden. Stand der Wagen, in dem sie abtransportiert werden sollte, vielleicht dahinter? Hazel machte ein paar vorsichtige Schritte nach vorne und spürte, wie die versteckten Steine unangenehm gegen ihre Haut rieben. Ihre Schritte waren unsicher und langsam; sie versuchte zu verhindern, dass die Steine aus ihrem Kleid auf den Boden fielen.

Die Tür der schwarzen Kutsche öffnete sich und legte die Sicht auf einen jungen Mann mit gepuderter Perücke frei. »Kommen Sie, Miss Sinnett. Ich fürchte, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!« Er hatte einen klaren englischen Akzent. Mit einem Blick auf seine Taschenuhr spöttelte er frustriert. »Sie sind doch gewiss in der Lage, schneller zu gehen! Hopp-hopp!«

Hazel blinzelte, gehorchte aber, eilte auf die schwarze Kutsche zu und ließ die Steine aus ihrem Kleid herausfallen. Der Mann in der Perücke half Hazel hinauf in die Kutsche, wo sie sich auf den Platz neben ihm setzte.

»Sie brauchen noch heute ein Bad, das steht schon einmal fest«, erklärte der Unbekannte. Er zupfte an dem weißen Kleid, dass man Hazel im Gefängnis gegeben hatte, und erschauderte vor Ekel.

Die Welt, die sich im Kreis gedreht hatte, seit Hazel das Klopfen an ihrer Zellentür gehört hatte, kam allmählich zum Stehen.

»Dann wird man mich wohl also nicht hängen«, sagte sie.

Der Mann schüttelte den Kopf und lächelte betrübt. »Nein.« Er klopfte gegen das Dach der Kutsche, woraufhin diese die Straße und den Hügel hinunter losschlingerte und sich immer weiter vom Gefängnis entfernte. »Es wurde eine andere Vereinbarung getroffen.«