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D er junge Mann hieß Gaspar Philip Pembroke und war Haushofmeister am Königlichen Hof. Nach nur einer Stunde, die sie gemeinsam in der Kutsche gefahren waren, kannte Hazel bereits seine Ansichten zu schottischer Küche (miserabel), dem Zustand der Straßen von London nach Edinburgh (beschämend) und dem tänzerischen Können der beim Wiener Kongress anwesenden Gäste (besser als erwartet). Seine Kleidung war eigenartig förmlich und altmodisch. Die wenigsten Männer trugen noch gepuderte Perücken, und wenn doch, waren es alte Männer, die nur äußerst widerwillig die Mode ihrer Jugend aufgaben. Gaspar schien um die dreißig zu sein. Alles an seinem Äußeren – von den auf Hochglanz polierten Schuhen bis hin zu seinem weiß gepuderten Haar – deutete auf einen pedantischen Charakter hin. Er wirkte wie ein Mann, der in aller Herrgottsfrühe aufstand, um die Flusen von seinen Hosen zu bürsten und die Falten in seinen Strümpfen zu bügeln.
»Verzeihen Sie bitte«, unterbrach Hazel ihn schließlich, als ihre Kutsche an Pferdeweiden vorbeischaukelte und Gaspar sich gerade darüber ausließ, ob der schottische Kreuzschnabel schöner sang als sein englisches Pendant, »aber können Sie mir bitte sagen, was genau hier vor sich geht?«
»Ah.« Gaspar richtete sich ein wenig auf. Hazel bemerkte, wie er es tunlichst vermied, ihr vor Schmutz strotzendes Kleid mit seinem perfekt geschnittenen Jackenärmel zu streifen. »Wir sind auf dem Weg nach London.«
»London.«
»London. Ja.«
»Aber …« Hazel verstummte. Tausend Fragen schossen ihr gleichzeitig durch den Kopf. Noch am Morgen hatte sie in einer Gefängniszelle gesessen und auf ihre Hinrichtung gewartet. Und jetzt fuhr sie. In einer Kutsche. Nach London. »Bin ich immer noch …?« Hazel hob die Hände und mimte die Ketten, mit denen sie noch vor einigen Stunden gefesselt gewesen war. Dann neigte sie den Kopf zur Seite und streckte die Zunge heraus wie eine erhängte Leiche.
Gaspar zuckte zusammen. »Die kurze Antwort lautet Nein.«
»Was ist die lange Antwort?«, fragte Hazel.
Gaspar seufzte, was den Rüschenschal um seinen Hals zum Flattern brachte. »Die lange lautet Nein, dank der Barmherzigkeit Seiner Königlichen Hoheit des Prinzregenten.«
»Wie ist das möglich? Der Prinzregent?« Hatte ihr Brief ihren Onkel doch erreicht? Und selbst wenn, schien es höchst unwahrscheinlich, dass sich der Prinzregent in die Belange eines schottischen Viscounts einmischen würde. »Warten Sie. Wenn ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, warum fahren wir dann nach London? Ich möchte nach Hawthornden Castle. Wir sind daran vorbeigefahren.« Hazel drehte sich in der Kutsche um und versuchte zu sehen, ob der Rauch, der von Edinburgh aufstieg, immer noch in der Ferne sichtbar war. »Fahren Sie zurück! Ich habe einen Haushalt zu führen. Eine Arztpraxis. Meine Abhandlung! Ich habe an einer Abhandlung gearbeitet. Es ist eine Art medizinisches und anatomisches Handbuch und meine Papiere werden überall in meinem Labor verstreut sein.«
Bei der Vorstellung, wie die zerbrechlichen Pergamentbögen zerfielen oder feucht und schimmelig wurden, sog Hazel hörbar den Atem ein. »Ich muss nach Hause «, endete sie schließlich und verabscheute den jammervollen Ton, der sich in ihre Stimme geschlichen hatte.
Gaspar hob eine Augenbraue. »Sie sind dem Galgen nur deshalb entkommen, Miss Sinnett, weil Sie der Prinz höchstpersönlich nach London bestellt hat. Ich versichere Ihnen, dass, ganz gleich, an welchen unwichtigen Schriften Sie gerade arbeiten, diese jetzt Ihre geringste Sorge sind.«
»Dann sagen Sie mir bitte: Warum hat man mich einbestellt?«
Gaspar seufzte abermals, klopfte gegen das Dach der Kutsche und gab so dem Fahrer das Zeichen anzuhalten. »Meine Hose ist zerknittert, meine Haare sind platt gedrückt und meine Füße schwellen an. Nach allem, was Sie in diesem elenden Gefängnis durchgemacht haben, möchten Sie doch gewiss gerne etwas essen. Es gibt keinen Grund, warum ich Ihnen das alles nicht beim Abendessen erklären könnte.«
Das Gasthaus, vor dem sie ein wenig abseits der Hauptstraße anhielten, war klein, aber behaglich, mit einem prasselnden Kaminfeuer in der Ecke der Gaststube und nur ein paar wenigen anderen einsamen Seelen, die in der Nähe des Ausschanks saßen. Gaspar wählte einen Tisch in der Ecke und breitete eine Serviette auf dem Hocker aus, ehe er darauf Platz nahm. »Das muss wohl ausreichen«, murmelte er.
Bei dem Duft von gebratenem Fleisch lief Hazel das Wasser im Mund zusammen. Als die Frau des Wirts zwei Krüge Bier an den Tisch brachte, trank Hazel ihren in einem Zug aus. Der überbackene Fischauflauf ließ auch nicht lange auf sich warten. Hazel hatte in ihrem ganzen Leben noch nie etwas so Köstliches gegessen. Obwohl sie über viele Jahre hinweg bei Dinnerpartys und Banketten von teuren Köchen zubereitete Speisen gekostet hatte, kam nichts von alldem an den ersten Bissen Fischauflauf in diesem kleinen Gasthaus abseits der Hauptstraße in Richtung London heran. Er wärmte sie von innen. Mit jedem Bissen spürte sie, wie ihre Finger wieder zum Leben erwachten und die Wärme in ihre Wangen zurückkehrte. In ihrer Vorstellung kam es dem ersten tiefen Atemzug gleich, nachdem man fast ertrunken wäre, und Hazel leckte die Kartoffelreste von ihrer Gabel, sobald sie ihren Teller leer geputzt hatte. Der Benimmunterricht ihrer Gouvernante aus Kindertagen löste sich in Nichts auf. Gaspar schob Hazel wortlos seinen nur halb leeren Teller hin.
Dankbar aß sie auch seine Portion.
Als Hazel fertig war, sich zurücklehnte und so satt war wie schon seit Wochen nicht mehr, tupfte sich Gaspar mit seinem Taschentuch die Lippen ab und wandte sich ihr zu. »Gewiss haben Sie davon gehört, dass Prinzessin Charlotte von Wales seit einiger Zeit krank ist.«
Hazel fing an, in Gedanken die Puzzlestücke zusammenzufügen. »Sie hatte das Römische Fieber, nicht wahr? Und sie … hat ihre Verlobung aufgelöst.«
»Ja«, bestätigte Gaspar. »Wenngleich sich die Prinzessin durchaus bewusst ist, dass der Prinz von Oranien sowohl politisch als auch diplomatisch eine ideale Partie wäre. Ich schweife ab. Nachdem sich die Prinzessin vom Römischen Fieber erholt hatte, war der Hof außer sich vor Freude. Doch in den letzten Monaten hat sich ihre Gesundheit abermals … verschlechtert.«
Hazel stellten sich die Haare im Nacken auf. »Das Römische Fieber ist zurückgekommen? Es gibt keinen einzigen bestätigten Fall eines Patienten, der nach seiner Genesung erneut daran erkrankt ist. Das kann nicht zutreffen. Sie kann nicht wieder am Römischen Fieber leiden.«
»Das tut sie nicht«, erwiderte Gaspar knapp. »Oder vielmehr, vermutlich nicht. Ich kann es Ihnen unmöglich sagen.«
»Sie hat doch gewiss einen Arzt. Der König und der Prinz haben doch sicherlich ein ganzes Heer von Ärzten. Was sagen die dazu?«
»Und damit haben Sie den Kern der Sache getroffen«, sagte Gaspar. »Die Prinzessin weigert sich, einen Arzt zu sehen. Ganz gleich, wen. Sie hat sich in ihre Gemächer zurückgezogen und will niemanden außer ihrer Kammerzofe hereinlassen. Ebenso weigert sie sich, mit Seiner Königlichen Hoheit dem Prinzregenten oder mit ihrer Mutter, Ihrer Königlichen Hoheit der Prinzessin von Wales, zu sprechen. Sie hat selbst Ihre Majestät die Königin abgewiesen. Sie behauptet, sie wäre ansteckend. Sie verweigert Nahrung und ihre Wehklagen sind die ganze Nacht hindurch zu hören. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass sie sehr krank ist, und doch hat niemand sie untersuchen können. Wie Sie sich vorstellen können, ist die Situation mittlerweile recht verzweifelt.«
»Ich verstehe«, sagte Hazel langsam. »Aber was habe ich damit zu tun?«
»Der Prinzregent hoffte, man könnte es mit einer anderen Strategie versuchen.« Gaspar strich die Falten seines Kragens glatt. »Die Ärzte, die bisher in den Diensten der königlichen Familie standen, verfügen, wie Sie sich vorstellen können, über die Ausbildung und Erfahrung , die man erwarten würde. Doch als solche sind sie möglicherweise weniger geeignet, um bei einer jungen Prinzessin private Untersuchungen durchzuführen. In London gingen Gerüchte um, dass die Nichte des Viscounts als Chirurgin arbeitet« – bei diesen Worten musterte Gaspar Hazel kritisch von oben bis unten – »und der Prinzregent hielt es für möglich, dass die Prinzessin sich bereitwilliger von einem Arzt ihres eigenen Geschlechts untersuchen lassen würde. Und ihres Alters. Vielleicht könnte sie Sie sogar als eine Freundin betrachten. Mir wurde die Aufgabe übertragen, Sie zu holen.«
»Aber ich bin keine Ärztin«, wandte Hazel ein, und als sie das sagte, wurde es ihr schwer ums Herz. »Nicht offiziell. Ich habe die königliche Arztprüfung nie abgelegt.« Sie spürte, wie der Fischauflauf ihr allmählich wie Blei im Magen lag. Vielleicht war das alles doch ein Missverständnis und man würde sie postwendend zurück ins Gefängnis schicken.
Zu Hazels Erleichterung hob Gaspar lediglich die Schultern. »Wie gesagt, die Situation ist inzwischen wirklich überaus dringlich.«
»Dann kannten Sie die Anklage gegen mich? Bin ich … frei?«
Gaspar räusperte sich, erhob sich, nahm ein paar Münzen aus seiner Tasche und legte sie geräuschlos auf den Tisch. »Betrachten Sie sich im Dienst des Königlichen Hofes«, sagte er, lehnte sich daraufhin zu Hazel vor und flüsterte so leise, dass sie sich später fragte, ob er überhaupt etwas gesagt hatte: »Wenngleich der Königliche Hof ein angenehmeres Gefängnis sein mag, ist er dennoch ein Gefängnis.« Dann trat er plötzlich einen Schritt von Hazel zurück und setzte abermals eine vornehme Miene auf. Er grinste den Gastwirt und seine Frau fröhlich an und stolzierte aus dem Gasthaus, wobei seine seit einem halben Jahrhundert aus der Mode gekommenen Jackenzipfel hinter ihm herflatterten.