12

Z um Glück erreichte Hazel bereits fünf Tage später ihre Reisetruhe aus Edinburgh. Gaspar klopfte gerade an die Tür, als der Diener sie im Eingang abstellte. Heute waren seine Jacke und seine Hose rot gesäumt. Seine gepuderte Perücke war wie immer tadellos frisiert.

»Ah«, sagte er und trat um die riesige Truhe herum. »Wie ich sehe, sind Ihre Sachen gut angekommen.«

Hazel warf den Deckel auf. In Sekundenschnelle wühlte sie darin herum. Ja, gut. Sehr schön. Ihre Notizbücher und die Bögen, auf denen sie ihre Abhandlung geschrieben hatte – Gott sei es gedankt –, ihr gutes Mieder und Unterkleid und ihr Lieblingsschal waren alle da. Aber …

»Wo ist meine Doktortasche?«

Hazel fing an, Sachen aus der Truhe zu werfen. »Es ist eine große Ledertasche. Abgenutzt. Ziemlich rissig. Sie hat früher meinem Vater gehört.«

»Dann hat sie also sentimentalen Wert?«, fragte Gaspar, der mit einem Finger den Saum eines von Hazels Kleidern, die sie halb durchs Zimmer geschleudert hatte, anhob und begutachtete. Bei Hazels Gefühlsausbruch war ihm sichtlich unwohl zumute.

»Nein. Ich meine, ja , aber das ist nicht das Problem. Meine ganze medizinische Ausrüstung ist darin. Mein Skalpell, meine Säge, meine Schere, mein …«

»Jaja. Schon gut.« Gaspar zuckte zusammen, als wären Hazels Worte Würmer, die sie vor seiner Nase baumeln ließ.

»Fürchten Sie sich … vor Ärzten, Gaspar?«

»Ich fürchte mich nicht, herzlichen Dank auch. Ich finde diese Unterhaltung lediglich …«, er suchte nach dem richtigen Wort und fand es schließlich, »… unnötig! Es ist völlig überflüssig, ständig von … Scheren und dergleichen zu reden.« Ihn durchfuhr ein Schauer.

Hazel lächelte. Aus irgendeinem Grund fand sie seine kaum verborgene Angst vor Chirurgie liebenswert.

»Wie dem auch sei«, fuhr Gaspar fort, »ich werde mich darum kümmern. Wir können Ihnen diese Dinge gewiss in London besorgen. Die Stadt ist groß, wissen Sie.«

»Ja, daran zweifle ich nicht. Aber solche Geräte sind etwas sehr Persönliches, und wenn ich …«

»Ich versichere Ihnen!«, stieß Gaspar hervor. »Ich werde mich darum kümmern.« Er richtete seine Manschettenknöpfe. »Und erwähnen Sie dieses kleine – kleine und leicht zu lösende!  – Problemchen, wenn möglich, nicht vor dem Prinzregenten.«

»Haben Sie Prinzregent gesagt?«

»Ja«, sagte Gaspar mit einem Seufzer. »Man hat mich abermals losgeschickt, Sie zu holen. Ich bringe Sie nach Kew. Er möchte persönlich mit Ihnen sprechen.«

Hazel ließ rasch den Blick über ihre Kleider schweifen, die, nachdem sie quer durch England kutschiert und dann achtlos auf den Boden geworfen worden waren, in unterschiedlichem Maße zerknittert waren.

Gaspar bemerkte es. »Dieses hier wird genügen müssen«, sagte er und hob ein grässliches marineblaues Kleid auf, das Hazels Mutter ihr gekauft hatte, damit sie es bei der Beförderungszeremonie ihres Vaters zum Captain trug. Sie hatte es seitdem nie mehr angezogen und erinnerte sich daran, dass es furchtbar warm war und unter den Armen kratzte. »Es ist das einzige in dem Haufen, das halbwegs annehmbar ist.«

»Ich kann dieses Kleid nicht bei dem Treffen mit dem Prinzen tragen. Ich weiß nicht einmal, warum Iona es eingepackt hat – ich hatte es schon seit Ewigkeiten nicht mehr an. Der Saum ist vermutlich zu kurz. Es juckt. Ich werde wie eine erwachsene Frau aussehen, die für irgendeine lächerliche Aufführung wie ein Kind angezogen ist.«

Gaspar klopfte den Staub vom Rock des Kleides. »Ich finde es eigentlich ganz reizend.«

Hazel hielt eines ihrer neueren Kleider hoch, ein schlichtes flachsfarbenes, das sie oft bei ihrer Arbeit im Labor trug. »Kann ich nicht einfach das hier anziehen?«

Gaspar sah aus, als hätte man ihn geohrfeigt.

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Dreißig Minuten später saß Hazel in dem grässlichen marineblauen Kleid mit Gaspar in einer Kutsche und war auf dem Weg nach Kew, eines der vielen Anwesen der königlichen Familie in der Umgebung Londons. »Vergessen Sie nicht, ihn für die Gärten zu loben«, sagte Gaspar. »Und für die Möbel, viele davon hat er selbst ausgewählt. Und knicksen Sie, wenn Sie reinkommen. Tief. « Ein plötzlicher Ausdruck des Schreckens trat ihm ins Gesicht. »Sie wissen doch, wie man knickst, oder? Bitte sagen Sie mir, dass Sie knicksen können. Wir haben keine Zeit mehr, damit ich es Ihnen beibringe.«

»Ja«, sagte Hazel. »Ich weiß, wie man einen Knicks macht. Es wäre einfacher, wenn ich ein Kleid tragen würde, das mir den vollen Gebrauch meiner Gliedmaßen erlaubt, aber ich werde das schon hinbekommen.« Sie ließ kurz die Schulter kreisen, bis sie von irgendwo das leise Reißen einer Naht hörte, und senkte schnell den Arm.

»Ich weiß gar nicht, worüber Sie sich beschweren. Das Kleid sieht großartig aus. Sie könnten fast als eine Lady durchgehen.«

»Ich bin eine Lady, Gaspar.«

»Keine der Ladys, die ich kenne, rennt in Hosen auf Friedhöfen herum.«

»Vielleicht«, erwiderte Hazel, den Blick fest nach vorne gerichtet, während sie ein Lächeln zu unterdrücken versuchte, »heißt das nur, dass Sie noch nicht genügend Ladys getroffen haben.«

Gaspar lief so rot an wie sein Halstuch.

Die Gärten in Kew waren groß und weitläufig und so gepflegt, dass Hazel annahm, dass Hunderte von Bediensteten hier angestellt sein mussten, um sie so ordentlich und adrett aussehen zu lassen. Denn die Tulpen blühten alle gleichzeitig und zeigten in dieselbe Richtung, die Hecken waren akkurat gestutzt und das Gras war von einem saftigen Grün. Ihre Kutsche fuhr eine kleine Brücke entlang über einen blubbernden Teich. Hazel sah hinunter und erblickte riesige, zappelnde Kois im Wasser.

»Zuerst begrüßen wir den König«, erklärte Gaspar, ohne seinen Gang zu verlangsamen. Hazel versuchte, mit ihm mitzuhalten, und folgte seiner Perücke durch die gigantische Eingangshalle des Palastes und schließlich einen scheinbar endlosen Gang entlang, der direkt zu einer kleinen Holztür führte. Gaspar klopfte. Keine Antwort.

»Sir?«, fragte er. Immer noch keine Antwort. Er drehte den Knauf so langsam, dass er kaum knarrte, wandte sich dann zu Hazel um und flüsterte: »Machen Sie nur einen schnellen Knicks. Stellen Sie keine Fragen. Sagen Sie kein Wort zum König. Knicksen Sie und drehen Sie ihm keinesfalls den Rücken zu. Wir machen ihm unsere Aufwartung und gehen gleich wieder.« Hazel nickte zustimmend und Gaspar schob vorsichtig die Tür auf.

Der drückend heiße Raum war klein und erschien noch kleiner, weil alle vier Wände mit derselben smaragdgrünen Brokattapete bedeckt waren, was eine klaustrophobische und verwirrende Wirkung hatte, die von der Hitze und der Spärlichkeit des Zimmers noch verstärkt wurde. Abgesehen von dem Himmelbett, beinhaltete er so gut wie keine Möbel. Der Geruch von Schimmel und Tod hing schwer in der Luft. Hazel musste dem Drang widerstehen, sich einen Ärmel vor Mund und Nase zu halten. Erst als Gaspar sich tief verbeugte, bemerkte sie, dass König George III. überhaupt anwesend war. Er war ein kleiner, in sich zusammengefallener Mann, der vor sich hin brabbelte und dabei leuchtend rosafarbenes Zahnfleisch entblößte. Gaspar starrte Hazel an, die wieder zu sich kam und knickste. »Eure Majestät«, sagte sie und erinnerte sich erst in dem Moment, als ihr die Worte schon über die Lippen gekommen waren, dass sie eigentlich überhaupt nichts hatte sagen sollen. Aber der König reagierte nicht. Er ließ den Blick hierhin und dorthin schnellen und sein Mund öffnete und schloss sich lautlos. Gaspar zupfte an Hazels Arm und die beiden gingen rückwärts aus dem Raum und wieder hinaus auf den Gang, wo sie in der kühlen Luft ausatmeten.

»Ein schlechter Tag«, sagte Gaspar, mehr zu sich selbst als zu Hazel. Er richtete sich auf. »Jetzt gehen wir zum Regenten.«

Gaspar führte Hazel zwei weitere Gänge entlang, eine Treppe hinauf und durch einen dritten Flur. Schließlich traten sie in ein helles Wohnzimmer mit großen Fenstern, die den Garten überblickten, wo der Prinzregent auf einem Podest für ein Porträt Modell stand.

Die vielen Bilder, die Hazel von ihm kannte, hatten ihr den Eindruck vermittelt, der Prinzregent sei ein recht stattlicher Mann. Dies war jedoch nicht der Fall. Seine Figur ähnelte einem Klumpen Lehm, den Kinderhände zerdrückt hatten. Sein Haar war so aggressiv und mit zu viel Pomade nach vorne in die Stirn gekämmt, dass zwischen den fettigen Haarsträhnen Kammspuren auf der pinkfarbenen Kopfhaut zu sehen waren. Kleine, wässrige Augen blickten aus einem Gesicht, das so rot und geschwollen war wie eine Bratwurst.

»Ausgezeichnet, Sir«, sagte der Maler. »Sehr würdevoll.«

Hazel unterdrückte ein Lachen. Gaspar stieß ihr den Ellbogen in die Seite und sie machte einen tiefen und perfekten Knicks. Ihre Mutter wäre stolz auf sie gewesen.

»Eure Königliche Hoheit«, sagte Gaspar und erhob sich aus seiner Verbeugung, die so tief gewesen war, dass ihm seine Perücke beinahe vom Kopf rutschte. »Darf ich Ihnen Miss Hazel Sinnett vorstellen, Lord Almonts Nichte.«

Der Prinzregent zappelte wie ein Kleinkind herum und Hazel fiel auf, dass er einen eng geschnürten Hüftgürtel trug, der wohl seiner fülligen Taille trotzen sollte.

»Ja, nun, angenehm!«, sagte er barsch.

»Die Ärztin«, gab Gaspar höflich das Stichwort, »die die Prinzessin behandeln soll. Wenn Eure Hoheit sich erinnern, war es Euer brillanter Einfall, dass die Prinzessin einem Arzt ihres Alters und Geschlechts eher zugetan wäre. Ein Einfall, der bereits Früchte getragen hat, Sir: Miss Sinnett ist schon in die Gemächer der Prinzessin vorgelassen worden.«

»Jaja. Natürlich. Die Ärztin. Mein brillanter Einfall.« Der Regent blähte die Brust auf und hüpfte von dem Podest herunter. »Das reicht heute mit dem Gemälde, denke ich«, sagte er zu dem Künstler.

Dieser wollte protestieren. »Sir, ich …«

Doch der Regent beachtete ihn nicht weiter. Stattdessen öffnete er seinen Kragen und entfernte den Hüftgürtel mit einer raschen Bewegung und einem Stoßseufzer. »Ein Prinz muss fit und schlank sein!«, deklarierte er in den Raum hinein. Dann wandte er sich zu Gaspar um und kniff die Augen zusammen. »Hatten Sie schon immer so fette Beine, Gaspar?«

»Ja, ich glaube schon, Sir.«

Hazel hatte bereits gewusst, dass sie mit der Politik des Regenten nicht einverstanden war: Er war ein überzeugter Tory, ein Mann, der Krieg und die uneingeschränkte Macht des Adels befürwortete. Doch jetzt, da sie ihm persönlich gegenüberstand, war er ihr auch auf Anhieb zutiefst unsympathisch. Sein Getue und seine hämisch gekräuselte Oberlippe stießen ihr auf. Wie alle ihre Landsleute in Großbritannien wäre sie dankbar, wenn Prinzessin Charlotte den Thron bestieg.

Der Regent sah Hazel so abschätzig an, wie man eine Wanze begutachtete, ehe man sie mit dem Stiefel zerquetschte. »Das ist also der weibliche Arzt. Was für ein hässliches kleines Ding Sie doch sind.«

»Ihr habt mich gewiss nicht meines Aussehens wegen hierherbringen lassen, um Eure Tochter zu behandeln, Eure Königliche Hoheit«, murmelte Hazel leise, hielt seinem Blick jedoch stand.

Der Regent stolzierte zu ihr herüber und blieb nur wenige Zentimeter vor ihr stehen. Dann beugte er sich noch weiter vor und Hazel wollte mit jeder Faser ihres Körpers vor ihm zurückweichen und den Kopf und den Blick senken, doch sie widerstand diesem Drang. Er hatte schrecklichen Mundgeruch, wie ranzig gewordenes tierisches Fett. »Lassen Sie mich eines klar und deutlich sagen, Miss Sinnett «, begann er und Hazels Magen zog sich zusammen.

Sie war sich nicht sicher gewesen, ob er auf ihren Namen geachtet hatte, denn er hatte … albern gewirkt. Aber jetzt blickte er ihr fest in die Augen und Hazel wurde bewusst, wie mächtig er war und dass seine Worte nun todernst waren.

»Die Gesundheit der Prinzessin ist für diese Nation wichtiger, als Sie es sich je vorstellen könnten. Brillante, äußerst brillante Experten haben sie untersucht und behandelt. Sie sind nichts weiter als ein Experiment, eine bloße Fußnote. Ich erwarte, dass Sie versagen werden, und wenn das passiert, werde ich Sie nach Schottland zurück in die armselige Hütte schicken, die sie ein Schloss nennen und wo Sie den Rest Ihres Lebens Zähne ziehen und gebrochene Eselbeine richten werden. Und sollten Sie irgendetwas tun, das der Prinzessin schadet oder ihren Zustand auf irgendeine Weise verschlechtert, werden Sie um Ungnade betteln .« Der Regent machte auf seinen teuren Absätzen kehrt. »Guten Tag, Miss Sinnett. Guten Tag, Gaspar.«

Hazel hätte über seine Schroffheit und den Schrecken des Ganzen gelacht, wenn ihr nicht bewusst geworden wäre, dass ihre Hände zitterten. »Dann werde ich wohl Instrumente brauchen«, sagte sie zu Gaspar. »Chirurgische Werkzeuge. Und Kräuter.«

Die Worte des Regenten hatten Gaspar offenbar ebenso erschüttert. »Jaja. Hier in Kew Palace gibt es eine Krankenstation. Nehmen Sie sich, was Sie brauchen, und lassen Sie es mich wissen, wenn Sie noch etwas anderes benötigen.«

»Danke.«

Hazel verließ den Raum, machte sich auf den Weg zur Krankenstation und versuchte, sich zu beruhigen und ihr Zittern zu unterdrücken. Sie würde die Prinzessin behandeln. Sie würde nicht versagen. Sie hatte sich selbst, Dr.  Beecham und Dr.  Straine bewiesen, dass sie sich im Anatomieunterricht behaupten konnte. Und sie würde sich abermals als fähig erweisen, weil sie nicht wissen wollte, was mit ihr oder ihrer Familie geschehen würde, sollte sie dieses Mal scheitern.

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In einem königlichen Palast hätte sie das wohl erwarten sollen, aber die Krankenstation in Kew Palace hätte sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Ihr stockte der Atem, als sie eintrat und die große Auswahl an aufgereihten, glänzenden chirurgischen Werkzeugen sah. Sie forderten Hazel geradezu dazu auf, die Hand nach ihnen auszustrecken und sie für sich zu beanspruchen. Auf den Regalen über dem Arbeitstisch standen neben Baumwollbinden und Alkohol gut organisierte, in alphabetischer Reihenfolge geordnete Gefäße mit getrockneten Kräutern und Arzneimitteln. Einige Namen auf den Etiketten waren ihr völlig unbekannt, Heilmittel, von denen Hazel noch nie gehört hatte und die sie erst recht nie gesehen oder auf die sie jemals Zugriff gehabt hätte. Aber es gab auch Bücher, eine richtige Miniaturbibliothek, in der sie sicherlich Informationen darüber finden würde, welche Pulver man zu einer Heilpackung zusammenmischen musste, um Blutungen zu stillen, und welche man als Tee braute, um Schlafsucht zu behandeln. Bei dem Gedanken an all das Wissen, das zwischen den rissigen Lederumschlägen zu finden war, schlug ihr Herz höher und sie streckte die Hand nach dem ersten Buch aus, das auf einem in der Nähe stehenden Stapel lag: eine auf Französisch verfasste Erörterung zur Behandlung von Schwermut.

Nachdem sie das erste Kapitel gelesen hatte, riss sich Hazel wieder davon los und schwor sich, hierher zurückzukommen, um es fertig zu lesen. Genau wie auch all die anderen Bücher, die sie mit dem Versprechen lockten, neue Dinge zu lernen und eine bessere Chirurgin und Ärztin zu werden. Doch heute war sie mit einem speziellen Vorhaben hier und so machte sie sich daran, ihre verlorene Doktortasche zu ersetzen, und trug eine neue Schere, ein neues Skalpell, eine scharfe Nadel und eine Spule starken schwarzen Fadens zusammen. Sie war gerade dabei, eine kleine Säge zu begutachten, als sie hörte, wie sich hinter ihr jemand räusperte.

Sie wirbelte herum und erblickte einen Mann, der mit über der Brust verschränkten Armen dastand. Er war sehr groß, vermutlich um die eins dreiundachtzig, aber noch auffälliger waren seine stämmige Statur, seine kräftigen Schultern und sein breiter Oberkörper. Bei dem Körperbau und seinem blonden Haar hätte Hazel ihn für einen Ackerbauern halten können, also jemanden, der stundenlang in der Sonne körperliche Arbeit verrichtete. Doch allmählich fielen ihr mehr und mehr Details an seinem Äußeren auf: Er war wie ein Gentleman gekleidet und hatte eine maßgeschneiderte Jacke an. Sein Schnurrbart war ordentlich getrimmt und er trug eine Brille. Runde Gläser in einer Metallfassung, die seine Augen einrahmten, welche an die Farbe von Honig auf Toast erinnerten.

»Was haben Sie hier zu suchen?«, fragte der blonde Unbekannte. Er hatte einen leichten Akzent, den Hazel nicht ganz einordnen konnte. Seine Silben waren genau, aber eigenartig abgerundet. »Falls Sie eine Diebin sind, legen Sie das, was Sie gestohlen haben, einfach wieder hin. Ich würde die Wachen zwar ungern rufen, nur sind einige dieser Instrumente recht wertvoll und ich würde mir lieber die Mühe ersparen, sie zu ersetzen.«

»Ich bin keine Diebin«, schoss Hazel zurück. Der fremde Mann hob eine Augenbraue und ihr wurde bewusst, dass sie die Arme voller Dinge aus der Krankenstation hatte. Sie ließ alles mit einem Scheppern auf den Arbeitstisch fallen. »Gaspar hat gesagt, ich könnte hierherkommen«, erklärte sie.

»Ah«, sagte der Mann und trat einen Schritt näher. Er lächelte nicht. »Und hat Ihnen Gaspar ebenfalls gesagt, dass Sie – schauen wir mal – mein Skalpell, meine Schere, meine Säge und meinen Faden nehmen können?«

Hazel trat vor den Arbeitstisch, um ihm die Sicht darauf zu versperren. »Theoretisch. Wenn ich sie genommen habe, dann nur, weil ich nicht wusste, dass diese Dinge Ihnen gehören. Und weil ich die Sachen brauche.«

»Mit diesem Faden können Sie kein Kleid nähen.« Er senkte die Stimme zu einem Scheinflüstern. »Der ist für Haut, nicht für Röcke gedacht.«

»Man hat mich als Ärztin hierherbestellt, um Prinzessin Charlotte zu behandeln. Sie kann sich gewiss weitaus qualifiziertere Näherinnen für ihre Kleider leisten.«

Der Mann trat einen weiteren Schritt nach vorne und Hazel versuchte, ihm den Weg zu verstellen, aber er täuschte links an, bewegte sich jedoch nach rechts und schnappte sich die Schere hinter ihr. Dann ließ er sie zweimal in der Luft zuschnappen. »Eine Kollegin sollte wissen, wie wichtig die eigenen Instrumente sind.«

»Dessen bin ich mir wohl bewusst. Man hat mich aus Edinburgh hierhergebracht und ich habe mir meine Sachen schicken lassen, aber meine Doktortasche ist nicht angekommen. Und mir wurde unmissverständlich klargemacht, was für mich auf dem Spiel steht, wenn ich die Prinzessin behandle. Daher würde ich es vorziehen, eher früher als später damit anzufangen.«

Der Unbekannte legte den Kopf schief. »Seltsam«, sagte er.

»Was ist seltsam?«

»Ich glaube nicht, dass ich da eine Entschuldigung herausgehört habe.«

Hazel kochte vor Wut. Er sah kaum älter aus als sie, vielleicht um die fünf Jahre, redete aber mit ihr, als wäre sie ein Kind. Sie wusste, dass er recht hatte – sie sollte sich entschuldigen. Doch stattdessen erwiderte sie: »Und werden Sie sich für Ihre unverschämte Unterstellung entschuldigen, dass ich chirurgische Instrumente benutzen würde, um ein Kleid zu nähen?«

Er atmete hörbar durch die Nase aus. Nicht ganz ein Lachen, aber seine braunen Augen funkelten ein wenig, entweder vor Belustigung oder Verachtung. Hazel spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss.

»Nun gut«, sagte der Mann nach einer kurzen Pause. »Ich entschuldige mich.« Sein Schnurrbart war wirklich ungemein gerade. Er begutachtete ihn bestimmt jeden Tag aufs Genaueste, um hervorstehende Härchen zu trimmen. Und war es für einen erwachsenen Mann nicht würdelos, blond zu sein? Blondes Haar passte zu Kleinkindern mit rosigen Wangen, nicht zu hochgewachsenen Männern mit breiter Brust und nicht identifizierbarem Akzent, bei denen Hazels Mund trocken wurde, wenn sie näher an sie herantraten.

Das war der Moment, in dem sie sich ebenfalls entschuldigen, die Werkzeuge zurückgeben und ihn höflich fragen sollte, ob es irgendwelche verfügbaren Instrumente gab. Aber sie stand nur wie angewurzelt da und konnte nicht sprechen.

Als könnte er ihre Gedanken lesen, ging der Mann zu einem Schrank am anderen Ende des Raums und öffnete ihn. »Hier drin finden sie alles, was Sie brauchen. Die Ausrüstung hier drin können Sie gerne benutzen, wenn Sie möchten.«

Hazel schwieg weiterhin. Sie war aus Gründen frustriert, die sie nicht in Worte fassen konnte, und noch frustrierter, weil dieser Unbekannte mit seiner Freundlichkeit ihr Recht untergrub, entrüstet zu sein. Etwas an diesem Mann machte sie einfach wütend . Warum war er so höflich ?

»Wie es scheint, sind Ladys in diesem Land weder in der Lage, sich zu entschuldigen noch sich zu bedanken«, sagte der Mann leichthin.

Just in diesem Augenblick ging die Zimmertür auf. Ein gehetzt wirkender Diener holte tief Luft und hielt sich vornüber gebeugt am Türrahmen fest. »Dr.  von Ferris«, keuchte er, »Sie werden im Schlafgemach gebraucht.«

Bevor Dr.  von Ferris – der Dr.  von Ferris? – antworten oder reagieren konnte, stürmte ein alter Mann im Nachthemd am Diener vorbei in die Krankenstation. »Ich hasse diese Festivitäten, aber ich darf mir einfach nichts anmerken lassen und muss hingehen!«, sagte er und machte eine Pirouette auf Hazel zu. »Lady Marlborough, Sie sehen einfach fabelhaft aus!« Die Haare des Mannes standen in allen Richtungen ab und seine runden Augen waren so weit aufgerissen, dass man auf allen Seiten das Weiß darin sehen konnte. Hazel bemerkte, dass seine Haut wie nach einem nächtlichen Zechgelage rot und geschwollen war. Ihr fiel auch auf, dass es sich bei diesem merkwürdigen Mann, der in Wahnvorstellungen gefangen war, um denselben Mann handelte, vor dem sie noch vor Kurzem ihre Aufwartung gemacht hatte: den König von England.

Dr.  von Ferris schob sich lässig zwischen Hazel und König George III.

»Eure Majestät«, sagte der Arzt und verbeugte sich tief. »Wenn ich Euch zum Speisezimmer begleiten dürfte.« Behutsam nahm er den Arm des Königs und ging langsam mit ihm aus dem Raum. Der König ließ sich von dem Doktor nach draußen führen, warf Hazel aber noch einen entschuldigenden Blick zu. Hazel lächelte und König George lächelte zurück.

»Sie dürfen die Ausrüstung aus dem Schrank nehmen«, sagte Dr.  von Ferris, ehe er durch die Tür trat. »Aber bitte nehmen Sie keines meiner persönlichen Werkzeuge.«

»Das werde ich nicht«, sagte Hazel leise. Dann lauschte sie, wie die Schritte der beiden Männer den Gang hinunter verschwanden und wie der Klang von Dr.  von Ferris’ beruhigendem Murmeln immer leiser und leiser wurde.