14
A uf Elizas Drängen hin stimmte Hazel zu, sich ein neues Kleid für den Regentenball zu besorgen. »Es tut mir leid, aber Sie können die Kleider, die Sie bisher anhatten, keinesfalls weiter tragen«, sagte die Hofdame, während sie eines Tages an Hazels Rock zupfte. »Dieser Saum ist drei Zentimeter zu kurz und das Oberteil ist seit sechs Monaten aus der Mode.«
»Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt auf den Ball gehen werde, Miss Murray«, wandte Hazel ein. »Ich habe jede Menge Arbeit und bin hier, um die Prinzessin zu behandeln, nicht um … ich weiß auch nicht … Quadrillen zu tanzen.«
Eliza warf ihr einen kurzen, vernichtenden Blick zu und verdrehte dann die Augen. »Sie sollen die Prinzessin behandeln, die auch auf dem Ball sein wird. Na bitte. Das ist doch im Prinzip Teil Ihrer Aufgabenbeschreibung. Ich weiß nicht, warum Sie es mir so schwer machen, Ihnen dabei zu helfen, auch ein wenig Spaß zu haben.«
»Warten Sie. Die Prinzessin geht auf den Ball?« Außer bei den wenigen Malen, wenn sie in dem nahe gelegenen Park spazieren gingen, hatte Hazel Charlotte noch nie außerhalb ihres Schlafgemachs gesehen. »Ich glaube nicht, dass ihre Gesundheit das erlaubt.«
Eliza verzog den Mund zu einer angespannten, dünnen Linie. »Selbst Prinzessin Charlotte weiß, wann sie mit ihrem Vater Kompromisse eingehen muss. Er will, dass sie einen Ehemann auswählt und fertig. Einen Teufel auf ihre Gesundheit.« Sie beugte sich vor und Hazel tat es ihr gleich. »Wenn Sie mich fragen, wäre es ihm am liebsten, wenn er sie einfach mit dem Prinzen von Oranien verheiraten könnte und sie ein für alle Mal das Land verlassen würde.«
»Warum würde der Regent wollen, dass die Prinzessin das Land verlässt? Sie ist bei Weitem das beliebteste Mitglied der Königsfamilie.«
»Eben darum«, erwiderte Eliza. »Haben Sie nicht bemerkt, wie die Menschen für sie Schlange stehen? Begeistert ihren Namen rufen?« Das hatte Hazel durchaus. Fast jeden Tag, wenn sie Warwick House besuchte, wartete in der Nähe eine Schar Bewunderer, die zu Charlotte hinaufriefen und ihr alles Gute für eine schnelle Genesung wünschten. »Und Sie haben den Regenten ja persönlich getroffen. Ich will ja nicht schlecht von Seiner Königlichen Hoheit sprechen«, sagte sie mit einem Grinsen, »aber er ist ein Mann, der alle Lorbeeren für sich einheimsen möchte. Je schneller Charlotte mit einem Ehemann außer Landes ist, umso schneller werden sich seine Untertanen auf ihn konzentrieren, und je schneller sie einen Sohn zur Welt bringt, umso schneller können die Menschen sie ganz und gar vergessen.«
»Sie macht sich also durch die Heirat selbst entbehrlich.«
»Jede Frau, die heiratet, macht sich entbehrlich«, erwiderte Eliza. »All die Dinge, für die wir als junge Frauen gefeiert werden – dass wir charmant, kokett und klug sind –, gelten bei einer verheirateten Frau und Mutter als beschämend und peinlich, so als würde man zu viel Rouge auftragen. Selbst unsere Erziehung erfüllt keinen Zweck mehr, sobald wir vermählt sind. Charlotte und ich wurden in Sprachen und Musik unterwiesen, um gebildet genug zu sein, potenzielle Ehemänner anzuziehen. Wir heiraten und werden zu würdigen älteren Damen, die ihre Söhne dazu erziehen, Entscheidungen für uns zu treffen.«
Hazel erinnerte sich daran, wie es sich angefühlt hatte, als Bernard ihr einen Antrag gemacht hatte und sie wusste, dass sie ihr ganzes restliches Leben einem engen und fest vorgegebenen Pfad folgen würde, wenn sie ihn annahm. Tag um Tag das passende Kleid tragen, die richtige Höflichkeitsbesuche machen, Kinder bekommen und dabei zusehen, wie die Erinnerung daran, was sie einmal an Chirurgie und der menschlichen Anatomie begeistert hatte, mehr und mehr verblasste.
»Das muss wohl der Grund sein, warum ich nicht vorhabe, jemals zu heiraten«, sagte Hazel. Der Gedanke hatte in dem Moment, als sie ihn aussprach, volle Gestalt angenommen. Sie würde nicht heiraten. Sie hatte einmal Liebe gefunden, doch da Jack nicht mehr bei ihr war, würde Hazel von nun an lediglich nach ihren eigenen Regeln leben.
»Für einen weiblichen Chirurgen ist das ja schön und gut«, bemerkte Eliza. »In dieser Hinsicht sind Sie wohl eine Rarität. Doch Prinzessin Charlotte kann sich das nicht erlauben. Ihre Heirat ist ein Ereignis von großer diplomatischer und politischer Bedeutung. Einen Erben zu gebären, ist ihre wichtigste Pflicht an die Krone.«
»Und deshalb geht sie, krank oder nicht, auf den Ball ihres Vaters.«
Eliza nickte. »Doch für gewöhnlich gelingt es mir, sie frühzeitig aus solchen Veranstaltungen herauszuschmuggeln.«
»In Ordnung«, sagte Hazel. »Ich werde dort sein.« Nicht zuletzt, dachte Hazel, da es eine weitere Gelegenheit war, die Prinzessin im Auge zu behalten, sie in der Öffentlichkeit zu studieren und sich weiter Notizen über ihre Symptome zu machen. Ihre Behandlung war womöglich doch wie eine Art Entenjagd. Hazel würde warten und geduldig beobachten müssen, während sich die Hinweise langsam offenbarten und vielleicht zu einer Diagnose führten.
Eliza musterte immer noch Hazels Kleid und runzelte die Stirn, als sie den Stoff des Ärmels zwischen den Fingern rieb. »Sie werden sich von Madame Thire ein neues Kleid machen lassen. Keine Widerrede. Ich werde persönlich dafür sorgen, dass sie rechtzeitig damit fertig wird.«
»Tatsächlich hatte ich schon einmal ein Kleid von Madame Thire!«, entfuhr es Hazel überrascht. Sie freute sich, etwas beitragen zu können, das Eliza gefallen würde. »Meine Mutter hat ihr letztes Jahr meine Maße geschickt.«
»Ach ja?«, erwiderte Eliza. »Na, das ist ja dann ganz leicht. Tragen Sie dieses Kleid. Das kann ja nur viel besser sein als die, in denen Sie hierherkommen. Nichts für ungut.«
Was war mit diesem Kleid geschehen? Sie hatte es bei Mercers Party getragen, an dem Abend, als sie verhaftet wurde. Sie hatten sie in diesem Kleid ins Gefängnis gebracht und sie gezwungen, es gegen das steife Baumwollteil für weibliche Häftlinge zu tauschen. Vermutlich befand sich ihr schönes goldgelbes Kleid immer noch dort und verschimmelte, zu einer Kugel zerknüllt und nachlässig zur Seite geworfen, in der feuchten Luft eines Kerkers. »Ich … habe es nicht mehr«, meinte Hazel. »Ich, ähm, habe es verloren.«
Eliza blinzelte langsam. »Nun gut«, sagte sie. »In diesem Fall bleiben wir bei unserem ursprünglichen Plan. So ist es vermutlich ohnehin am besten – ein einmonatiges Kleid ist schon peinlich genug. Und es ist noch schlimmer, wenn Sie es bereits einmal getragen haben.«
»Einmal?«
»Sie sind in London, meine liebe Miss Sinnett. Vielleicht gelten in Edinburgh Tartans und einfache Kleider als entzückend, aber Sie werden schon sehen. Ich beschütze Sie. Die Leute hier werden Sie bei lebendigem Leib auffressen, wenn Sie ihnen die Gelegenheit dazu geben.«
»Und ein Kleid von Madame Thire wird mich etwa davor retten?«
Eliza wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger. »Ein Kleid von Madame Thire wird sie ausreichend ablenken, damit Sie als Erste zuschlagen können.«
Mit einer Freundin der Prinzessin befreundet zu sein, hatte seine Vorzüge: Gleich am nächsten Tag lud Madame Thires Atelier Hazel kurzfristig zu einer Anprobe mit der berühmten Schneiderin höchstpersönlich in einen kleinen, aber hübsch eingerichteten Laden mit weißen Säulen in einer eleganten Ecke unweit von Soho ein.
»Das wird schnell gehen müssen«, sagte Madame Thire zur Begrüßung und führte sie nach hinten ins Atelier. »Jedes junge Ding aus der feinen Gesellschaft möchte ein neues Kleid, um einem schneidigen Soldaten ins Auge zu fallen, jetzt, da sie alle aus dem Krieg gegen Napoleon zurückgekehrt sind.« Sie redete mit Nadeln im Mund. »Sie. Miss Hazel Sinnett. Hawthornden Castle, Edinburgh. Ich habe hier irgendwo Ihre Maße. Ich vergesse nie eine Kundin.« Sie schätzte Hazel mit missbilligendem Blick ab. »Um die Brust haben Sie drei Zentimeter verloren und wir brauchen einen bauschigeren Rock, um diese schrecklich dünnen Beine zu verbergen. Kommen Sie.«
Und schon wurde Hazel, die kein Wort sagte, auf ein Podest gescheucht, damit Madame Thire mit einem Stück Faden, den sie aus einer der vielen versteckten Taschen ihres Rocks zückte, ihre Maße nehmen konnte.
Madame Thire war eine große Frau so um die vierzig, wenngleich es schwer war, ihr ein genaues Alter zu geben. Ihre dunkle Haut war glatt, doch sie arbeitete so hochkonzentriert, dass sich zwischen ihren Augen eine tiefe Falte bildete. Locken fielen ihr aus der Haube und Hazel sah, wie eine einzige graue Haarsträhne Madame Thires Gesicht einrahmte. Die Frau musterte Hazel aufmerksam.
»Pink wird Ihnen nicht stehen«, erklärte sie. Sie sprach mit einem weichen karibischen Akzent.
»Oh«, antwortete Hazel.
»Blau-, Grün- und Juwelentöne. Die werden Ihren reizenden Teint zu Geltung bringen. Sie müssen mehr essen. Trinken Sie bei Ihrer Ankunft auf dem Ball ein Glas Champagner, davon bekommen Sie rosige Wangen.« Madame Thire sprach, als würde sie einen Brief diktieren. Hazel fragte sich, ob sie sich Notizen machen sollte. »Bleiben Sie hier.« Die Schneiderin rauschte davon und ließ Hazel allein auf dem Podest im hinteren Teil des Zimmers stehen. Zwar hatte sie noch das Kleid an, in dem sie gekommen war, dennoch fühlte sie sich eigenartig nackt.
Kurz darauf kehrte Madame Thire mit einem großen Ballen mitternachtsblauen Stoffs zurück. »Wir haben leider keine Zeit, eigens ein Kleid für Sie anzufertigen«, erklärte sie. »Aber ich denke, Sie würden in diesem hier reizend aussehen. Probieren Sie es an.«
»Hier?«
»Nein, in den Kolonien. Ja , hier. Zack, zack.«
Und so entkleidete sich Hazel sehr verlegen bis auf ihr Mieder und ließ sich von Madame Thire das dunkelblaue Kleid über den Kopf streifen.
»Ja«, sagte Madame Thire. »Ja, das ist viel besser.« Und ohne auf eine Antwort von Hazel zu warten, begann die Schneiderin, das Kleid abzustecken und enger zu nähen sowie das Oberteil anzuheben, damit es perfekt auf Hazels Taille saß. Ihre Hände bewegten sich so schnell, während sie hier und da kleine Stiche hinzufügte, dass Hazel Madame Thire fast zehn Minuten bei der Arbeit zusah, ehe ihr auffiel, dass sie an ihrer linken Hand nur vier Finger hatte. An der Stelle des kleinen Fingers befand sich nur noch ein wenig rosafarbenes Narbengewebe, das wie eine Brandnarbe glänzte. An ihren weißen Rändern erkannte Hazel, dass es sich um eine alte Wunde handelte, die vermutlich von einer Verletzung vor vielen Jahren herrührte.
»So«, sagte Madame Thire und zog Hazel das Kleid wieder über den Kopf, bevor diese überhaupt die Gelegenheit hatte, sich im Spiegel zu betrachten. »Ich werde die Änderungen vornehmen und Ihnen das Kleid nächste Woche zu Ihrer Wohnung schicken.«
»Danke«, sagte Hazel. Sie griff nach ihrer Geldbörse, um Madame Thire für das Kleid zu bezahlen, doch die Schneiderin winkte ab.
»Ich will nichts dafür«, sagte sie. »Betrachten Sie es als ein Geschenk.«
»Nein«, erwiderte Hazel. »Nein, bitte. Ich bestehe darauf.«
Madame Thire nahm die Hand nicht herunter. »Es ist mir eine Freude, interessante Frauen kleiden zu können, Miss Sinnett. Ganz zu schweigen von Frauen, die als Leibärztin der Prinzessin von England dienen.« Sie lächelte und Hazel sah in ihren Augen etwas aufblitzen, das ihr nicht gänzlich wie Freundlichkeit erschien. Madame Thire starrte zu lange, ohne zu blinzeln, während sie Hazel weiter abschätzte, obwohl sie nicht mehr auf dem Podest des Ladens stand. »Schön, Sie persönlich kennenzulernen, Miss Sinnett.«
Die Glocken an der Tür des Ateliers klingelten fröhlich, als Hazel hinaus auf die Straße trat und zurück zu ihrer Kutsche ging. Wenngleich es ein warmer Tag war, überkam sie ein plötzliches Schaudern, das sie nicht abschütteln konnte.
Das Kleid traf am Morgen des Regentenballs ein und wurde eigenhändig von einem Diener gebracht, der mit einer großen elfenbeinfarbenen Schachtel in den Armen hinten von einer Kutsche sprang. Das Papier darin war so dünn wie Spinnweben. Und obwohl Hazel nicht viel von dem Kleid gehalten hatte, als sie es in Madame Thires Atelier anprobiert hatte, musste sie doch zugeben, dass es zauberhaft war, als sie am Nachmittag hineinschlüpfte und sich im Spiegel betrachtete. Das Kleid war blau, aber so dunkel wie ein Nachthimmel und mit Silberfaden durchwirkt, der bei jeder Bewegung wie Sternenlicht schimmerte. Der Schnitt war ihr gewöhnlich vorgekommen – die Ärmel waren an den Schultern gekappt und die Taille saß direkt unter ihrer Brust –, doch als Hazel es anzog, fühlte sie sich wie verwandelt. Bei anderen Ballkleidern hatte sie stets das Gefühl gehabt, sie würde sich verkleiden, aber in diesem hier fühlte sie sich wie sie selbst.
Madame Thire war wirklich ein Genie, dachte Hazel, wirbelte den Rock des Kleides herum und beobachtete, wie die silbernen Stickereien das Licht vom Fenster einfingen. Der Stoff war dünn und seiden und glitt wie Wasser über Hazels Haut. Als sie aus ihrem Zimmer trat und einen letzten Blick von sich im Spiegel erhaschte, ging ihr noch durch den Kopf, wie sehr sie sich wünschte, Jack könnte sie in diesem Kleid sehen. Dass er sie in irgendeinem eleganten Kleid gesehen hätte. Er hatte sich in sie verliebt, als sie schlammverschmiert, erschöpft und blutbespritzt gewesen war. In einem anderen Universum hätten sie Hand in Hand zu einer Dinnerparty gehen können, ohne sich irgendwelche Sorgen machen zu müssen oder von Albträumen geplagt zu werden. Nur sie beide, während sie sich daran erfreuten, sauber zu sein, feine Kleidung zu tragen und einander durch einen überfüllten Ballsaal hinweg anzulächeln, als teilten sie ein Geheimnis.
Als Hazel in Buckingham House eintraf, war die Soirée schon in vollem Gange. Kutschen säumten die Straße zu beiden Seiten und Gäste in ihren maßgeschneiderten, prachtvollen Gewändern ergossen sich auf den Rasen. Im Ballsaal spielte das Orchester eine fröhlich-flotte Melodie und der Klang der Geigen waberte durch den herrschaftlichen Sitz – vorbei an den vielen fremden Menschen zu Hazel hinüber, die sich fragte, wohin sie gehen sollte, um sich nicht fehl am Platz zu fühlen. Schon allein in der Eingangshalle standen gewiss fünfzig Gäste in kleinen Gruppen beieinander und steckten die Köpfe zusammen, um sich über den neuesten Tratsch auszutauschen. Das Flüstern und der Klang aufschnappender Fächer unterstrichen die Musik wie Schlaginstrumente. Weder Eliza noch die Prinzessin waren irgendwo zu sehen. Das einzige Gesicht, das Hazel erkannte, war das von Madame Thire, die neben einer Frau stand, die nach der französischen Mode gekleidet war. Hazel winkte, doch Madame Thire schenkte ihr nur ein angespanntes Lächeln, nickte und wandte sich dann wieder ihrer Unterhaltung zu.
Und dann entdeckte Hazel ein weiteres vertrautes Gesicht: Neben dem Tisch mit den Speisen stand Simon von Ferris und sah so aus, als wäre er lieber ganz woanders. Er war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet und sein weißes Hemd spähte nur ein klein wenig oben am Kragen hervor.
Hazel trat zu ihm. »Dr. von Ferris.«
»Miss Sinnett.«
»Ich muss schon sagen«, meinte Hazel, »dass ich ein wenig überrascht bin, Sie hier zu sehen. Ich hätte Sie nicht bei dieser Art von Soirée erwartet.«
Simon beugte sich so weit an sie heran, dass er ihr fast ins Ohr flüsterte. »Und bei welcher Art von Abend hätten Sie mich erwartet?«
Hazel wich zurück und kappte die aufgeladene Spannung zwischen ihnen. Sie sah sich um, ob irgendjemand bemerkt hatte, wie nah sie sich gekommen waren – niemand achtete auf sie. »Was haben Sie letztens noch gesagt? Tee, ein gutes Buch und früh ins Bett.«
»In einer perfekten Welt«, antwortete Simon. »Aber die Stellung eines königlichen Leibarztes ist vor allem eine politische. Ich muss mich sehen lassen. Und ich habe festgestellt, dass ich bei öffentlichen Auftritten gut bin. Wenn es gilt, die Oberschicht zu bezaubern, bin ich ein Naturtalent.«
Hazel verschluckte sich an einem kleinen Ziegenkäse-Törtchen. »Sie machen wohl Scherze. Als ich hereingekommen bin, haben Sie wie ein verängstigtes Kind dagestanden.«
»Vielleicht habe ich nur auf den richtigen Augenblick gewartet.«
»Den richtigen Augenblick wofür?«
Simon schwieg einen kurzen Moment. Er sah hinunter und betrachtete Hazels mitternachtsblaues Ballkleid mit den silbernen Stickereien. »Ein neues Kleid«, sagte er.
»Ist das ein Kompliment?«, fragte Hazel.
»Nur eine Beobachtung.«
»Nun, für einen Mann der Wissenschaft hätte ich erwartet, dass Sie sich präziserer Methoden bedienen. Sie haben mich gerade einmal bei drei Gelegenheiten gesehen. Sie können gar nicht wissen, dass mein Kleid neu ist. Man muss seine Schlüsse aus wahrnehmbaren Faktoren ziehen.«
»Sie irren sich«, erwiderte Simon. »Es gibt mehrere wahrnehmbare Faktoren.« Er musterte konzentriert den Stoff und Hazel spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. »Die Nähte sind makellos, keine gerissenen oder herausgezogenen Fäden. Der Saum weist keinerlei Verschmutzungen auf. Und die Bügelfalten hier …« – er hielt den Finger knapp über Hazels Bauch – »… und hier …« – und dann über ihren Oberschenkel – »… weisen darauf hin, dass es erst kürzlich aus einer Schachtel genommen wurde. Ergo: ein neues Kleid.« Er hielt die Hand so nah über ihren Körper, dass er das Kleid beinahe berührte und sie durch den Stoff seine elektrisch aufgeladene Haut spüren konnte. Und dieses Gefühl verweilte, selbst als er die Hand wieder wegnahm.
»Und abermals«, sagte Hazel, »hat die Arroganz eines männlichen Kollegen die Oberhand gewonnen. Das alles verrät Ihnen nicht, ob das Kleid tatsächlich neu ist oder ob ich lediglich hervorragend darauf achtgebe. Vielleicht bewahre ich es ja in einer Schachtel auf, wenn ich es nicht trage.«
»Und dann ist da noch Ihre Haltung«, gab Simon zurück.
»Was meinen Sie damit?«
»Frauen stehen immer anders in einem neuen Kleid. Aufrechter. Die Schultern gestrafft. Sie strahlen. Sie sehen schön aus und wissen es auch.«
»Das ist keine wissenschaftliche Beobachtung«, sagte Hazel.
»Nein?«, erwiderte Simon. »Es gibt jedoch eine Möglichkeit, um mit Gewissheit zu sagen, ob es sich um ein neues Kleid handelt oder nicht.«
»Und die wäre?«
»Herauszufinden, wie es beim Tanzen aussieht.« Er blickte völlig ernst, ohne auch nur den leisesten Anflug eines Lächelns in den Augen. »Erweisen Sie mir die Ehre? Um der Wissenschaft willen?« Simon bot Hazel seinen Arm an. Sie hakte sich bei ihm ein und ihre silbernen Seidenhandschuhe waren so dünn, dass es sich fast so anfühlte, als würden sie sich an den Händen halten.
Sie konnte die Blicke auf ihnen beiden spüren, als sie den Ballsaal betraten. Simon schien es zu entgehen. Er sah geradeaus und hielt sich vollkommen aufrecht.
»Und, ist es das?«, fragte Simon schließlich, als sie ihre Plätze einnahmen.
»Ist es was?«
»Ein neues Kleid.«
»Ja«, sagte Hazel. »Es ist ein neues Kleid. Aber so, wie Sie darauf gekommen sind, war es dennoch lediglich ein Zufallstreffer.«
Während Hazel und Simon sich einander zuwandten, bereit, mit dem Tanzen zu beginnen, lächelte er so sehr, dass sich an seinen Wangen Grübchen bildeten.
Der Tanz wurde unterbrochen, als am Eingang des Ballsaals eine Gruppe Männer erschien und sich alle zu ihnen umdrehten. Es war eine kleine Schar, vermutlich ein halbes Dutzend, alle in derselben preußischen Uniform: leuchtend rote Jacken, hohe Stiefel und enge weiße Hosen. Ihr Kommandant stach sofort heraus. Zwar war er nicht der Größte oder der Attraktivste unter ihnen, doch er wirkte sehr souverän. Er befand sich an der Spitze der Gruppe wie ein Vogel an der Spitze einer fliegenden V-Formation und hatte die Hüfte locker zur Seite geneigt. Seine Jacke war mit so vielen Medaillen geschmückt, dass Hazel sich fragte, wie er überhaupt die Zeit gefunden hatte, sie sich alle zu verdienen.
»Der preußische Prinz, nehme ich an?«, wandte sie sich an Simon.
»Friedrich August – einer der jüngeren Söhne des preußischen Thronfolgers. Ein fester Bestandteil des Hofes, seit sie ihn nach der Schlacht von Leipzig gefeiert haben.«
Mit seinem nach vorn gekämmten Haar und einem hämischen Grinsen auf den Lippen gab er eine gute Figur ab, das ließ sich nicht bestreiten. Der Prinz von Oranien – Prinzessin Charlottes ehemaliger Verlobter –, der in der Ecke des Saals stand, war hingegen ein schmächtiger Junge. Er sah aus wie ein vorpubertäres Kind, genau wie Eliza ihn beschrieben hatte. Oranien wuchs noch nicht einmal ein Schnurrbart, lediglich ein paar lächerliche Härchen auf der Oberlippe. In krassem Gegensatz dazu sah Prinz Friedrich August wie ein Mann aus. Kein Wunder, dass Prinzessin Charlotte ihre Verlobung mit dem Prinzen von Oranien schon bei den ersten Anzeichen eines Fiebers aufgelöst hatte – Hazel konnte es ihr nicht verübeln.
Hazel beobachtete, wie Prinz Friedrich August auf Eliza Murray zustolzierte, sich tief verbeugte und ihre Hand küsste. Sie knickste und wiederholte die Begrüßung an einen sonnengebräunten Jungen mit lockigem Haar gewandt, der schüchtern hinter dem Prinzen stand. Hazel vermutete, dass es sich um Elizas Ersten Leutnant handelte, und ihre Vermutung erwies sich als richtig, als Eliza in Begleitung des lockigen Jungen zu ihr herüberkam.
»Miss Sinnett, darf ich Ihnen Leutnant Otto von Anhalt vorstellen. Leutnant, das ist Miss Hazel Sinnett, sie ist die Ärztin, die sich um unsere Prinzessin Charlotte kümmert.«
Otto verbeugte sich. »Die Freude ist ganz meinerseits.«
Hazel lächelte Eliza an, in der Hoffnung, ihr so ihre Zustimmung mitzuteilen. Er wirkte sehr nett und war mit seinem vollen Haarschopf und seinem kompletten Gebiss recht gut aussehend.
Als Otto sich wieder aufrichtete, wandte er sich an Simon. »Sollen wir den Damen Erfrischungen besorgen?«
»Aber sicher«, antwortete Simon, ohne den Blick von Hazel abzuwenden. Die Männer gingen.
»Was meinen Sie?«, sagte Eliza zu Hazel. »Er sieht gut aus.« Sie sagte es wie eine Feststellung, zu Hazel wie auch zu sich selbst.
»Das tut er durchaus«, erwiderte Hazel, die versuchte, möglichst positiv zu klingen.
»Ich glaube, ich werde ihn heiraten«, sagte Eliza. »Seine Zeit im Dienst des preußischen Prinzen endet nächsten Monat und dann kehrt er nach Hause zurück. Er hat mich gebeten, mit ihm zu kommen. Seine Familie hat ein Anwesen und er verdient zwar gut als Soldat, aber seine Familie ist wohlhabend. Er verfügt über etwa fünftausend Pfund im Jahr.« Hazel antwortete nicht sofort und Eliza musterte sie, bevor sie fortfuhr: »Ich kann ja nicht bis in alle Ewigkeit bei Prinzessin Charlotte bleiben. Sobald sie wieder gesund ist, wird sie heiraten und in einen neuen Haushalt mit neuem Personal ziehen und ich werde noch älter sein mit noch weniger Zukunftsaussichten. Keinen Zukunftsaussichten. Ich mag Otto. Ich mag ihn sogar sehr und ich glaube, dass ich ihn mit der Zeit sogar lieben könnte. Er ist sehr liebenswert. Sehr liebenswert. Und lustig! Und er ist sehr geduldig mit mir gewesen.«
»Also, ich finde, er klingt reizend«, meinte Hazel.
Eliza lächelte, als die Männer mit Gläsern Champagner zurückkehrten.
»Kommt die Prinzessin heute Abend?«, fragte Otto. »Ich habe gehört, sie würde anwesend sein.«
Eliza schüttelte den Kopf. »Sie war zu krank. Kopfschmerzen.« Sie vermied es, Hazel anzusehen. »Wenn Sie mich entschuldigen würden«, sagte sie und schlüpfte durch die Menge.
»Haben Sie eine Diagnose?«, murmelte Simon Hazel zu.
»Nein«, antwortete sie. »Aber ich habe sie endlich untersuchen können. Keine Blasendehnung. Keine Pocken, Gott sei Dank. Auch kein erneutes Römisches Fieber. Sie hatte eine Temperatur und hat sich über Magen- und Kopfschmerzen beschwert. Ihre Augen waren gerötet und geschwollen.«
»Kopfschmerzen und Rötungen um die Augen könnten auf Gelbfieber hindeuten. Zu viel gelbe Galle?«
»Das habe ich auch gedacht, aber ihre Haut war rosig. Kein bisschen gelblich. Eher rötlich.«
»Vielleicht Scharlach?«
»Ihre Zunge war völlig normal. Und keine Halsschmerzen oder geschwollene Drüsen.«
Simon überlegte kurz. »Erbricht sie sich?«, fragte er. »Es könnte Typhus sein.«
»Kein Erbrechen«, sagte Hazel. »Zumindest weiß ich davon nichts. Das Fieber ist zu niedrig für Typhus. Und es würde die Bauchschmerzen nicht erklären.«
»Eine Schwangerschaft?«, fragte Simon mit einer hochgezogenen Braue. »Das würde die Schmerzen und die Müdigkeit erklären.«
Hazel schüttelte den Kopf. »Sie steht unter zu genauer Beobachtung. Miss Murray ist rund um die Uhr bei ihr und ich bin mir sicher, dass der Vater sich von den Dienstboten ebenfalls Bericht erstatten lässt. Kein Mann könnte sich ihr auch nur auf einen Meter nähern. Vielleicht ist es eine Krankheit, die ich noch nie gesehen habe. Möglicherweise etwas Seltenes. Vor allem beunruhigt mich der Gedanke, dass unter ihrer Haut irgendetwas wächst, das ich nicht sehen kann.«
Bisher hatte sie das noch nicht laut ausgesprochen, doch seit sie Charlotte untersucht und so wenige physische Symptome gefunden hatte, hatte Hazel diese Sorge nachts wach gehalten. Zu Hause in Edinburgh hatte sie Patienten aufgeschnitten und Tumore in der Größe von Orangen gesehen, die schwarz an ihren Organen pulsierten. Was wäre, wenn Charlotte von innen vergiftet wurde und Hazel es übersah? Ohne einen chirurgischen Eingriff konnte sie sich dessen unmöglich sicher sein und sie würde es nie riskieren, die Prinzessin zu operieren, ohne sich dessen völlig gewiss zu sein.
Hazel bemerkte, wie wunderbar es war, darüber zu sprechen und in der Gesellschaft eines Kollegen laut darüber nachzudenken. Seit ihrem kurzen Aufenthalt in der Anatomists’ Society hatte sie nie wieder die Gelegenheit gehabt, mit irgendjemandem über Medizin oder Chirurgie zu diskutieren, und damals hatten sie gar nicht über echte Fälle gesprochen. Sie waren übernächtigte Studierende gewesen, die aufgeregt Notizen auf ihren Zeichnungen verglichen hatten. Und Hazel war auch gar nicht Hazel gewesen, sondern George Hazelton (oder war es George Hazleton?) und hatte die Kleidung ihres Bruders getragen. Es war ein schönes Gefühl, sie selbst zu sein, um Rat bitten zu können und sich mit einem Mann über Medizin zu unterhalten, der sie wie eine Kollegin behandelte und nicht wie eine Kuriosität oder etwas Absonderliches.
»Hmmm.« Simon hielt sich einen Finger an den Schnurrbart. Gedankenverloren strich er über ihn, was er immer tat, wenn er nervös war oder nachdachte, wie Hazel bemerkt hatte. »Einer meiner Dozenten in Uppsala sagte einmal etwas zu mir, als ich noch an der medizinischen Fakultät war. Er sagte, dass, wenn man vier Hufe in der Ferne galoppieren hört, man erst ›Pferd‹ denken sollte, bevor man ›Kamel‹ in Betracht zieht.«
Auf der anderen Seite des Saals beobachtete Hazel, wie Prinz Friedrich August und seine Männer miteinander lachten und tranken, während sie sich gegenseitig die Arme um die Schultern schlangen. Eliza stand in der Nähe und nippte neben Otto anmutig an einem Glas Wein.
»Dann wollen Sie damit sagen«, meinte Hazel, »dass es bei einem scheinbar verwirrenden medizinischen Rätsel wahrscheinlicher ist, dass es sich um eine gewöhnliche Krankheit mit ungewöhnlichen Symptomen handelt.«
»Genau.«
Das Orchester stimmte einen flotten Walzer an und ohne Vorwarnung zog er Hazel so plötzlich an der Taille an sich, dass sie nach Luft schnappte. »So fängt dieser Tanz doch an, nicht wahr?«, fragte Simon.
»Ich glaube schon«, erwiderte Hazel und ohne ein weiteres Wort wirbelten die beiden inmitten der anderen Gäste im Kreis herum.
Simon von Ferris war ein steifer und förmlicher Tänzer, denn sein Körper war schlicht zu groß, um anmutig zu sein, wie Hazel es genannt hätte. Er ließ nie die Schultern hängen und hielt den Ellbogen stets exakt auf der richtigen Höhe. Simon war so aufs Tanzen konzentriert, dass Hazel nicht glaubte, dass ihm bewusst war, wie viel Aufmerksamkeit ihm die Damen am Rande des Ballsaals schenkten. Sie sah, wie diese die Blicke über Simons Figur wandern ließen und ihr Tuscheln hinter ihren geöffneten Fächern verbargen. Sie begehrten ihn, begriff Hazel. Doch als sie zu Simons Gesicht aufblickte, sah er nur sie an.
Der Walzer endete und das Klatschen wurde von einer schiefen Fanfare unterbrochen, die die Ankunft des Prinzregenten ankündigte. Er trat mit mürrischer Miene und einer leuchtend roten Jacke ein und Gaspar neben ihm trug wie immer seine altmodische gepuderte Perücke. Mit geblähter Brust ließ der Regent den Blick über die Menge schweifen, offenbar unzufrieden mit dem, was er sah, obgleich die Höflinge sich tief verbeugten und ihr unterwürfigstes Lächeln aufsetzten. Dann drehte er sich zu Gaspar und fragte ihn etwas, das Hazel nicht hören konnte. Gaspar antwortete mit einem Kopfschütteln und der Prinzregent stürmte davon, ohne auch nur ein einziges Mal zu tanzen.
Sein Auftritt und abrupter Abgang nahmen der Party den Wind aus den Segeln. Die freudige Stimmung im Raum verpuffte und knapp eine Stunde später machten sich auch die restlichen Gäste auf den Heimweg. Friedrich August und seine Freunde schienen sich keiner Anspannung bewusst zu sein – sie stapelten Champagnergläser aufeinander und lachten, als die Stielgläser in sich zusammenfielen und auf dem Boden zersprangen.
Am Rande der Tanzfläche nahm Hazel Eliza beiseite. »Hat Charlotte jemals den Prinzen Friedrich August als Gemahl in Betracht gezogen?«
Eliza schüttelte den Kopf und warf einen Blick in den Raum, um sich zu vergewissern, dass niemand sie gehört hatte. »Nein, um Gottes willen, nein! Warum? Was haben Sie gehört?«
»Nichts!«, sagte Hazel. »Ich habe mich das nur gefragt. Da er ja ein Prinz ist und so. Im passenden Alter. Und er scheint recht … na ja, gesellig.«
Eliza schüttelte noch einmal den Kopf. »Nein. Nicht alle Prinzen haben das Format, eine zukünftige Königin von England zu heiraten. In Europa wimmelt es nur so von Prinzen. Friedrich August ist von relativ niedrigem Rang. Er ist nicht der älteste Sohn und stammt von dem jüngeren Zweig seiner Familie ab. Doch das wäre nicht einmal das Problem, wenn da nicht sein Ruf wäre. Er ist ein Schuft . Es gibt Gerüchte von zwei unehelichen Kindern und einem Dutzend gebrochener Herzen in seinem Gefolge. Nein …«, sagte Eliza, »… er ist Soldat und wird durch ganz Europa scharwenzeln und Frauen den Kopf verdrehen, bis sein Vater ihn zwingt, im Gegenzug für ein bescheidenes Erbe sesshaft zu werden. Es gibt eine äußerst geringe Zahl potenzieller Bewerber, die für eine Vermählung mit Prinzessin Charlotte infrage kämen, und das weiß sie sehr wohl. Zudem ist er meines Wissens nach bereits verlobt. Mit irgendeiner österreichischen Herzogin oder dergleichen. Die Arme. Deshalb reist er nächsten Monat auch ab und Otto kehrt nach Hause zurück. Friedrich August hat die Geduld seines Vaters endgültig erschöpft und so wird er nun zu seiner Braut verschifft. Sie wird den Rest ihres Lebens dabei zusehen müssen, wie er ihr gemeinsames Vermögen verspielt.« Eliza und Hazel drehten sich um und beobachteten, wie der Prinz den Arm einer kichernden Blondine mit Küssen übersäte. »Reizend«, bemerkte Eliza. »Und wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich muss mich darum kümmern, dass die Prinzessin ihren Kräutertee bekommt, bevor sie zu Bett geht.«
Um sie herum löste sich die Party langsam auf und Hazel wollte sich Simon zuwenden, um sich von ihm zu verabschieden. Und um ihm für den Tanz, seine Hilfe bei Charlottes Diagnose und dafür zu danken, dass er den Abend so viel angenehmer gemacht hatte, als er ohne seine Gesellschaft gewesen wäre. Doch er war nicht mehr da. Er war in der Menge verschwunden oder gegangen, während Hazel sich mit Eliza unterhalten hatte.
Diese Tatsache hinterließ bei Hazel das Gefühl, als wäre der Abend eine unfertige Melodie, ein bis zur letzten Strophe gespieltes Lied, das nunmehr in der Luft hing, sodass man die Anspannung mit Händen greifen konnte.
Hinter ihr erleuchteten Laternen die Fenster von Buckingham House, eine gespenstische Lichtblase, die sich von dem tiefschwarzen, sich samtig ausdehnenden Gras von St. James’s Park absetzte. Es war ein schöner Abend und Hazel beschloss, zu Fuß nach Hause zu gehen, erst durch den Park und dann entlang des dunklen Bands der Themse bis zu ihrer Wohnung. Als sie ankam, war sie wieder voller Energie. Die kalte Nachtluft und der Rotwein, den sie getrunken hatte, hatten sie belebt. Während sie sich auszog und das Kleid ordentlich faltete, von dem Simon gewusst hatte, dass es brandneu war, dachte sie an Momente des Abends zurück.
Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. In dem Augenblick war sich Hazel einer Sache völlig gewiss, die bis dahin nur eine bohrende Frage, eine Vermutung gewesen war, die sie nicht losließ. Sie wusste endlich, was der Prinzessin fehlte. Ihre Diagnose stand fest und in diesem Moment sah sie es mit überwältigender Klarheit.
Hazel war in Gedanken so sehr mit Prinzessin Charlotte beschäftigt, dass sie den Umschlag auf ihrem Kissen fast nicht bemerkt hätte.
Niemand war im Zimmer und die Straße war ebenfalls menschenleer gewesen. Sie fragte sich, wann und wie der Brief auf eine solch vertraute Weise überbracht worden war.
Der Umschlag war dick, blutrot und mit einem roten Wachssiegel in der Gestalt eines menschlichen Gehirns verschlossen. Er war in roter Tinte adressiert, die auf dem Umschlag nahezu unsichtbar war, hätte sie nicht im Kerzenlicht geschimmert.
Vorne stand ihr Name in Schönschrift: Miss Hazel Sinnett.