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I n dem roten Umschlag befand sich kein Brief, lediglich ein Zettel ohne Unterschrift, auf dem etwas in derselben regelmäßigen Schönschrift wie die für Hazels Name geschrieben stand. Es war ein Gedicht, ein Rätsel und eine Einladung in einem und Hazel las die Zeilen erst im Stillen, dann laut, um sie auf ihrer Zunge zu spüren.

Wo es sechs sind, doch es sieben heißt,

Und ein großer weißer Löwe wacht,

Blick hinter Pierce’ Entwurf und finde das Hirn

Dreiundzwanzig Uhr, Donnerstagnacht

Es war eine Einladung zum Club der Todesgefährten, dessen war sie sich fast sicher – oder zumindest eine Einladung, die davon abhing, dass sie das Rätsel löste. (Für einen flüchtigen Augenblick war Hazel gleichermaßen erregt und empört bei dem Gedanken, dass Lord Byron höchstpersönlich in ihr Schlafzimmer gekommen sein und die Einladung hinterlegt haben könnte.)

Um herauszufinden, wohin der Vers sie führte, wäre es wohl einfacher gewesen, wenn sie sich in London besser auskennen würde, dachte Hazel bei sich. Vermutlich gab es irgendwo in der Stadt eine Marmorskulptur eines weißen Löwen, vielleicht waren es gleich sechs in verschiedenen Größen. Oder »sechs« verwies auf eine Hausnummer und sie musste nach einer Nummer 6 auf einer Seventh Avenue suchen oder dergleichen.

Das Ganze war außerordentlich spannend, doch ehe Hazel sich noch länger damit befassen konnte (hier liegt gewiss irgendwo ein Stadtplan herum) , traf ein weiterer, persönlich zugestellter Brief ein.

Mit einer tiefen Verbeugung reichte ihr Gaspar den Brief, und obwohl Hazel ihn herzlich begrüßte, war seine Miene sehr ernst, als er sich wieder aufrichtete. »Der Regent ist kein geduldiger Mann«, erklärte er.

Hazel brach das königliche Siegel an dem Umschlag und überflog rasch die kurzen Zeilen.

Miss Sinnett,

die Abwesenheit der Prinzessin auf dem heutigen Ball hat mich sehr bestürzt. Sollte Charlotte in drei Wochen immer noch zu krank sein, um meiner Feier zu Ehren der Beförderung von Sir Robert Mends zum Commodore beizuwohnen, können Sie Ihre Stellung als beendet betrachten.

Seine Königliche Hoheit,

George, Prinzregent

Gaspar musterte Hazels Miene, während sie las. »Stecken Sie in Schwierigkeiten?«, fragte er zaghaft. »Der Regent … wirkte nicht sehr zufrieden.«

»Wenn ich raten müsste«, antwortete Hazel, »würde ich sagen, dass der Regent kein Mann ist, der je zufrieden ist. Ich stecke nicht in Schwierigkeiten. Er hat mir lediglich eine Frist gesetzt.«

»Und … das bringt Sie nicht in Schwierigkeiten?«

»Nein«, sagte Hazel. »Nicht, wenn man weiß, was man tut.«

Vignette

Als Hazel am nächsten Morgen in Warwick House eintraf, war Charlotte schlecht gelaunt. Elizas Protesten zum Trotz stürmte Hazel ins Schlafgemach der Prinzessin. »Sie ruht sich aus! Sie möchte keine Gesellschaft! Sie will nicht einmal mich bei sich haben!«

Die Vorhänge im Zimmer der Prinzessin waren zugezogen und es war drückend heiß, denn trotz des angenehmen, sonnigen Frühlingstages draußen prasselte ein Feuer im Kamin. Das Schlafzimmer war zu einer dunstigen, feuchten Höhle geworden und Hazel machte nur einen kurzen angedeuteten Höflichkeitsknicks, ehe sie sich vor der Prinzessin aufbaute und sagte: »Ich weiß jetzt, was Ihnen fehlt.«

Die Prinzessin hatte auf einem kleinen Berg von Kissen gelegen, den Arm über die Augen drapiert, um auch noch das letzte bisschen Licht in dem dämmrigen Raum abzuschirmen. Mit einem Ruck setzte sie sich auf und sah Hazel an.

»Was meinen Sie? Ich meine, was ist es?«

»Ich weiß, was Ihnen fehlt«, wiederholte Hazel.

Die beiden Frauen sahen sich einen kurzen Moment lang in die Augen, dann lehnte sich Charlotte wieder zurück. »Nun, das wäre eine Überraschung. Mein Vater hat Dutzende von Spitzenmedizinern aus der ganzen Welt kommen lassen und sie haben mich gegen alles Erdenkliche behandelt. Gegen Kopfschmerzen und gestörte Körperflüssigkeiten. Man hat mir Blutegel gesetzt, Wundflüssigkeiten abgeleitet und Schmerzen bereitet. Ganz gleich, was für eine Behandlung Sie vorhaben, ich werde nicht versprechen, mich ihr zu unterziehen, ehe ich gehört habe, worum es sich handelt. Was ist es also? Ein Tonikum? Schröpfen? Kommen Sie mir bloß nicht mit Aderlass, das wurde schon ausprobiert und ich fand es entsetzlich. Davon bekomme ich Hunger.«

Hazel schüttelte den Kopf. »Das wird nicht notwendig sein.«

»Oh?«

»Nein«, bekräftigte Hazel.

Die Prinzessin schlug ihr Kissen auf. »Na, dann bin ja gespannt, wie Sie vorhaben, mich zu heilen.«

»Ich werde Sie nicht heilen«, erwiderte Hazel. »Denn Ihnen fehlt überhaupt nichts. Sie haben die ganze Zeit nur vorgetäuscht, krank zu sein.«

Prinzessin Charlotte öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Sie biss die Zähne zusammen und sah sich im Zimmer um, Eliza war nicht da. Sie waren nur zu zweit, lediglich das Knistern des Kaminfeuers durchbrach die Stille. Hazel hielt entschieden Blickkontakt.

Schließlich fragte die Prinzessin leise und mit ausdrucksloser Miene: »Warum würde ich eine Krankheit vortäuschen?«

»Weil«, antwortete Hazel und bemühte sich, mit ruhiger Stimme zu sprechen, »eine kranke Prinzessin die Hochzeit mit dem Prinzen von Oranien verschieben und dann die Verlobung ganz auflösen kann. Und wenn eine Prinzessin zu krank ist, um einen anderen Ehemann zu finden, kann sie eine Heirat vielleicht sogar vollkommen abwenden.« Hazels Herz raste und sie beobachtete das Gesicht der Prinzessin ganz genau, doch Charlotte verzog keine Miene. »Denn vielleicht ist die Prinzessin in jemanden verliebt, mit dem sie nicht zusammen sein kann. Und wenn sie eine Krankheit vortäuscht, muss sie nicht zu Dinnern oder Partys oder Bällen erscheinen und dabei zusehen, wie diese Person jemand anderen heiratet. Wenn sie krank ist, kann sie im Bett bleiben, ihre Vorhänge vor der Welt zuziehen und an dem Ort bleiben, wo es noch die Hoffnung gab, mit der Person zusammen zu sein, die sie liebt.«

Was Hazel der Prinzessin nicht sagte, war, dass sie genau wusste, wie sich das anfühlte. Nach Jacks Tod hatte Hazel sich in ihre Arbeit zurückgezogen, in das Labor unter Hawthornden, wo Tage und Nächte ineinander übergegangen waren. Das Verstreichen der Zeit fühlte sich wie Verrat an ihm an – sie würde noch mehr Tage ohne ihn verbringen und weiterleben, auch wenn er nicht mehr da war. Hazel hatte keine Krankheit vorgetäuscht, doch stattdessen mit ihrer Abhandlung angefangen. Sich in ihrer Arbeit versteckt, denn jedes Mal, wenn sie hinaus in die Welt ging, fragte sie sich, wie es wohl mit Jack an ihrer Seite gewesen wäre.

Prinzessin Charlotte strich sorgsam die Decke auf ihrem Bett glatt und betrachtete ihre Hände. »Was werden Sie tun?«, fragte sie schließlich leise.

Hazel atmete aus. Dann nahm sie auf dem Stuhl neben Charlottes Bett Platz, wo sonst Eliza saß, wenn sie ihr vorlas. Auf dem Tisch lag ein Exemplar von Verstand und Gefühl . »Das habe ich gelesen!«, entfuhr es Hazel.

Charlotte lächelte. »Eines meiner Lieblingsbücher«, sagte sie. »Ich habe es schon ein Dutzend Mal gelesen. Kennen Sie die anderen Bücher der Autorin?«

Hazel schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt, hat mich Prosaliteratur noch nie sehr interessiert. Ich habe hauptsächlich medizinische Texte und die Geschichtsbücher aus der Bibliothek meines Vaters gelesen. Aber meine Mutter hatte das hier bei sich herumliegen. Ich glaube nicht, dass sie es tatsächlich gelesen hat. Eigentlich bin ich mir dessen vollkommen sicher. Ich musste die Seiten aufschneiden.«

»Ich habe mich immer als Marianne gesehen.«

Hazel hatte Schwierigkeiten, die beiden Schwestern in dem Buch auseinanderzuhalten. »Romantisch und ungestüm«, sagte Hazel.

Charlotte lächelte nur. »Aber am Schluss kommt sie zur Vernunft«, erwiderte sie.

»Wie lange hattet Ihr vor, krank zu sein?«, fragte Hazel.

»Ich weiß es nicht«, gab Charlotte zu. »Wie lange leidet man an Liebeskummer? Denn ich täusche nichts vor, Miss Sinnett. Nicht wirklich. Ich empfinde es als eine reale Krankheit. Der Schmerz in meinem Herzen und in meinem Bauch. Die Art, wie sich mein ganzer Körper anfühlt, als würde er mich jeden Moment verraten. Wie ich beim Anblick der kleinsten Sache in Tränen ausbrechen könnte: von Blumen oder von einer Mutter mit ihrem Kind oder von Fremden, die sich umarmen. Das ist so real wie jede der Krankheiten, die die Ärzte meines Vaters bei mir diagnostizierten, nur dass es dafür kein Heilmittel gibt. Es gibt nichts, was ein Arzt tun kann, damit ich mich besser fühle.«

»Nein«, sagte Hazel. »Ich kann Euch nichts geben, das Euren Schmerz lindern wird.« Wenn es so etwas gäbe, dachte Hazel, hätte sie es sich schon vor langer Zeit selbst verordnet.

Charlotte setzte sich im Bett auf und drehte sich zu Hazel, um sie direkt anzusehen. Sie hob eine perfekt gezupfte Augenbraue. »Werden Sie es meinem Vater sagen?«

»Wie wäre es, wenn wir eine Vereinbarung treffen?«, fragte Hazel. Sie griff in ihre Tasche und fischte den Brief heraus, den sie an jenem Morgen von dem Prinzregenten erhalten hatte. »Ich werde ihm nichts von Eurer ›Krankheit‹ erzählen, wenn Ihr ausreichend Energie aufbringen könnt«, sie warf einen Blick auf den Brief, »um auf die Feier zu Ehren von Sir Robert Mends’ Beförderung zu gehen.«

»Und was geschieht danach?«, wollte Prinzessin Charlotte wissen.

»Das weiß ich nicht«, antwortete Hazel aufrichtig. »Aber so würden wir ein wenig Zeit gewinnen, meinen Sie nicht? Vielleicht finde ich bis dahin ja noch ein Heilmittel gegen ein gebrochenes Herz.«

Charlotte lächelte und wischte sich eine Träne weg. »Ich muss zugeben, dass ich erleichtert bin, dass Sie es jetzt wissen. Es hätte nicht mehr lange gedauert und Eliza wäre vor lauter Erschöpfung zusammengebrochen, weil sie jedes Mal, wenn Sie meine Stirn berühren wollten, noch vorher eine frische Wärmflasche holen musste.« Sie sah auf den Boden und entdeckte einen scharlachroten Umschlag auf dem bestickten Teppich. »Was ist das?«

Die Einladung der Todesgefährten war Hazel aus der Tasche gefallen, als sie den Brief des Regenten herausgenommen hatte. Hazel wollte ihn schnell aufheben, doch Charlotte kam ihr zuvor.

»Ooooh«, sagte die Prinzessin. »Ein Rätsel, oder? ›Wo es sechs sind, doch es sieben heißt,/Und ein großer weißer Löwe wacht …‹ Was tun Sie denn bei den Seven Dials?«

»Was?« Jetzt war Hazel überrascht. »Was um Himmels willen sind die Seven Dials?«

»Das ist, na ja, eine Ecke. Dort befand sich früher ein großer Turm mit sechs Sonnenuhren in der Mitte, wo die Straßen aufeinandertreffen. Nicht weit von Covent Garden.«

»Wenn es sechs Sonnenuhren sind«, fragte Hazel verwirrt, »warum heißt es dann Seven Dials?«

»Also, das weiß ich auch nicht«, erwiderte Prinzessin Charlotte und zuckte mit den Schultern. »Ich vermute, dass der Turm selbst als die siebte Sonnenuhr betrachtet wurde. ›Wo es sechs sind, doch es sieben heißt.‹ Der Turm wurde vor ein paar Jahren abgerissen, glaube ich, aber das ist der Grund, warum die Gegend Seven Dials heißt. Aber Sie wissen das natürlich bereits. Schließlich haben Sie die Einladung bekommen.«

»Nein«, sagte Hazel. »Das wusste ich nicht!«

»Ich dachte, um Arzt zu werden, muss man intelligent sein.«

»Mit dem menschlichen Körper kenne ich mich wohl besser aus als mit den Straßen Londons«, erwiderte Hazel.

Charlotte zuckte abermals mit den Schultern. »Wenn Sie meinen.«

»Was ist mit dem Rest? Gibt es dort auch eine Löwenskulptur?«

Charlotte überflog noch einmal das Gedicht. »›Und ein großer weißer Löwe wacht.‹ Eine der Straßen dort heißt Great White Lion Street. Pierce war der Architekt, der den Turm entworfen hat. Berühmter Bildhauer. Ich bin überrascht, dass Sie das alles nicht wissen, das ist doch völlig offensichtlich.«

»Haben Sie noch etwas Geduld mit mir«, sagte Hazel. »Was ist mit dem letzten Teil … ›finde das Hirn‹?«

»Keine Ahnung. Vielleicht eine Art Wegweiser oder ein Symbol. Aber der Rest könnte nicht klarer sein.«

»So viel habe ich verstanden.«

Charlotte grinste und zog an der Klingel, die an der Wand neben ihrem Bett hing. Kurz darauf öffnete eine Zofe die Tür und trat mit einem kleinen Knicks ein.

»Tee für mich und für Dr.  Sinnett, bitte, Susan«, sagte Prinzessin Charlotte. Die Zofe knickste noch einmal und schlüpfte lautlos wieder aus der Tür.

»Eigentlich ist es nur Miss«, sagte Hazel. »Ich bin Chirurgin. Und um ganz ehrlich mit Euch zu sein, habe ich die königliche Arztprüfung nie abgelegt.«

»Aber Sie haben doch Anatomievorlesungen besucht, nicht wahr?«, fragte Charlotte. Hazel nickte. »Wie ich Ihnen schon sagte«, fuhr Charlotte fort. »Ein Dutzend Männer mit Brillen und mehr königlichen Zeugnissen, als sie gebrauchen konnten, haben mich monatelang betatscht und malträtiert und kein einziger hat herausgefunden, was mir fehlt. Einen Teufel auf die königliche Arztprüfung. Sie sind Ärztin, Hazel Sinnett, wie auch immer Sie sich sonst nennen wollen.«