16

A us der Vogelperspektive bestand Seven Dials aus zusammenlaufenden Straßen, die sich in der Mitte trafen und so Dreiecke bildeten. Obgleich es nur wenige Schritte von Covent Gardens glänzenden weißen Gebäuden entfernt lag, spürte Hazel, wie sich die Luft augenblicklich veränderte, als sie in die enge Gasse in Richtung ihres Ziels bog. Es war ein Ort voller Bettler und Diebe, an dem Frauen mit Kopftüchern in ihre Ärmel husteten und das Weinen von Kindern aus dünnwandigen Wohnungen hallte. Anzüglich grinsende Männer waren auf dem leeren Sockel versammelt, wo in Hazels Vorstellung einst der Turm und die Sonnenuhren gestanden hatten. Vorsichtshalber schlug sie den Kragen ihres Mantels hoch, um ihr Gesicht zu verbergen, während sie an ihnen vorbeieilte.

Sie war davon ausgegangen, dass die Todesgefährten ihr das Rätsel geschickt hatten, doch es hätte genauso gut eine Falle sein können. Die Nachricht hätte von gefährlichen Individuen stammen können, die über sie an die Prinzessin heranzukommen versuchten oder die sie dafür bestrafen wollten, dass sie Calton Gaol entkommen war. (Ebenso bestand die Möglichkeit, überlegte Hazel, dass die Todesgefährten trotz ihres gesellschaftlichen Rangs gefährlich waren.) Hazel war eine Frau, die allein durch ein dunkles Viertel zu einem unbekannten Ort unterwegs war. Wäre sie eine Fremde gewesen, hätte sie sich als Närrin bezeichnet.

Doch in der Regel interessierten sich Scharlatane und Polizisten nicht für Dichtung, dachte sie sich. Zudem hatte sie für alle Fälle ein Skalpell in der Tasche, das sie nicht nur für chirurgische Eingriffe, sondern auch genauso gut zur Selbstverteidigung verwenden konnte. Und es trieb sie etwas an, das stärker war als Vernunft: Neugierde. Hazel hätte die ganze Nacht kein Auge zutun können, hätte sie den Brief einfach ignoriert. Etwas Merkwürdiges und Interessantes geschah in der Stadt und sie wollte unbedingt ein Teil davon sein.

Es war bereits stockfinster gewesen, als sie ihre Wohnung um halb elf abends verlassen hatte. Zumindest waren in ihrer Wohngegend die Straßen mit Gaslaternen erleuchtet. Hier kam das einzige Licht vom flackernden Widerschein der Kerzen in den Fenstern und von Pubs mit Laternen über den Türen.

Alles in allem wirkte es nicht wie ein Viertel, in dem man einen vornehmen Club aufsuchen würde. Doch da war sie, die Great White Lion Street. Und nur wenige Meter von der Ecke entfernt befand sich eine auf Hochglanz polierte und wohlerhaltene schwarze Tür mit einem vergoldeten Türknauf, der in dieser heruntergekommenen Gegend vollkommen fehl am Platz wirkte. Über der schwarzen Tür schwang ein solch kleines Holzschild, dass Hazel es übersehen hätte, hätte sie nicht explizit danach gesucht. Es war ein Schild ohne Aufschrift, lediglich mit einem Symbol darauf, demselben Symbol wie auf dem Wachssiegel, mit dem die Einladung versehen gewesen war: ein Gehirn.

Das war der richtige Ort. Er musste es sein.

Sie klopfte zaghaft und versuchte dann, den Knauf zu drehen. Die Tür war verschlossen.

Es musste der richtige Ort sein. Bestürzt versuchte Hazel es abermals. Immer noch verschlossen. Sie nahm die Einladung aus ihrer Tasche und verglich das Wachssiegel mit dem Symbol auf dem Schild: die exakt selbe Darstellung eines Gehirns mit zwei deutlich erkennbaren Hirnlappen und ein paar kräftigen Wirbeln. Das war der Ort. Und doch war die Tür abgesperrt. Hazel sah sich um. Musste sie erst noch ein zweites Rätsel lösen? Sie seufzte und lehnte sich an die Wand. Ein vorbeilaufender Bettler schenkte ihr ein zahnloses Lächeln und Hazel überlegte, ob sie einfach nach Hause gehen sollte. Kirchenglocken läuteten in der Nähe, ein hohles, metallenes Scheppern: elfmal hintereinander. Als der Klang des letzten Glockenschlags in der Nachtluft verhallte, drehte sich Hazel zur Tür und probierte ein letztes Mal, den Knauf zu bewegen. Diesmal ließ er sich mühelos drehen. Die Tür entriegelte sich also erst um Punkt elf Uhr.

Hazel zog sie gespannt auf und setzte bereits dazu an, sich bei der Person, die geöffnet hatte, zu bedanken, doch zu ihrer Überraschung war niemand da. Hinter der Tür befand sich lediglich eine weder von Fackeln noch Kerzen erleuchtete Treppe, die in die Dunkelheit führte. Nachdem sie drei Stufen hinuntergegangen war, war auch das letzte Licht von draußen verblasst – die Treppe führte in komplette Finsternis hinab.

Hazel zögerte kurz. Doch nicht länger als einen Atemzug. Sie hatte sich als Mann verkleidet und Leichen seziert, Gräber ausgehoben und Körper gestohlen und sie war einem unsterblichen Doktor entgegengetreten, der damit gedroht hatte, dem Jungen, den sie liebte, das Herz aus dem Leib zu schneiden. Sie hatte Liebe gekannt, sie verloren und gelernt, wieder allein zu sein. Hazel konnte es mit einer dunklen Treppe aufnehmen.

Dennoch stieg sie die Stufen vorsichtig hinunter, weil sie nicht wusste, wie tief sie fallen würde, sollte sie das Gleichgewicht verlieren.

Ein Windstoß schlug die Tür hinter ihr zu, kaum dass sie über die Schwelle getreten war, woraufhin sie sich ohne Vorwarnung in vollkommener Dunkelheit befand.

Wenn es eine Falle war, dachte Hazel, war es zu spät, wieder kehrtzumachen. Sie hatten sie gefangen. Der einzige Weg hinaus war vorwärts.

Hazel ließ die Finger auf dem Skalpell in ihrer Tasche ruhen.

Mit jedem Schritt wurde es kälter und Hazel konnte das Geschrei und Gelächter von der Straße nicht mehr hören. Die einzigen Geräusche waren ihre Schritte und tropfendes Wasser irgendwo in der Ferne. Hazel streckte unwillkürlich beide Hände vor sich aus, damit zumindest ihre Finger vor ihrem Gesicht wussten, ob die Treppe in einer scharfen Biegung oder in einer Backsteinmauer endete.

Immer wieder horchte sie auf. Schlich sich etwa jemand von hinten an sie heran? Hazel wandte sich beinahe um, zwang sich dann aber weiterzugehen. Wenn sie sich umdrehte, so wurde ihr bewusst, könnte sie in der Dunkelheit die Orientierung verlieren.

»Sie werden sich nicht an mich heranschleichen können«, sagte Hazel laut, ihre Stimme von der Akustik des Treppenhauses seltsam verzerrt.

Niemand antwortete.

Und dann, nachdem Hazel gefühlte hundert Stufen in die Tiefe gestiegen war, erschien im selben Augenblick, in dem sie darüber nachdachte zurückzugehen, ein schmaler Lichtstrahl vor ihr. Und dann ein mit Kerzen hell erleuchteter Raum, in dessen Tür eine schemenhafte Gestalt stand.

»Willkommen«, sagte eine weibliche Stimme. »Wir freuen uns sehr, dass Sie zu uns gefunden haben.«

Hazel hatte das Gefühl, sie würde schlafwandeln. Sie folgte der Stimme und dem Lichtstrahl in eine Gaststube, die auf den ersten Blick an ein Pub erinnerte. Doch nein, es war kein Pub. Wenngleich darin Tische standen mit etwa ein Dutzend Gästen um sie herum, saßen diese nicht auf Barstühlen oder Bänken: Vielmehr lehnten sie sich auf dick gepolsterten Sesseln und mit feinem Samt überzogenen Sofas zurück. Die meisten plauderten oder diskutierten und reagierten kaum auf Hazels Ankunft.

Als Hazels Augen sich an das neue Licht gewöhnt hatten, bemerkte sie, dass die Wände über und über mit Gemälden bedeckt waren. Weitere Gemälde standen schräg an die Wände gelehnt am Boden, mancherorts gleich drei hintereinander. An der Decke funkelte ein Kronleuchter im Licht von hundert Kerzen. Im Kamin prasselte ein fröhliches Feuer hinter einem kunstvoll verzierten Gitter und darüber hing eine antike Silberpistole an der Wand.

Hazel wandte sich ihrer Gastgeberin zu, einer Frau von etwa fünfunddreißig Jahren mit einem scharfen, intelligenten Gesicht. Die Frau hob eine kluge Augenbraue. »Ich bin Marie-Anne Lavoisier«, stellte sie sich mit einer Stimme vor, die wie durch einen Steinbach fließendes Wasser klang.

Nachdem Simon den Namen erwähnt hatte, hatte Hazel in ihren Büchern geblättert, um sich in Erinnerung zu rufen, warum er ihr so bekannt vorkam. »Lavoisier …«, wiederholte Hazel. »Die Chemikerin

Die kleine Blase aus Angst in Hazels Brust löste sich allmählich auf.

Marie-Anne bestätigte es mit einem kurzen, bescheidenen Nicken. »Ebendiese. Und Sie haben gewiss mittlerweile herausgefunden, wer wir sind?«, fragte sie.

»Die Todesgefährten«, sagte Hazel. »Ein cleverer Name. So nannten Kleopatra und Mark Anton ihre Trinkgesellschaft.«

Die Gäste, die hinter Marie-Anne saßen, waren abgelenkt gewesen, doch nun wandten sich einige Hazel mit zufriedenen Mienen zu und ihr schwoll ein wenig die Brust vor Stolz, dass sie eine Frage richtig beantwortet hatte.

»Sie ist Chirurgin und hat Plinius den Jüngeren gelesen«, sagte Marie-Anne. »Wie entzückend.«

»Ich vermute, dass es sich Ihrerseits um Galgenhumor handelt«, fuhr Hazel fort. »Kleopatra und Mark Anton gaben ihrer Gesellschaft erst dann einen neuen Namen, als Octavius’ Invasion nicht mehr zu vermeiden war und der Tod vor ihren Toren stand.«

Marie-Anne lächelte mit geschlossenem Mund. »In der Tat.« Mit einer ausschweifenden Bewegung zeigte sie auf den weitläufigen Raum hinter ihnen und Hazel fiel auf, dass zusätzlich zu den vielen Porträts an den Wänden nahezu jede Oberfläche mit Stapeln von Büchern bedeckt war: auf Tischen, weiten Teilen des Fußbodens, ja, manche balancierten sogar auf einem Teetablett, das als Teller für ein paar Butterkekse diente.

»Ist das also eine Einladung, Mitglied zu werden?«, fragte Hazel Marie-Anne.

»Vielleicht«, erwiderte diese.

Ein schwarzer Mann mit einer großen Pelzmütze trat rasch hinter Marie-Anne und legte ihr gesellig einen Arm um die Schultern. »Stellst du mich jetzt dieser schönen Frau vor oder muss ich mich selbst um alles kümmern?«, tadelte er sie und hielt Hazel direkt eine große, schwielige Hand hin. »Benjamin Banneker. Mathematiker. Astronom. Naturforscher. Privat bin ich auch so etwas wie ein Dichter.« Er sprach mit einem breiten und freundlichen amerikanischen Akzent. Hazel mochte ihn auf Anhieb.

Lächelnd schüttelte sie ihm die Hand, während eine Stimme aus dem hinteren Teil des Raums rief: »Hör auf, dich als Dichter zu bezeichnen, Banneker. Eines Tages wird dir noch jemand glauben.« Der zweite Mann erhob sich großtuerisch und Hazel wusste, wer er war, ohne dass er ihr vorgestellt werden musste. Die dunklen, über seine Stirn gefegten Locken und seine verächtlich gekräuselte Lippe waren berühmt.

»Ach, komm schon, Byron«, rief Banneker zurück. »Nicht jeder schreibt Gedichte, um berühmt zu werden.«

»Nein«, entgegnete Byron. »Manche tun es, um uns andere Dichter besser aussehen zu lassen. Dafür danke ich dir.«

»Entschuldigen Sie meinen Freund «, wandte sich Banneker an Hazel. »Er glaubt, Ruhm würde mangelnde Manieren wettmachen.«

»Ganz im Gegenteil, Banneker«, warf Byron ein und stolzierte nach vorne. Er musterte Hazel, verlor dann aber das Interesse und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Banneker. »Ich glaube, dass Ruhm mangelnde Manieren zu einer charmanten Eigenart werden lässt. Eigentlich ist es ein Geschenk, das ich der vornehmen Gesellschaft mache. Ich komme herein und tue oder sage irgendetwas Unerhörtes und alle anderen können sich den Rest ihres Lebens über Lord Byrons einfach unverfrorenes Verhalten echauffieren . Das ist der wahre Grund, warum ich überhaupt zu diesen Partys eingeladen werde.«

»Du wirst zu diesen Partys eingeladen«, sagte Banneker, »weil du mit den Gastgeberinnen schläfst.«

Byron schnappte sich ein Stück Buttergebäck, das auf einem Buchdeckel lag, und schob es sich genüsslich in den Mund. »Das auch«, erwiderte er mit einem Grinsen. Er nickte Hazel zu und kehrte an seinen Tisch zurück, wo er einen wartenden Becher Wein in einem Zug austrank.

»Dein Ego lenkt dich nur ab«, sagte ein kleiner Mann, der an Byrons Tisch saß. Er sprach mit einem starken französischen Akzent. »Stell dir nur vor, was du alles ausdrücken könntest, wenn du dein Talent nicht darauf verschwenden würdest, Frauen dazu zu bringen, ihr Ehegelübde zu brechen und mit dir ins Bett zu gehen.«

»Und wer sagt, dass das kein lohnenswertes Ziel wäre, François ?« Byron sprach den Namen des Mannes hämisch aus. »Dichtung entspringt der Begierde! Der Emotion! Dem Gefühl! Siehst du, das ist dein Problem. Du hältst schon wieder Moralpredigten. Du hältst immer Moralpredigten.«

Noch nie hatte sich Hazel in solcher Gesellschaft befunden. In gewisser Hinsicht erinnerte es sie an die Salons, die ihr Onkel in Edinburgh in Almont House veranstaltet und zu denen er Autoren und Politiker eingeladen hatte, damit sie für die Gäste Vorträge hielten. Hazel, die damals noch zu jung gewesen war, um daran teilnehmen zu dürfen, hatte sich dann immer unter Stühlen oder hinter Sofas versteckt – um zu lauschen, was vor sich ging, und das Gefühl zu haben, Teil einer Welt zu sein, die mit Ideen, Philosophie und Kunst gefüllt war. Doch der Salon ihres Onkels war stoisch und würdevoll gewesen und die Geladenen hatten auf Stühlen mit harten Lehnen gesessen und aufs Stichwort geklatscht. Das hier war etwas völlig anderes, ein Ort, an dem Menschen laut und leidenschaftlich diskutierten. Das gefiel ihr ungemein.

»Beachten Sie ihn nicht«, sagte Banneker, führte Hazel an einen Tisch und schenkte ihr ein Glas Wein ein. »So mache ich das für gewöhnlich.« An dem Tisch saßen bereits zwei weitere Gäste, die in eine Partie Karten vertieft waren: ein Mann mit einem hohen, gerüschten Kragen, der ihm bis zum Kinn reichte, und …

»Madame Thire!«

Die Schneiderin lächelte Hazel an. »Hallo, Miss Sinnett. Ich habe gehört, dass Sie in Ihrem mitternachtsblauen Kleid traumhaft ausgesehen haben.«

»Ich hatte keine Ahnung, dass Sie … in diesen Kreisen verkehren.«

Madame Thire zuckte mit den Schultern und ließ ihre langen Finger über die ausgefächerten Karten in ihrer Hand fahren. Da fiel Hazel erneut der fehlende Finger an ihrer linken Hand auf. »Der Sinn eines Geheimbunds ist, geheim zu sein.«

Banneker zog einen Stuhl heran, um sich zu ihnen zu setzen. »Und niemand weiß besser über den letzten Klatsch und Tratsch Bescheid als die Frau, die sämtliche Kleider der feinen Gesellschaft schneidert.«

Mit einer ausschweifenden Bewegung legte Madame Thire ihre Karten auf den Tisch. »Ist es meine Schuld, wenn die Leute ihre Geheimnisse einer Person anvertrauen, von der sie glauben, dass sie nicht zuhört?« An ihren Mitspieler gewandt, den Mann mit dem gerüschten Kragen, sagte sie lächelnd: »Ich gewinne. Schon wieder.«

Der Mann verdrehte die Augen.

»Antoine ist verärgert, weil er seit einem Jahr keine einzige Partie gewonnen hat«, erklärte Madame Thire. »Und er hält sich gerne für viel klüger als ich.« Antoine – mit dem Rüschenkragen – runzelte lediglich die Stirn. »Es stimmt!«, interpretierte Madame Thire seinen Flunsch und Hazel begriff, dass er stumm war.

Von irgendwoher im Zimmer mischte sich leises Klavierspiel unter die Gespräche. Die Kerzen flackerten scheinbar im Takt. In der Luft hing ein Geruch , ein ganz spezieller Geruch, der Hazel bekannt vorkam. Es war der Geruch von Erde vor einem Gewitter, noch ehe es anfing zu regnen, die Luft aber bereits aufgeladen war.

Banneker wandte sich Hazel ganz zu. »Dann haben Sie Madame Thire also schon kennengelernt. Und Antoine hier … und ebenso mich, Marie-Anne, Byron – zu Ihrem Unglück … Wen noch? Schauen wir mal … Ah! Lewis!«

Im Laufe der nächsten Stunde machte Hazel die Bekanntschaft von einem weiteren halben Dutzend Todesgefährten, zu denen zwei Parlamentsabgeordnete, ein Finanzminister und eine Frau namens Élisabeth gehörten, eine ehemalige Malerin am Versailler Hof, wie Hazel erfuhr. (»Marie-Antoinettes persönliche Porträtmalerin«, flüsterte Banneker. »Aber fragen Sie sie bloß nicht danach. Das bringt sie nur auf.«)

Die Gefährten, so erklärte man Hazel, arbeiteten gemeinsam an prestigeträchtigen und aufregenden Projekten. Lord Byron hatte dabei geholfen, das Opernlibretto für eines der Mitglieder, eine gefeierte französische Sopranistin, zu schreiben. Ein anderer Todesgefährte war der Hauptarchitekt bei der Neugestaltung des Palastes in Kew gewesen und hatte Marie-Anne als Chemikerin angeworben, damit sie die Tapete in den Gemächern des Königs in einer noch nie da gewesenen Farbe färbte.

»Wie haben Sie und Ihr Mann eigentlich den Entzündungsprozess entdeckt?«, fragte Hazel Marie-Anne, als es ihr gelungen war, sich aus einer weiteren Vorstellungsrunde auszuklinken und mit der berühmten Chemikerin ein persönliches Gespräch zu führen. »In welcher Art von Laboraufbau, meine ich. Um zu vermeiden, dass die Ausrüstung in Flammen aufgeht?«

Marie-Anne lachte. »Nun ja, Brandvermeidung ist etwas, das wir erst in den Griff bekommen haben, nachdem mir Antoine beide Augenbrauen versengt hat. Beide! Sie sind nie wieder richtig nachgewachsen, aber zumindest sind sie nachgewachsen.«

Hazel lachte und Banneker drängelte sich auf den Stuhl neben ihr.

»Erzählen Sie mir mehr von der Abhandlung, an der Sie arbeiten, Miss Sinnett«, sagte Banneker. »Ich möchte mich ja nicht selbst rühmen, aber ich habe mehrere sehr wertgeschätzte Almanache veröffentlicht, und wenn Sie Fragen zu Verlegern haben, kann ich Ihnen gewiss helf…«

Byron drehte sich um. »Ja, Benjamin. Von uns allen hier will sie vor allem Ratschläge zu Verlegern von einem amerikanischen Farmer haben.«

»Grausamkeit steht dir nicht, Byron«, sagte der Franzose an Byrons Tisch. »Davon wirst du ganz fahl. Wenn wir schon nicht an deine Güte appellieren können, dann vielleicht an deine Eitelkeit.« Byron wirbelte herum und wandte sich wieder seinem Tisch zu, während Banneker immer noch mit offenem Mund dasaß und überlegte, was er auf Byrons Beleidung erwidern sollte.

»Wie lange sind Sie schon Mitglied der Todesgefährten?«, fragte Hazel Banneker, in dem Versuch, die Spannung zu zerstreuen.

Banneker beruhigte sich daraufhin sichtlich. »Also, lassen Sie mich überlegen. Mindestens ein paar Jahrzehnte.« Er blickte in die Ferne, als würde er in Erinnerungen schwelgen. »Ich bin zum ersten Mal vor der Revolution nach Frankreich gekommen. Natürlich, um Antoine kennenzulernen. Das muss so etwa 1771 gewesen sein. Ich war gerade dabei, eine Sonnenfinsternis zu berechnen, und die Lavoisiers verfügten in Europa als Einzige über die richtige Ausrüstung. Es war wie ein Wunder, als ich aus Maryland, wo ich mit der Hand alles aus Holz, Zwirn und sonstigen auffindbaren Ersatzteilen bauen musste, dorthin kam und dann ihr Labor sah. Vergoldet! Allein die Menge an Glas! Ich dachte, ich wäre bei der Überfahrt gestorben.

Ich bin nach Maryland zurückgekehrt, um meine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, doch von diesem Augenblick an wusste ich, dass ich nicht in Amerika bleiben würde. Oder in den Kolonien, was sie damals noch waren. Während der Französischen und dann der Amerikanischen Revolution blieb ich auf meiner Farm und – oh Himmel – es muss 1804 gewesen sein, als ich Amerika endgültig verlassen und Marie-Anne in London aufgesucht habe.« Er beugte sich näher an Hazel heran. »Für mich war es einfacher als für die meisten. Ich habe nie geheiratet, hatte nie Kinder. Das verkompliziert alles. Ich war ein Mann der Wissenschaft und wollte einfach meine Arbeit tun, befand mich aber in einem Land, in dem Menschen, die wie ich aussehen, versklavt und umgebracht werden. Ich wusste ohne jeden Zweifel, dass mir meine Zukunft freundlicher gesinnt sein würde als die Gegenwart.«

»Die Zukunft … Sie meinen, in Europa leben«, sagte Hazel.

»Abscheulich«, schaltete sich Madame Thire ein. »Amerika gibt vor, ein Kind der Aufklärung zu sein, und doch lassen sie Menschen weiterhin wie Vieh schuften. Als wären sie Eigentum. Sie wollten Unabhängigkeit vom britischen Weltreich – zu welchem Zweck? Um frei zu sein? Wäre Amerika immer noch eine englische Kolonie gewesen, wäre der Sklavenhandel schon vor einem Jahrzehnt verboten worden, genau wie im Rest des Empires.«

Einer der Whig-Politiker, an dessen Namen sich Hazel nicht erinnern konnte, schlug mit einem Spazierstock auf den Boden. »Sehr richtig! Dem Himmel sei Dank für Mends und das Westafrika-Geschwader, mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Wir werden ihn abermals mit unseren besten Schiffen und besten Männern losschicken.«

Banneker bemerkte Hazels fragenden Blick. »Das ist ein Verband britischer Kriegsschiffe, der vor der Küste Afrikas stationiert ist, um Sklavenschiffe abzufangen«, murmelte er. »Das wird zwar die Sklaverei nicht beenden, die dort noch immer stattfindet, aber zumindest bewirkt es etwas.«

»Abschaffung ist das Ziel«, sagte Marie-Anne. »Aber zuerst müssen wir hier eine Whig-Mehrheit gewinnen. Unsere konservative Regierung wird nie davon abkommen, dass unsere Handelsbeziehungen mit den Sklavenhaltern in Amerika zu wertvoll sind, um sie aufs Spiel zu setzen. Wir brauchen mehr Waffen in unserem diplomatischen Arsenal, um es einmal so auszudrücken. Wenn Prinzessin Charlotte auf dem Thron sitzt, wird das alles viel einfacher werden.«

Zustimmendes Raunen ging durch den Raum.

»Miss Sinnett«, sagte Banneker, »es würde mich außerordentlich interessieren, Ihre Meinung zu einer einfachen Angelegenheit zu hören. Warum, glauben Sie, können Frauen in Philadelphia bereits an der medizinischen Fakultät studieren, während es in Großbritannien noch nicht erlaubt ist?« Erwartungsvoll sah er ihr direkt in die Augen.

Hazel überlegte kurz: »Ein junges Land besitzt weniger Traditionen. Weniger Regeln. Die gesellschaftlichen Regeln in England und Schottland bestehen seit Jahrhunderten. Wir sind in unseren Gewohnheiten festgefahren. Sie schreiben die Regeln neu. Doch nach allem, was ich gelesen habe, würde ich behaupten, dass die Amerikaner von den englischen Traditionen nicht so sehr abweichen, wie sie glauben möchten.«

»Ja! Wunderbar auf den Punkt gebracht!«, sagte einer der Whigs.

»Jeder Amerikaner hält sich für einen großen Abenteurer«, merkte ein anderer Politiker an. »Ohne eine Monarchie haben sie das Gefühl, jeder von ihnen könnte König sein. Oder Königin, in diesem Fall.«

Die Unterhaltung ging weiter und in Hazels Bauch breitete sich ein warmes Gefühl aus. Es war ein seltenes Geschenk, dachte sie, von intelligenten Menschen umgeben zu sein, die sich aufrichtig dafür interessierten, was man zu sagen hatte.

Von Kindheit an hatte Hazel akzeptiert, dass sie dazu bestimmt war, am Rand zu leben. Der gesellschaftliche Status ihrer Familie war respektabel, aber nicht spektakulär. Wenngleich sie Zugang zu wichtigen Leuten, berühmten Leuten, zu den Leuten hatten, die die Entscheidungen trafen, gehörten die Sinnetts doch selbst nicht zu diesen Leuten. Zudem war Hazel eine Frau. Gouvernanten hatten ihr beigebracht, dass Frauen diese Welt nur beeinflussen konnten, indem sie ihren Ehemännern zur Seite standen und sie unterstützten. Zwar waren Frauen bei Dinnerpartys anwesend, doch wenn das Gesprächsthema am Tisch nicht der Preis von Kleiderstoffen oder die Farbenauswahl für Vorhänge war, wurde von ihnen erwartet, still zu sein.

Eine Frau konnte nur darauf hoffen, sich in der exklusiven Welt der Kunst und der Dichtung zu bewegen, wenn sie schön genug war, um von einem Mann als Muse auserwählt zu werden. Gewiss, eine Muse wurde gefeiert und gepriesen, aber sie war ganz und gar der Gnade des Künstlers ausgeliefert, der sie auserkoren und sie hoch oben auf einen so winzigen Sockel gestellt hatte, dass sie nicht mehr als einen Schritt in jede Richtung gehen konnte, ohne herunterzufallen.

Hazel war sich bewusst, dass ihr Familienname und ihre nachlässige Mutter eine Bresche in die gesellschaftliche Ordnung geschlagen hatten, die sie ausgenutzt hatte, um Chirurgin zu werden. Aber diese Bresche war so eng und schmal und zu prekär, als dass Hazel ihre eigene Stellung für gesichert hielt. Geschweige denn sich vorstellen konnte, dass eine andere Frau in der Lage wäre, in ihre Fußstapfen zu treten. Hazels Existenz als Chirurgin war eine Kuriosität, die die Gesellschaft offenbar einstweilen zu tolerieren gewillt war, und sonst nichts.

Doch in diesem Raum … versprachen die Todesgefährten eine völlig neue Zukunft. Eine andere Gesellschaft. Hier tranken die Frauen, ohne sich zu verstecken, fluchten und schlugen Männer beim Kartenspielen. Marie-Anne war die Anführerin , sie war respektiert, nicht weil sie schön oder charmant, sondern weil sie brillant war. Frauen waren keine Gegenstände auf einem Regal, die darauf warteten, als Braut ausgewählt zu werden – sie waren genauso Teil der Gesellschaft wie die Männer an ihrer Seite.

Ein Teller mit Butterkeksen wurde herumgereicht und Hazel nahm sich dankbar einen. Er schmeckte unglaublich butterig und schmolz sogleich auf ihrer Zunge. Sie nahm einen zweiten.

Hazel hatte es sich kaum in ihrem Ledersessel bequem gemacht, als von der anderen Seite des Raums das Knirschen von Holz auf Holz zu hören war und dann, wie ein Stuhl auf den Boden knallte. Byron war aufgestanden und hatte im Streit mit dem Franzosen seinen Stuhl umgeworfen. »So typisch, dass du Gefühle ablehnst, nur weil du sie nicht messen kannst!«, schrie er.

»Die Welt ist messbar, selbst wenn du es offenbar nur ungern zugeben magst«, erwiderte sein Gesprächspartner mit dem französischen Akzent. »Selbst ein Gedicht ist messbar. Versmaß, Reim, Tempo. Schmälerst du deine eigene Kunst, indem du so tust, als wäre sie willkürlich entstanden? Als wäre sie bloßes Gefühl bar jeden Könnens?«

Byron stieß hervor: »Aber Schönheit ist nicht messbar. Das Erhabene ist nicht messbar. Es tut mir leid, dass dir keine gehaltvolle Erklärung dafür einfallen will, was der Seele widerfährt, wenn sie einen Berg erblickt. Oder, ja, eine schöne Frau.«

Der Franzose schüttelte den Kopf. »Du bist ein Narr, Byron. Und du wirst weiter blind durch diese Welt stolpern und nur dein eigenes Ego sehen, bis du das erkennst.«

Ohne Vorwarnung riss Byron die Silberpistole von der Wand über dem Kamin, spannte sie, und noch ehe Hazel aufschreien konnte, feuerte er sie direkt in die Brust des Mannes, der ihm gegenüber am Tisch saß.